Zeitschrift

db deutsche bauzeitung 2020|04
Wohnen
db deutsche bauzeitung 2020|04

Die Gunst der Fuge

»Wohnregal« in Berlin-Moabit

Das Wohngebäude mit Büroflächen im EG verbindet systemisches Bauen mit hohem Freiheitsgrad bei der Grundrisseinteilung. Mit Betonfertigteilelementen aus dem Gewerbebau ließ sich der Rohbau in sechs Wochen fertigstellen. Die Grundrisse der Mietwohnungen und Wohnateliers mit Flächen zwischen 30 und 110 m² sind in allen Geschossen verschieden. Dem veredelten Rohbau im Innern steht die wertige Außenansicht der Glashülle gegenüber.

6. April 2020 - Jürgen Tietz
Standardisiert, vorfabriziert und höchst modular: Der Traum einer industrialisierten Architekturproduktion begleitet die Moderne seit ihren Anfängen quer durch alle Materialien. Von Eisen, Stahl und Glas bis hin zum Beton geht damit der Wunsch einher, Bauprozesse zu beschleunigen und kostengünstiger zu gestalten – gelegentliche Fertigbau-Alpträume in den 60er und 70er Jahren eingeschlossen. Ein Vorläufer derartigen Prefab-Bauens ist die 1891 eröffnete Arminiusmarkthalle in Moabit von Hermann Blankenstein mit ihren gusseisernen Säulen und ornamentalen Ziegelfeldern. Nur ein paar Schritte entfernt steht das neue Wohnregal von FAR Frohn & Rojas Architekten in der Waldenser-, Ecke Emdener Straße. Dort unternimmt die deutsch-chile­nischen Architektengemeinschaft von Marc Frohn und Mario Rojas, die sogar über einen Büroableger in Los Angeles verfügt, den Versuch, das alte Lied des vorfabrizierten, industrialisierten Bauens mit einer neuen Melodie zu ver­sehen. Umgeben von einem bunten Wechselspiel aus Wohnhäusern der Gründer- und Nachkriegszeit ist der Neubau auf einem Eckgrundstück entstanden, das seit dem Zweiten Weltkrieg brachlag. Ohne Keller und auf Pfeilern gegründet, wächst das Wohn- und Atelierhaus auf dem Trümmerschutt der Vergangenheit sechs Geschosse empor und schließt traufbündig an seinen Nachbarn an. Darin erschöpfen sich die Gemeinsamkeiten mit der Nachbarschaft aber auch schon. Ansonsten interpretiert das Gebäude mit seinen weiten Glasflächen und dem dahinter durchscheinenden Betonraster die Bauaufgabe Wohnhaus durchaus anders. Ziel von FAR war es, einen Wohnungsbau aus Fertigteilen zu verwirklichen, die ansonsten im Industriebau verwendet werden.

Das bedeutete für die Architekten einen Lernprozess. Schließlich ist bei der Produktion von Fertigteilen grundsätzlich vieles möglich. Aber jede Abwandlung, die vom Standardverfahren abweicht, kostet zusätzliches Geld. Daher mussten sich die Architekten zunächst in die Produktion der Fertigteile hineindenken, um mit möglichst sinnfälligen wie kostengünstigen Modifi­kationen die Fertigteile ihrem Entwurf anzupassen – und umgekehrt. Bilden doch die Ansätze kostengünstig und industriell zu bauen eine gedankliche Symbiose, die es in gebaute Architektur zu übertragen galt, ästhetischer Anspruch inklusive. Beispielsweise hätte es etwa 40 000 Euro gekostet, den Achsenabstand der Unterzüge der π-Decken anzupassen, damit sie mit der Grundstückslänge korrespondieren. »Stattdessen haben wir die Breite der π-Decken mit einer simplen Schaltafel gekürzt«, erläutert Marc Frohn beim Rundgang. »Dadurch ergeben sich im Gebäude zwei verschiedene Abstände der Unterzüge: derjenige innerhalb einer π-Decke und derjenige zwischen zwei π-Decken. Diese Varianz prägt das Erscheinungsbild.« Letztlich sind FAR ohne die Kosten für das Grundstück sowie das Honorar der für sich selbst bauenden Architekten bei rund 1 500 Euro pro m² BGF gelandet, die gesamten Baukosten betrugen 2,25 Mio. Euro.

Industrielles Wohnambiente

Das Raster mit den sieben Achsen der Pendelstützen aus Beton ist von innen wie von außen deutlich ablesbar. Davor hängt eine silbrige Aluminiumfassade aus großmaßstäblichen Hebe-Schiebe-Standardelementen (2,20 x 3 m), die für eine maximale Belichtung der Wohneinheiten sorgt. Markant sind auch die augenscheinlich grünen, wenngleich laut Hersteller vorgeblich farblosen, Brüstungselemente aus faserverstärktem Kunststoff mit ihrem hüfthohen quadratischen Rasterrausch. Dazu fügen sich im Innern die rundrilligen Industrieheizköper und schaffen neben der Funktion ein reizvolles Detail. Die Ecken des Hauses sind an Vorder- und Rückseite als offene Loggien ausge­bildet. Dazwischen liegt das nach Norden orientierte, offene Treppenhaus, das eine Art vertikalen Laubengang ausbildet, der durch ein Edelstahlnetz gegen allfällige Abstürze gesichert wird.

Der industriell ruppige Charme des Gebäudes kulminiert in dem architektonischen Leib- und Magenthema des Fügens, das bei den Fertigteilen in epischer Betonbreite zelebriert wird. Auf den Pendelstützen liegen die Stürze sowie die π-Decken auf. Aufgrund der Toleranz der Elemente von bis zu 20 mm schieben sich zwischen diese dunkle Fugen mit standardmäßigen Polstern aus Hartkunststoff. Sie verkehren das Motiv des Lastens optisch in ein irritierendes vermeintliches Schweben.

Durch die stützenfreie Spannweite der π-Decken von rund 13,5 m ergibt sich eine flexible Gestaltung der Geschosse, der lediglich durch die Schächte der Haustechnik gewisse Grenzen gesetzt sind. Der weitere Ausbau der Wohnungen erfolgte im Trockenbau. Die Wohnungsgrößen variieren dabei zwischen 35 und 110 m². In lieblichster Architektenprosa ergibt sich so laut FAR »eine maximale Vielfalt unterschiedlicher Wohn- und Arbeitsateliers, die die wachsende Vielfältigkeit an urbanen Wohnvorstellungen abbildet«.

Neben der Freiheit in der Entwicklung der Wohnungsgrößen und der Grundrisse ermöglicht die Verwendung der Fertigteile einen zügigen Bauprozess. In lediglich sechs Wochen sei der Rohbau errichtet gewesen, erläutert Marc Frohn. Das entspricht also einem Geschoss pro Woche. Entscheidend sei die funktionierende Lieferlogistik der Elemente, da sich die Nutzung eines Mobilkrans schnell als erheblicher Kostenfaktor niederschlägt. Abgerundet wird das minimalistisch industrielle Wohnambiente durch den mineralischen Fußboden sowie die Einbaumöbel mit weißen Fronten. Die Schiebeelemente der Fassade lassen sich bei entsprechender Witterung weit öffnen und verleihen den Wohnungen einen luftigen Loggiencharakter. Beherrscht wird der Raumeindruck jedoch von den gefügten Betonelementen. Daran können sich die Geister scheiden. Entweder mag man diese dominant brutalistische Rauheit – oder eben nicht. Das gilt ebenso für den Rhythmus der Decken, der durch die Rippen der π-Träger bestimmt wird. Dabei entstehen zwischen Einbaumöbeln und Rippen seltsam indifferente Zwischenräume. Die gleiche Herausforderung stellt sich bei den Stürzen, auf denen die π-Decken aufliegen. Daraus ergibt sich zwischen Sturz und Fensterelement ein nur mühsam zu verdunkelnder Fensterstreifen. Das wäre durch eine integrierte Verdunklung/Sichtschutz im Fensterelement freilich leicht zu beheben gewesen.

Insgesamt stellt sich die Frage, inwieweit das Konzept der Verwendung von industriellen Betonfertigteilen jenseits der sympathischen architektonischen Fingerübung der Moabiter Eckbebauung auch im großen Maßstab trägt. Kann sie einen relevanten Beitrag bei der Lösung der Herausforderungen des bezahlbaren Wohnraums darstellen? Das ist mehr als ein Rechenexempel, denn neben der Frage nach den Baukosten, ist es eine Frage der Ästhetik sowie deren Akzeptanz durch die Nutzer und nicht zuletzt nach der Nachhaltigkeit bei der Materialverwendung Beton. Die Berliner Architektengemeinschaft jedenfalls steht hinter dem eigenen Konzept. In der Gewerbeeinheit, die sich einmal quer durch das EG erstreckt, haben sie ihr eigenes Atelier bezogen.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

Tools: