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TEC21 2019|19
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Verlag: Verlags-AG

Bauten im Licht

Das Licht der Sonne wird in der Baukunst seit jeher gestalterisch genutzt. Wie genau, ist kulturell bedingt und wurzelt in uralten ästhetischen Traditionen. Bevor wir diese zugunsten neuer Kriterien – wie Energieeffizienz – aufgeben, lohnt sich ein Blick in die Geschichte. Denn der Einsatz von Tageslicht ist Teil unserer baukulturellen Identität.

10. Mai 2019 - Judit Solt
Menschen auf allen Kontinenten, die in dichten Städten wohnen und arbeiten, verbringen heute im Durchschnitt 90 % ihrer Zeit in Innenräumen. Historisch betrachtet ist das ein relativ junges Phänomen: Während den ersten Jahrmillionen seiner Evolution lebte der Mensch draussen. Sein Rückzug in anfangs rudimentäre, dann immer elaboriertere Bauten begann vor rund 50 000 Jahren; doch erst in den letzten Jahrhunderten, im Zuge von technischem Fortschritt und Industrialisierung, verlagerte sich der Arbeits- und Lebensmittelpunkt ins Innere von Gebäuden. In Zukunft dürfte sich diese Tendenz verstärken. Prognosen zeigen, dass 2050 zwei Drittel der Weltbevölkerung in Städten leben werden.

Vom Tageslicht entfremdet

Eine Konsequenz dieser Entwicklung ist, dass die Menschen sich immer weniger direktem Sonnenlicht aussetzen. In traditionellen Architekturen spielte die Sonne immer eine zentrale Rolle. Gebäude und Siedlungen wurden dem Klima entsprechend orientiert, dimensioniert, aufgeteilt, geöffnet oder verschattet; die Notwendigkeit, Innenräume möglichst natürlich zu belichten, setzte der Gebäudetiefe Grenzen. Im Gegensatz dazu erlauben es moderne Bauweisen und eine avancierte Haustechnik, weitgehend unabhängig von Lage, Klima und Orientierung zu bauen. Um die Funktionalität, Wirtschaftlichkeit oder Energieeffizienz von Gebäuden zu verbessern, wird ihr Fussabdruck vergrössert. Damit reduziert sich die Nutzfläche, die direkt über die Fassade belichtet und belüftet wird. Bei vielen energetisch optimierten Fassaden verringern tiefe Laibungen und Dreifachverglasungen den Lichteinfall zusätzlich. Grosse Öffnungen sind bei bestimmten Nutzungen – etwa im Bürobau – ohnehin problematisch: Zu viel Licht wirkt an Computerarbeitsplätzen störend, und die Sonneneinstrahlung kann in gut gedämmten Gebäuden rasch zu einer Überhitzung führen. Daher wird die Fensterfläche verringert, oder es kommen Gläser zum Einsatz, die das eintreffende Sonnenlicht nur sehr selektiv ins Gebäude lassen. Die Innenräume, in denen sich die Menschen aufhalten, sind deshalb auch tagsüber zunehmend künstlich ausgeleuchtet. Wie genau dies zu geschehen habe, war bisher nur punktuell geregelt. Erst im Juni dieses Jahres tritt die neue europäische Norm EN 17037 «Tageslicht in Gebäuden» in Kraft, die europaweit anwendbare Empfehlungen für die Tageslichtversorgung und die Tageslichtqualität innerhalb von Gebäuden gibt (vgl. «Tageslicht planen?»).

Hinzu kommt, dass mangels attraktiver Aussenräume in vielen Städten kaum Anreiz besteht, im Alltag viel Zeit draussen zu verbringen. Die weltweit steigende Urbanisierungsrate und das exponentielle globale Bevölkerungswachstum führen nicht nur zu einer Flächenexpansion bestehender Siedlungen, sondern auch zu deren Verdichtung; Freiflächen werden überbaut, mit Verkehr belastet oder durch Nachbarbauten verschattet.

Diese Entfremdung vom Tageslicht wirft Fragen auf. Die Evolution des Menschen spielte sich in einer von der Sonne beleuchteten und vom natürlichen Tag-Nacht-Zyklus rhythmisierten Umgebung ab. Seine ganze Entwicklungsgeschichte ist davon geprägt. Zum einen körperlich: Licht tangiert praktisch jeden Aspekt seiner Physiologie, es beeinflusst das Zusammenwirken vieler physikalischer, chemischer und biochemischer Vorgänge im ganzen Körper (vgl. «Im Licht der Wissenschaft»). Zum anderen intellektuell und emotional: Die Auseinandersetzung mit den gestalterischen, symbolischen und technischen Aspekten des wechselnden Tageslichts prägt die gesamte Kulturgeschichte – und damit auch das Bauen.

Spirituelle Konnotationen

Der natürliche Tag-Nacht-Zyklus gehört zu den Faktoren, die es uns Menschen ermöglichten, die zu werden, die wir sind. Die scheinbare Bewegung der Sonne am Himmel war der entscheidende Reiz für den Menschen, Zeit und Raum bewusst wahrzunehmen und schliesslich mit rationalen Mitteln zu erfassen. Dazu betrieb er auch beträchtlichen baulichen Aufwand. So diente die zwischen 2500 und 2000 vor Christus errichtete Megalithstruktur von Stonehenge unter anderem dazu, die für die steinzeitliche Zivilisation wichtigen Jahreszeitenwenden vorherzusagen: Die gigantischen Steine sind so ausgerichtet, dass am Mittsommertag, wenn die Sonne im Jahresverlauf am nördlichsten steht, die Sonne direkt über dem Fersenstein aufgeht und ihre Strahlen ins Innere des hufeisenförmigen Bauwerks dringen.

In der abendländischen Kultur, und besonders im Christentum, ist das Licht der Sonne stark mit dem Begriff des einzig Göttlichen verbunden. Die Sonnenverehrung gilt als möglicher Ursprung des Mono­theismus. Der Gott Aton, den der Pharao Echnaton im 14. Jahrhundert vor Christus zum Gott über alle Götter Ägyptens erhob, wurde in der Gestalt einer Sonnenscheibe angebetet. Im 3. nachchristlichen Jahrhundert förderten römische Kaiser, darunter auch Konstantin vor seiner Konversion, den Kult des Sonnengottes Sol Invictus. Das Christentum integrierte viele Elemente dieses Kults: So wurde der 25. Dezember, der Geburtstag des Sonnengotts, zum Weihnachtstermin umgedeutet; der arbeitsfreie Sonntag (dies solis) mutierte vom Tag der Sonne zum Tag des Herrn. Nicht zuletzt übernahm das Christentum die Licht- und Finsternismetaphorik des Sonnenkults, die unsere Kultur – auch unsere Baukultur – bis heute in vielfältiger Weise prägt.

Diese uralte gedankliche Verbindung zwischen Licht und Göttlichkeit ist in vielen europäischen S­prachen erkennbar. Besonders deutlich wird sie in Be­griffen, die Erkenntnis, Verständnis, Wissen und Intelligenz beschreiben – und zwar unabhängig davon, ob diese Begriffe im religiösen Sinn gebraucht werden («Erleuchtung», «göttliches Licht», «himmlisch») oder ob sie im Gegenteil dazu dienen, rationales Denken in einem weltlichen Kontext zu beschreiben («Aufklärung», «Leuchte», «heller Kopf»). Die positive Symbolkraft des Lichts ist offenbar stark genug, um selbst heftigste gesellschaftliche und politische Umwälzungen wie die Französische Revolution, den Siegeszug der Naturwissenschaften und die Industrialisierung zu überstehen.

Natürliches Licht als Kunstprodukt

Auch in Bezug auf die Produktion und die Rezeption von Kunst sind moderne Gesellschaften von ihren religiösen Ursprüngen geprägt. Heutige Kunstformen wie Malerei, Skulptur, Literatur, Musik und Baukunst wurzeln in einer jahrtausendelangen Geschichte, in der das Kunstschaffen fast ausschliesslich religiösen Themen gewidmet war. Viele dieser historisch gewachsenen Motive, Traditionen und Konventionen haben die Zeit überdauert. Bis heute bilden sie den kulturellen Hintergrund, vor dem sich das Kunstschaffen abhebt. Sie sind der wichtigste Referenzpunkt sowohl für die Kunstschaffenden, die Artefakte produzieren, als auch für das ­Publikum, das sie rezipiert.

Zu diesen Artefakten gehören – und zwar unabhängig von ihrer künstlerischen Qualität – auch städtebauliche und architektonische Werke. Dabei hat die Baukunst, im Gegensatz zu anderen Kunstgattungen, eine dominante Präsenz im Alltag: Alle sind ihr zwingend ausgesetzt, im Gegensatz etwa zur Poesie, mit der man sich aus freien Stücken beschäftigt. Und weil wir den grössten Teil unseres Lebens in einer gebauten Umgebung verbringen, ist auch die Menge und die Art des Tageslichts, das wir erhalten, fast vollständig von Bauwerken bestimmt. Insofern ist unser Licht, selbst wenn es natürliches Tageslicht ist, ebenso ein Kunstprodukt wie unsere Städte und Gebäude – und damit auch ein Ausdruck unseres kulturellen Erbes. Daher müssen wir unser Verhältnis zum Tageslicht nicht nur biologisch, sondern auch in einer kulturellen Perspektive betrachten.

Kulturelle Deutungen in Ost und West

In der westlichen Architektur hat das Licht aufgrund seiner symbolischen Verbindung zum Göttlichen eine stark positive Konnotation. Gotische Kathedralen streckten sich zum Himmel, um das göttliche Licht einzufangen und seine magischen Farben durch Buntglasfenster zu offenbaren. Eine säkularisierte Version dieses Strebens nach Höherem schwingt in der Formulierung nach, mit der Le Corbusier 1923 in «Vers une architecture» die Baukunst definierte: «L’architecture est le jeu savant, correct et magnifique des volumes assemblés sous la lumière.» Für die frühe architektonische Moderne waren Licht und Luft mehr als hygienische Notwendigkeiten: Sie galten geradezu als Symbole eines neuen, besseren Zeitalters. Auf dem Buchdeckel von Sigfried Giedions eindringlichem Manifest «Befreites Wohnen» von 1929 zum Beispiel scheinen die Worte «Licht», «Luft» und «Oeffnung» wie gute Geister durch die raumhohe Balkontüre ins Zimmer zu schweben.

Um eine Atmosphäre von Erhabenheit zu erzeugen, bedient sich die zeitgenössiche Architektur der gleichen Lichteffekte wie vor Jahrhunderten. Die geradezu mystische Stimmung beispielsweise, die in Peter Zumthors Therme in Vals herrscht, hat viel mit dem Einsatz von Licht als Gestaltungsmittel zu tun. Das von oben einfallende, in präzisen Strahlen ins Halbdunkel gelenkte Licht verwandelt das Baden in eine fast heilige Zeremonie. Der Zauber dieser Architektur, dem Experten und die breite Öffentlichkeit gleichermassen verfallen, beruht nicht nur auf der hohen ästhetischen Qualität des Gebäudes, sondern auch auf den Assoziationen, die es aufgrund seiner Ähnlichkeit mit einem sakralen Raum weckt. Die vom Architekten verwendeten Codes – Licht vom Himmel und Licht, das durch farbiges Glas scheint – lösen in unserem kulturellen Kontext bestimmte Emotionen aus; und zwar unabhängig davon, ob der Betrachter diesen Mechanismus bewusst identifiziert oder nicht.

Wie sehr solche Reaktionen kulturell bedingt sind, zeigt ein Vergleich. Die traditionelle japanische Architektur zum Beispiel behandelt das Tageslicht mit mehr Zurückhaltung. Die religiöse Welt Japans – Shint¯o und Buddhismus – ist nicht auf eine einzige Gottheit fo­kussiert. Die Sonne ist nur eine der vielen natürlichen Kräfte, die das Schicksal beeinflussen: Die Menschen fürchten und respektieren sie ähnlich wie Erdbeben, Vulkanausbrüche oder das Meer. In der traditionellen japanischen Architektur gelangt das Licht denn auch in gemilderter Form ins Gebäude, subtil gefiltert durch verschiedene Schichten von transparenten und semi­transparenten Oberflächen. Jun’ichiro Tanizakis 1933 veröffentlichter Essay «Lob des Schattens – Entwurf einer japanischen Ästhetik» ist auch als Protest gegen den Einfluss des Westens auf Japan zu verstehen.

Der Bedarf des Menschen nach Licht wird also nicht nur durch biologische Faktoren bestimmt (die im Übrigen je nach Individuum stark variieren können, vgl. «Im Licht der Wissenschaft»). Auch der kulturelle Hintergrund ist entscheidend, wenn es darum geht, Gebäude zu erstellen, in denen sich die Nutzerinnen und Nutzer wohlfühlen. Letztlich ist das auch ein Gebot der Nachhaltigkeit, ebenso wie die Bestrebungen nach Energieeffizienz, haushälterischem Umgang mit dem Boden, Verdichtung und Funktionsoptimierung: Denn die Lebensdauer eines Gebäudes hängt entscheidend davon ab, ob es auf Akzeptanz oder Ableh­nung stösst. Das erweist sich als neue Herausforderung für die Baukunst. In einer von Mobilität und Migration geprägten Welt lässt sich nicht automatisch vom geografischen Standort auf den Hintergrund der Menschen schliessen; in multikulturellen Gesellschaften gilt es, vielfältige und teilweise widersprüchliche Bedürfnisse zu befriedigen. Das macht die Auseinandersetzung mit dem baukulturellen Aspekt des Lichts als Gestaltungsmittel nicht einfacher – aber ganz bestimmt vielschichtiger und spannender.


[Dieser Artikel ist eine teilweise aktualisierte Zu­sammenfassung von Auszügen aus: Judit Solt, Colin Fournier, Mariëlle P. Aarts, Marilyne Andersen, Siegrun Appelt, Magali Bodart, Jérôme Kempf, Bruno Bueno, Tilmann E. Kuhn, Silvia Coccolo, Jean-Louis Scartezzini, Andreas Schüler, Barbara Szybinska Matusiak, Carlo Volf, Jan Wienold, Anna-Wirz-Justice: «Daylight in the built environment», in: Changing perspectives on daylight: Science, technology, and culture. A sponsored Supplement to Science. © 2017 The American Association for the Advancement of Science AAAS, 3. November 2017, S. 24–32.]

[Kostenloser Download der ganzen Publikation unter
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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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