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tec21 2006|36
Hochwasserschutz
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zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Differenzierter Hochwasserschutz an der Engelberger Aa

Seit dem Unwetter von 1987 hat in der Schweiz im Hochwasserschutz ein Paradigmenwechsel stattgefunden. Die Einsicht setzte sich durch, dass mit technischen Massnahmen allein die Naturgefahren nicht in den Griff zu bekommen sind. Ein gutes Beispiel für einen differenzierten Hochwasserschutz ist die Engelberger Aa im Kanton Nidwalden.

4. September 2006 - Josef Eberli
Das Hochwasser vom August 2005 ist das finanziell kostspieligste Schadenereignis der letzten 100 Jahre in der Schweiz. Die Schäden an privaten Bauten und Anlagen betrugen 2Mrd.Fr., diejenigen im öffentlichen Bereich 500Mio.Fr. Betrachtet man die Investitionen in den Hochwasserschutz, so stellt man fest, dass seit den Überschwemmungen von 1987 die eingesetzten Mittel verdoppelt wurden. Die Schäden gingen jedoch nicht zurück. Im Gegenteil, sie haben zugenommen. Gemäss Schadenübersicht, die seit 1972 geführt wird, haben sich die Schäden seit 1987 vervierfacht. Dies verdeutlicht, dass der Hochwasserschutz vor grossen Herausforderungen steht.

Paradigmenwechsel im Hochwasserschutz

Das Jahr 1987 gilt im Schweizer Hochwasserschutz als Wendepunkt. Damals war nicht nur Uri betroffen, sondern auch die Kantone Wallis, Tessin, Graubünden und Bern. Die Katastrophe zeigte die Verwundbarkeit von Bauwerken deutlich auf und führte auch die Grenzen des damaligen Hochwasserschutzes vor Augen. Seither hat sich die Sichtweise im Umgang mit Naturgefahren massgeblich verändert. Die Planat, die ausserparlamentarische Kommission des Bundes für Naturgefahren, hat mit ihrer breit abgestützten Strategie im Naturgefahrenbereich gezeigt, dass mit rein technischen Massnahmen allein die Naturgefahren nicht in den Griff zu bekommen sind. Stattdessen braucht es eine umfassende Risikokultur sowie ein ganzheitliches Risikomanagement. In einem dicht besiedelten Land wie der Schweiz werden Schutzbauten aber auch in Zukunft eine wichtige Rolle spielen. Um eine angemessene Sicherheit zu gewährleisten, wird deshalb auch künftig baulich in die Landschaft und in die Gewässer eingegriffen werden müssen. Bei den erforderlichen Eingriffen sind die vorhandenen Umweltdefizite jedoch so weit als möglich zu beheben und negative Auswirkungen möglichst gering zu halten.

Ein gutes Beispiel für die neue Philosophie des differenzierten, ganzheitlichen Hochwasserschutzes ist die Engelberger Aa. Ausgelöst durch die Überschwemmungen 1987 im benachbarten Uri wurde im Kanton Nidwalden eine Sicherheitsüberprüfung für die Engelberger Aa vorgenommen. Die Überprüfung deckte Handlungsbedarf auf, und entsprechende Massnahmen wurden eingeleitet. Das Hochwasser vom August 2005 bestätigte die Zweckmässigkeit der bisher realisierten Massnahmen. Dank Investitionen von 26Mio.Fr. konnten Schäden von über 100Mio.Fr. verhindert werden. Statistisch gesehen handelte es sich um ein über 200-jährliches Ereignis. Gemäss Analysen übertraf der Spitzenabfluss mit 230 m³/s denjenigen der letzten grossen Überschwemmung von 1910 um 30 m³/s.

Integrales Risikomanagement

Das differenzierte Hochwasserschutzkonzept an der Engelberger Aa beachtet die Tatsache, dass es keine absolute Sicherheit gibt. Neu wird der so genannte Überlastfall – wenn mehr Wasser oder Geschiebe auftreten, als abgeleitet werden können – in die Planung mit einbezogen. Überflutungen werden also nicht um jeden Preis verhindert. Vielmehr soll das Wasser kontrolliert an Orten über das Ufer treten, wo der Schaden möglichst gering ist. Ziel ist es, Dammbrüche und unkontrollierte Überflutungen zu verhindern. Das überschüssige Wasser wird in so genannte Entlastungskorridore geleitet. Grundlage und damit zentrales Element in der Hochwasserprävention ist die Risikoanalyse, die alle möglichen Prozesse einbeziehen und verschiedenste Szenarien abbilden muss. Für die Nutzungskategorien werden unterschiedliche Schutzgrade definiert. So werden beispielsweise landwirtschaftlich genutzte Flächen bis zu einem 20-jährlichen Hochwasser und Siedlungen bis zu einem 100-jährlichen Hochwasser geschützt. Die Erkenntnisse der Risikoanalyse werden in der Raumplanung, dem Hochwasserschutz und der Notfallplanung umgesetzt.

Raumplanung

Ein Resultat der Risikoanalyse sind Gefahrenkarten, die in Form von Gefahrenzonen in die Zonenpläne einfliessen. In Gebieten mit erheblicher Gefährdung besteht in der Regel ein Bauverbot. In Gebieten mit mittlerer Gefährdung werden zur Erreichung der Schutzziele Auflagen erlassen; in diesen Gebieten werden keine Einzonungen mehr vorgenommen. Die Auflagen gelten bei allen Neu-, Ersatz- und wesentlichen Umbauten. Der für den Hochwasserfall vorgesehene Entlastungskorridor ist in den kantonalen Richtplan aufgenommen worden. Im Rahmen der Überarbeitung der Zonenpläne der Gemeinden Buochs und Ennetbürgen wurde der Entlastungskorridor als Sondernutzungszone ausgeschieden.

Hochwasserschutz

Die Planung und Projektierung des Hochwasserschutzprojektes «Engelberger Aa» von Grafenort an der Grenze zu Obwalden bis nach Buochs am Vierwaldstättersee begann 1989 und erfolgt in sechs Etappen. Im Frühjahr 2007 werden die Bauarbeiten der ersten vier Etappen in der stärker besiedelten unteren Talebene von Nidwalden fertig gestellt sein. Bis ins Jahr 2015 soll die gesamte Sanierung abgeschlossen sein. Die Hauptelemente des Projektes sind Hochwasserentlastungen, Gerinneverbreiterungen, Dammverstärkungen, Uferschutzsanierungen, Anpassungen von Brücken, Schutzmassnahmen im Überflutungsgebiet sowie die Verbesserung des Geschiebehaushaltes in Wolfenschiessen. Gebäudebesitzer wurden zudem darauf hingewiesen, mit welchen Objektschutzmassnahmen sie sich gegen die Restgefährdung wappnen können.

Zentrales Element sind die vier Hochwasserentlastungen. Die erste befindet sich in Dallenwil, die zweite bei Ennerberg, die dritte und die vierte beim Flugplatz Buochs. Im Überlastfall wird das Zuviel an Wasser kontrolliert seitlich über den Damm in den Entlastungskorridor geleitet. So wird gewährleistet, dass an jeder Entlastungsstelle maximal so viel Wasser im Gerinne verbleibt, wie der Kapazität des nachfolgenden Abschnittes entspricht. Zwischen Dallenwil und der Entlastung Ennerberg beträgt die maximale Abflussmenge nach der Erhöhung der Dämme 300 m³/s. Nach der vierten Hochwasserentlastung verbleiben noch maximal 150 m³/s im Flussbett, die in Buochs schadlos in den See geleitet werden können.
Im Bereich der Entlastungen verengt sich der Querschnitt. Damit wird einerseits durch die höhere Fliessgeschwindigkeit der Weitertransport des Geschiebes gewährleistet, andererseits können so die Entlastungsbauwerke kurz gehalten werden. Die linke Dammkrone ist jeweils als Streichwehrkante ausgebildet. Da nur ein geringer Teil der Wassermenge seitlich abfliesst, hält sich die Zerstörungskraft des Wassers in Grenzen. Das Hochwasser 2005 hat dies deutlich aufgezeigt. Während die Engelberger Aa im noch nicht verbauten Abschnitt neue Flussläufe mit tiefen Erosionen bildete, blieb die Grasnarbe im Entlastungskorridor weitgehend unversehrt. Sobald der Hochwasserpegel auf die Abflusskapazität des Gerinnes zurückgeht, fliesst bei den Entlastungen die gesamte Wassermenge wieder im Flussbett ab. Im Vergleich zu einem Dammbruch wird so die Zeitdauer der Überflutung massgeblich reduziert. Der Schaden in der Schwemmebene fällt nicht nur wegen der reduzierten Überflutungszeit und -höhe geringer aus, sondern auch weil die Tiefenerosion weniger ausgeprägt ist und Geschiebeablagerungen ausbleiben. Die Hochwasserentlastungen haben sich beim Hochwasser 2005 bewährt. Im Entlastungskorridor entstand ein Schaden von rund 1.6 Mio. Fr. Ohne Entlastungen wären allein in Buochs und Ennetbürgen Schäden durch Dammbrüche von über 50Mio.Fr. entstanden. Im Raum Stans wurden zudem Schäden von über 100 Mio. Fr. verhindert.

Notfallplanung

Auch beim differenzierten Hochwasserschutz ist eine Notfallplanung unabdingbar. Durch den Einbezug des Überlastfalles in die Überlegungen ist klar ersichtlich, wann wo wie viel Wasser überflutet. In der Notfallplanung «Engelberger Aa» sind die kantonalen Notfallorganisationen auf die kommunalen Notfallorganisationen abgestimmt. Elemente der Notfallplanung sind unter anderem eine einheitliche Information und Alarmierung der Bevölkerung, gemeinsame Organisation der Dammwachen, der Verkehrssperrungen sowie der koordinierte Einsatz von Baumaschinen und Fachexperten für kritische Situationen. Die Gemeindeführungsstäbe und die Feuerwehren erhalten so die Möglichkeit, ihre Mittel und Kräfte je nach Situation dort einzusetzen, wo es nötig und sinnvoll ist. Es ist definiert, bei welchem Pegel wo punktuelle Evakuationen und temporäre Massnahmen vorgenommen werden müssen. Durch das schnelle und gezielte Eingreifen der Notorganisationen kann das Restrisiko nochmals gesenkt werden.

Zukünftige Herausforderungen

In Nidwalden ist es gelungen, Entlastungskorridore für den Hochwasserfall zur Verfügung zu stellen. Der Raumbedarf stellt die Nagelprobe für den zukünftigen Hochwasserschutz dar, und die grosse Frage ist, ob auch an anderen Orten solche Entlastungskorridore ausgeschieden werden können. Naturgefahrenprozesse benötigen Raum. Die Sicherheit kann auch verbessert werden, indem zusätzliche Rückhalteräume für das Wasser geschaffen werden.

In Gefahrenbereichen, die sich nur mit grossem Aufwand sichern oder gar nicht sichern lassen, sollten keine weiteren Risiken aufgebaut und bestehende reduziert werden. Sie sind von Nutzungen möglichst frei zu halten. Veränderungen und Anpassungen stossen oft auf Widerstand, denn es fällt schwer, auf gewohnte Nutzungen zu verzichten. Will man jedoch mehr Sicherheit, so ist für extreme Ereignisse grosszügig Raum zur Verfügung zu stellen.
Prognosen gehen davon aus, dass infolge Klimaänderungen nicht alle heute intensiv genutzten Gebiete auch fortan uneingeschränkt nutzbar bleiben. Das Risikomanagement muss daher neben bestehenden Aspekten auch potenzielle Änderungen der Rahmenbedingungen wie etwa Veränderungen der Gefahren oder Nutzungsänderungen mit einbeziehen. Immer wird ein Restrisiko bleiben, welches durch die Überprüfung des Überlastfalls geklärt werden muss. Diese auf Zukunftsszenarien aufbauenden Analysen ergeben wichtige Grundlagen für künftige Nutzungsmöglichkeiten, aber auch für die Notfallplanung sowie die Reduktion der Verletzbarkeit von Einzelobjekten. Das Undenkbare muss gedacht werden, und es gilt, differenzierte Massnahmenkonzepte zu entwickeln.

Grosser Sanierungsbedarf

Der Schutz vor Naturgefahren ist eine Verbundaufgabe von Bund, Kantonen und Gemeinden. Von allen Beteiligten sind grosse finanzielle Anstrengungen nötig, wenn innert nützlicher Frist ein angemessener Schutz erreicht werden soll. Die durch die Hochwasserereignisse 2005 aufgezeigten Schwachstellen lösen in den nächsten vier Jahren Folgeprojekte im Umfang von 400Mio.Fr. aus. Aufgrund der Gefahrenkarten, die zurzeit in der ganzen Schweiz erstellt werden, sind zusätzlicher Handlungsbedarf und entsprechende Sanierungsprojekte zu erwarten. Schon länger bekannt ist, dass die grossen Korrektionswerke saniert werden müssen (3. Rhonekorrektion, Reuss, Aare, Linth, Alpenrhein). Die Finanzierung dieser Vorhaben fordert die ganze Gesellschaft.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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