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TEC21 2019|19
5777 Kelvin
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zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Im Licht der Wissenschaft

Das Licht beeinflusst diverse Aspekte der menschlichen Physiologie, vom Sehen über die «innere Uhr» bis hin zur Photochemie der Haut. Doch wie viel Licht braucht der Mensch? Und vor allem: welches? Ist es ­möglich, Tageslicht durch künstliches Licht zu ersetzen? Die Antwort fällt differenziert aus. Was müssen Baufachleute wissen?

10. Mai 2019 - Judit Solt
Die Sonne ist der Ursprung allen Lebens auf der Erde. Auch der Mensch lebte während fast seiner ganzen Evolution im Freien, in einer Umgebung also, in der die Sonne die vorherrschende Lichtquelle ist. Nicht nur unsere Sehfähigkeit – das photopische und skotopische Sehen, d. h. das Tag- bzw. Nachtsehen – ist auf Sonnenlicht ausgelegt; auch unsere Physiologie ist grundlegend davon geprägt. Seit der Industrialisierung hat sich die Lebensweise der meisten Menschen gewandelt. Je nach geografischer Lage, Breitengrad, Jahreszeit, Gesundheitszustand und Lebensweise ist eine genügende Versorgung mit natürlichem Tageslicht nicht mehr gegeben. Besonders stark betroffen sind Schichtarbeiter oder in ihrer Mobilität eingeschränkte Personen, etwa in Pflegeheimen und Spitälern. Dank künstlicher Beleuchtung bleibt die Sehfähigkeit zwar gewährleistet; dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass in anderen Bereichen Mängel mit schädlichen Folgen entstehen.

Daher sind Forschung und Industrie bestrebt, Beleuchtungssysteme zu entwickeln, die Tageslicht simulieren. Bis heute gelingt das nur teilweise, selbst mit den technologisch fortschrittlichsten Lichtquellen. Um zu verstehen, woran das liegt, muss man zum einen die Eigenschaften von natürlichem Licht versus künstlichem Licht kennen (vgl. Kasten «Tageslicht imitieren?», S. 30). Zum anderen gilt es zu untersuchen, wie sich natürliches Licht auf den Menschen auswirkt. Gemäss heutigem Stand der Forschung beeinflusst es das menschliche Wohlbefinden in vier Bereichen: Sehfähigkeit und -komfort, Chronobiologie, psychologische Effekte und Photochemie der Haut.

Sehfähigkeit

Die primäre Verwendung von Licht für den Menschen ist das Sehen, d. h. die räumliche und zeitliche Wahrnehmung von Objekten und das Erfassen von Farbe, Bewegung und Helligkeit. Wenn das von Objekten reflektierte Licht auf die Netzhaut des Auges trifft, können wir Informationen aus der Umgebung auswerten. Licht bewirkt in der Netzhaut die Freisetzung des Neurotransmitters Dopamin, das die Lichtanpassung reguliert. Für qualitativ hochwertige Bilder auf der Netzhaut ist eine hohe Lichtintensität erforderlich. Diese ist auch wichtig für eine normale Entwicklung des Auges im Kindesalter, bei der die axiale Länge und die refraktiven Medien so aufeinander abgestimmt werden, dass ein genau auf die Netzhaut fokussiertes Bild entsteht (Emmetropisierung). Ein Mangel an Tageslicht im Kindesalter kann zu Missbildungen führen (vgl. Kasten «Tageslicht und Medizin», S. 34). Das Spektrum von Tageslicht wiederum deckt den gesamten sichtbaren Bereich ab, mit ähnlicher Stärke in allen Wellenlängen, was der Farbunterscheidung förderlich ist. Aus diesen Gründen ist der Umgang mit Sehbehinderungen bei Tageslicht in der Regel einfacher als bei elektrischer Beleuchtung.

Chronobiologie

Licht beeinflusst die Physiologie, das Verhalten und das Wohlbefinden des Menschen auch über nicht vi­suelle Reize. Es löst Reaktionen im Auge aus, die sich auf die zirkadiane Uhr im Gehirn und auf andere neu­ro­nale Wege auswirken. Der Begriff zirkadianisch kommt von Circa-Diem, d. h. fast ein Tag: Die «innere Uhr» des Menschen, die seinen Schlaf-Wach-Rhythmus steuert, muss immer wieder mit dem natürlichen Tag-Nacht-­Zyklus abgeglichen werden. Das zirkadia­nische System umfasst unter anderem die Ausschüttung  des ­Zirbeldrüsenhormons Melatonin in der Nacht und die Freisetzung des Nebennierenrindenhormons Cortisol am Tag. Zudem trägt Licht dazu bei, die Stimmung durch die Freisetzung der Neurotransmitter ­Dopamin und Serotonin zu modulieren. Bemerkenswert ist, dass die zirkadiane Uhr die Komplexität des Tageslichts in Bezug auf Dynamik, Intensität und spektrale ­Zusammensetzung nutzt: So verwendet sie einen speziellen, nicht visuellen Photorezeptor (Melanopsin), um besser auf das blaue Licht in der Morgen- und Abenddämmerung zu reagieren, und sie verfolgt saisonale Veränderungen durch Netzwerke von Neuronen in bestimmten Gehirnregionen. Ein Mehr an Tageslicht erhöht also die Aufmerksamkeit, das Wohlbefinden, die Stimmung, die Schlafqualität und die kognitive Leistungsfähigkeit des ­Menschen.

Umgekehrt beeinflusst das Licht auch den Schlaf. Eine ausreichende Lichtversorgung tagsüber erhöht die Dauer und Qualität des Schlafs in der folgenden Nacht. Wichtig ist auch, dass die Nacht tatsächlich dunkel ist – was heute vielerorts nicht mehr der Fall ist. Auch Morgen- und Abenddämmerung, die die Übergänge zwischen Tag und Nacht signalisieren, sind wichtige Signale für den zirkadianischen Rhythmus; doch insbesondere die Abenddämmerung wird oft gestört durch Kunstlicht mit hohem Blauanteil sowie durch elektronische Geräte wie Fernseher und Computerbildschirme, die kurzwelliges blaues Licht emittieren. Dies verzögert den folgenden Schlaf nicht nur, sondern beeinträchtigt ihn auch. Daher sollte man helles Licht und Licht mit einem hohen Anteil an kurzen Wellenlängen (kaltweiss) abends und nachts vermeiden, ausser bei bestimmten Arten von Nachtschichtarbeit.

Wie viel Tageslicht der Mensch im Minimum für seine Gesundheit und sein Wohlbefinden braucht, ist nicht abschliessend geklärt. Die notwendige Dosis hängt von mindestens drei Faktoren ab: erstens den Eigenschaften des Lichts (z. B. Radianz, Spektrum, Dynamik und Verteilung) in Abhängigkeit von der geografischen Lage und dem Klima sowie, in Innenräumen, von der Gebäudeausrichtung, der Distanz zu den ­Fenstern und deren Beschaffenheit; zweitens dem ­Zeitpunkt und der Dauer der Lichtexposition; und drittens in­dividuellen Eigenschaften des Menschen wie Alter, ­geistige und körperliche Verfassung oder kultureller Hintergrund. Gesichert ist, dass eine geringe Licht­intensität am Tag die Lichtempfindlichkeit bei Nacht erhöht. Solche Sensibilisierungseffekte haben zur Folge, dass Personen, die tagsüber nur schwachem Licht ausgesetzt sind, anfälliger sind für die negativen ­Auswirkungen von künstlichem Licht bei Nacht.

Psychologische Auswirkungen

In der gebauten Umwelt ist Tageslicht meist gleichbedeutend mit einem Blick ins Freie. Der Betrachter erhält Informationen über Tageszeit und Wetter; sieht er dabei auch natürliche Vegetation, kommt eine messbare positive psychologische Wirkung hinzu. Die Wirkung von Licht auf den psychischen Zustand des Betrachters variiert je nach Breitengrad, Tages- und Jahreszeit. Auf der Nordhalbkugel beispielsweise herrscht im Winter Lichtmangel und im Sommer Überfluss; dies ist eine mögliche Erklärung für ein höheres Aufkommen von saisonal affektiven Störungen (SAD, «Winterdepres­sion») in nördlichen Ländern.

Photochemie in der Haut

Sonnenlicht löst thermische und photochemische Reaktionen in der Haut aus, und zwar sowohl im ultravio­letten als auch im sichtbaren und infraroten Bereich. Hohe Dosierungen sind schädlich. Tiefe dagegen verursachen wenig zelluläre Schäden und haben positive Effekte: Die Exposition gegenüber UVB-Strahlung löst die Produktion von Vitamin D aus, während die UVA-Exposition epidermale Stickoxide (Nitrosothiole, Nitrite und Nitrate) in Lachgas (NO) umwandelt, was eine arterielle Gefässerweiterung bewirkt und damit den Blutdruck senkt. Tageslicht enthält sowohl UVA- als auch UVB-Strahlung, sodass eine regelmässige, kurze Exposition für die Vitamin D- und NO-Produktion ausreicht. Elektrische Lampen dagegen geben wenig oder gar kein UV-Licht ab. Auch die meisten Fenstergläser (ausser eisenarmes Glas) sind nicht UVB-transparent und reduzieren die UVA-Transmission deutlich. Um die Vitamin-D-Synthese zu stimulieren, reicht eine normale Innenbeleuchtung also nicht aus; ob eine Umwandlung von epidermalen Stickoxiden in NO erfolgt, ist fraglich.


[Dieser Artikel ist eine selektive Zusammenfassung von drei Kapiteln der Publikation Changing perspectives on daylight: Science, technology, and culture. A sponsored Supplement to Science. © 2017 The American Association for the Advancement of Science AAAS, 3. November 2017.

Die Inhalte stammen aus den Kapiteln:
Brian Norton, Arthur Braun, Michael Balick, Richard Hobday, Colin Fournier, Jean-Louis Scartezzini, Judit Solt: «Daylight: Contexts and concepts», S. 4–8.
Mirjam Münch, Anna Wirz-Justice, Adam E. Brøndsted, Steven A. Brown, Albert Gjedde, Thomas Kantermann, Klaus Martigny, Danielle Mersch, Debra J. Skene: «The effect of light on humans», S. 16–23.
Mariëlle P. Aarts, Jérôme Kempf, Steven A. Brown, Bruno Bueno, Albert Gjedde, Danielle Mersch, Mirjam Münch, Jean-Louis Scartezzini, Carlo Volf, Jan Wienold, Anna-Wirz-Justice, Magali Bodart: «Reinventing daylight», S. 33–37.]

[Kostenloser Download der ganzen Publikation unter:
daylight.academy/wp-content/uploads/2017/11/Daylight-Booklet_3-Nov-2017_med_single-pages.pdf]

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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