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tec21 2006|36
Hochwasserschutz
tec21 2006|36
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Hochwasserentlastung für den Thunersee

Seit der historischen Umleitung der Kander weist der Thunersee kein ausreichendes Speichervermögen bei starken Niederschlägen mehr auf, was bisher zu zahlreichen Überschwemmungen in Thun und Umgebung geführt hat. Abhilfe soll jetzt ein neuer Entlastungsstollen unter dem Bahnhofareal schaffen. Unter Nutzung eines bestehenden Schifffahrtskanals wird die Abflusskapazität der Aare so weit erhöht, dass Schäden wie bei den Extremereignissen 1999 und 2005 nicht mehr auftreten können.

Mit dem Kanderdurchstich von 1714 (Bild 1) begann ein neues Zeitalter für den Thunersee und insbesondere für die Stadt Thun und die unterliegenden Gemeinden an der Aare. Diese wurden von den Überschwemmungen durch die Kander befreit, welche das Land versumpfen liessen. Die Auswirkungen des Kanderhochwassers waren in der Aare auch in der Stadt Bern und bis nach Aarau spürbar. Mit dem Bau der Inneren und der Äusseren Aare bzw. ihren beiden Schleusenwerken sind die Abflussverhältnisse in Thun bis 1788 an die neuen Gegebenheiten angepasst worden. Die Schleusen in Thun sind heute noch in Gebrauch und unterliegen dem Denkmalschutz.

Die seit 1869 durch die Landeshydrologie erfolgten Pegelstandmessungen am Thunersee (Bild 2) geben eine Übersicht über die Höchstwasserstände der letzten 137 Jahre. In diesem Zeitraum wurde der Schadenpegel von 558.30mü.M. rund 40-mal erreicht oder überschritten (in den letzten sieben Jahren 5-mal). Die beiden Ereignisse aus den Jahren 1999 und 2005 ragen dabei aus den üblichen Überschreitungen heraus: Die Überschreitung der Schadengrenze durch die beiden letzten Hochwasser (Pegel 559.12mü.M. und 559.25mü.M.) ist mehr als doppelt so hoch wie beim höchsten Hochwasser in den vergangenen 137 Jahren im Jahr 1910 mit einem Pegel von 558.68 mü.M.

Hydraulische Grundlagen

Die Hochwassersituation am Thunersee ist vor allem durch drei Randbedingungen bestimmt:

– Mit der Umleitung der Kander in den See ist das Einzugsgebiet fast verdoppelt worden. Trotz dem Umfunktionieren des Stadtgrabens zur Äusseren Aare und dem Bau des Uttigenkanals blieb die Abflusskapazität beim Seeausfluss in Thun ungenügend.
– Der Thunersee weist von allen Schweizer Seen bezogen auf das Einzugsgebiet die kleinste Oberfläche auf.
– Das Speichervermögen ist im Vergleich zu anderen Seen klein (Bild 3). Die Differenz vom mittleren Sommerseespiegel bis zur Gefahrengrenze beträgt lediglich ca. 50cm.
Diese Gründe führen dazu, dass der See häufig die Gefahrengrenze übersteigt. Die einzigen Möglichkeiten zur Verbesserung dieser Situation sind einerseits ein permanentes Tieferhalten des Seespiegels oder andererseits die Erhöhung der Abflusskapazität der Aare in Thun. Der letztere Ansatz ist erfolgversprechender, denn das alleinige Optimieren des Speichervolumens reicht bei weitem nicht aus, um künftige Hochwasser bei länger dauernden starken Zuflüssen in den Thunersee zu verhindern.

Hochwasserschutz oder Äschen

Nach dem Hochwasser von 1970 wurden die Scherzligschleuse saniert und die Sohle unterhalb der Schleuse geglättet. Es war vorgesehen, die Sohle oberhalb der Scherzligschleuse auszubaggern, um den Abflussquerschnitt der Aare zu vergrössern. Da in diesem Gebiet ein Äschenlaichgebiet von nationaler Bedeutung liegt, verzichtete man damals jedoch auf die Tieferlegung der Aaresohle.
Eine nach dem Hochwasser von 1999 im Grossen Rat des Kantons Bern eingebrachte Motion verlangte die Reaktivierung des Baggerprojekts. Der Kanton Bern veranlasste daraufhin diverse Grundlagenuntersuchungen hinsichtlich Fischerei, Geschiebehaushalt und Abflussverhältnisse und beauftragte 2002 den Oberingenieurkreis I des Tiefbauamtes des Kantons Bern, ein Hochwasserschutzprojekt auszuarbeiten. Aufgrund des schwierigen Umfelds (Betroffene durch das Hochwasser, Umweltaspekte, Schifffahrt) wurde die Projektentwicklung durch eine Projektdelegation begleitet. Darin sind oder waren Vertreter der Stadt Thun, des Kantons Bern, des Bundes, der Umweltverbände, der Schiffsbetriebe und der Gebäudeversicherung vertreten. Eine Reihe möglicher Massnahmen wurde schliesslich im Rahmen einer Nutzwertanalyse auf ihre Tauglichkeit hin bewertet:
– Temporäre Wehrabsenkungen bei drohendem Hochwasser im Flusskraftwerk Thun-Aare.
– Vertiefung von 4 Toren der Scherzligschleuse und Sohlenanpassungen oberhalb und unterhalb, ausserhalb der Äschenlaichplätze im Thunersee.
– Durchflusserweiterung bei der Bahnhofbrücke über eine Länge von rund 70 m.
– Kurzstollen vom Schifffahrtskanal unter der Panoramastrasse und dem Scherzligweg hindurch zur Äusseren Aare mit Einmündung rund 25 m unterhalb der Scherzligschleuse.

Ein wirksamer Hochwasserschutz muss bereits bei tiefem Wasserstand mehr Wasser aus dem Thunersee ableiten können. Anhand dieses und anderer Kriterien vermochte keines der geprüften Konzepte wirklich zu überzeugen. Noch während dieser Projektierungsphase zeigten neue hydraulische Berechnungen, dass der Schifffahrtskanal grosse Wassermengen durchleiten kann. Daraus entwickelte sich allmählich die Idee eines langen Entlastungsstollens, der bereits bei tiefem Wasserstand eine beträchtliche Wassermenge ableiten und erst unterhalb des Kraftwerkes Thun-Aare wieder der Aare zuführen kann. Im Dezember 2005 wurde das Projekt durch den Kanton genehmigt, und der Grosse Rat des Kantons bewilligte den Kredit im Februar 2006.

Bypass für den See

Mit dem Entlastungsstollen kann die Abflusskapazität um etwa 100 m³/s erhöht werden. Aufgrund von verschiedenen Indikatoren im Einzugsgebiet (Niederschlag, Bodenfeuchte, Zunahme der Zuflüsse, Schneeschmelzwasserdisposition) soll der Stollen rechtzeitig vor einem Hochwasserereignis in Betrieb genommen werden. Hydraulische Berechnungen mit einem 2-D-Finite-Elemente-Programm (Bild 4), gekoppelt mit einem Flood-Routing für sehr kurze Distanzen von weniger als 2km, haben unter anderem ergeben, dass der See bei den Extremereignissen im Mai 1999 und im August 2005 mit dem Stollen um ca.40cm weniger hoch gestiegen wäre. Durch diesen tieferen maximalen Seepegel bleibt die Abflussspitze der Aare nach Thun in der gleichen Grössenordnung wie im heutigen Zustand ohne Stollen und wird – dies ist wichtig für die Unterlieger – bei Extremereignissen nicht erhöht.

Mit dem verbesserten Ausfluss aus dem Thunersee und einer neuen Pegelstandabflussbeziehung muss auch das heutige Wehrreglement angepasst werden. Die Anpassung wird mit einem speziellen Betriebsreglement vorgenommen und beschränkt sich im Wesentlichen auf den Hochwasserfall. Der Einsatz des Entlastungsstollens geschieht nachgeschaltet zur Entlastung durch die Scherzlig- und die Mühleschleuse. Das Betriebsreglement, das eine bedürfnisgerechte Thunersee-Entlastung aufgrund von meteorologischen und hydrologischen Frühindikatoren erlaubt, durchläuft zurzeit einen breit abgestützten Vernehmlassungsprozess.

Im Stollen unter dem Bahnhof durch

Der Entlastungsstollen weist eine Länge von rund 1210 m und einen nominalen Innendurchmesser von 5.5 m auf. Er führt vom Ende des Schifffahrtskanals in Verlängerung des Thunersees entlang des Bahntrassees bis zur Aare unterhalb des Kraftwerks Thun (Bild 5). Das Bauwerk unterteilt sich in die drei Abschnitte Einlaufbauwerk, den bergmännisch aufgefahrenen Stollen und das Auslaufbauwerk.
Die Lage des Einlaufbauwerks ist auf die möglichst parallele Anströmung im Schifffahrtskanal ausgelegt, um den Schiffsbetrieb wenig zu beeinträchtigen, und den vorhandenen Gebäuden und Strassen angepasst. Das Bauwerk ist hydraulisch so gestaltet, dass der Lufteintrag minimal ist und die Kapazität nicht durch Einlaufwirbel reduziert wird. Im Endzustand ist das Einlaufbauwerk komplett überdeckt, und die Einlauföffnung mit den Rechenstäben ist nur in Ausnahmefällen bei Niederwasserständen sichtbar. Die heutigen Verkehrsbeziehungen bleiben erhalten.

Ab dem Einlaufbauwerk taucht der Entlastungsstollen mit rund 12% Gefälle ab. Nach rund 60 m wird das mögliche künftige Trassee der Stadtumfahrung Süd unterquert. Die Bedingung, diese Tunnellösung als Option zu erhalten, bestimmt weitestgehend das Längenprofil des Entlastungsstollens. Gleichzeitig erreicht man damit, dass die Scheitelüberdeckung des Entlastungsstollens bereits nach 80 m rund 12–13 m beträgt und damit Konflikte mit bestehenden Bauwerken und Werkleitungen ausgeschlossen werden können.

Die Lage des Auslaufbauwerks berücksichtigt einerseits einen möglichst flachen Einleitwinkel in die Aare, andererseits die sehr engen örtlichen Verhältnisse. Das Bauwerk ist zwischen der Regiebrücke und der Bahnbrücke des RM (Regionalverkehr Mittelland) geplant. Vom Ende des gefrästen Stollens bis zur Aare wird in einem 60 m langen Auslaufbauwerk die Höhendifferenz von 8.5 m zwischen Stollentiefpunkt und Aaresohle überwunden und der Querschnitt aufgeweitet. Das Auslaufbauwerk enthält eine Tafelschütze, einen Pumpenschacht mit Kiesfang und unterwasserseitigem Zugangsschacht sowie eine Zugangsöffnung oberwasserseitig der Schütze. Es ist mit einem Grobrechen versehen und so ausgelegt, dass bei Volllastbetrieb ein strömungstechnisch stabiler Übergang vom Druckabfluss im Stollen zum Freispiegelabfluss in der Aare stattfindet. Der Auslauf kann für Revisions- und Kontrollzwecke mit einem Nadelverschluss abgeschottet werden. Im Endzustand ist das Auslaufbauwerk vollständig überdeckt. Nur die rund 22 m breite und 3 m hohe Austrittsöffnung zur Aare bleibt sichtbar (Bild 6).

Die hydraulische Funktionsweise des Entlastungsstollens entspricht einem Düker (Bild 7). Dieser nützt das Wasserspiegelgefälle von rund 6 m zwischen der Aare unterhalb des Kraftwerks und dem Schifffahrtskanal. Durch die Tafelschütze beim Auslauf kann die Durchflussmenge reguliert werden. Der Stollen ist damit immer unter Überdruck, und Betriebsbeeinträchtigungen durch instationäre hydraulische Effekte (Lufteintrag, Pulsationen etc.) sind nicht zu erwarten. Die zweite Tafelschütze beim Einlaufbauwerk ist im Normalfall geöffnet. Sie dient als oberes Abschlussorgan zum Leeren des Stollens für den Unterhalt sowie als Notorgan, falls sich die Regulierschütze nicht schliessen lässt.

Es kann von einer nominalen Abflusskapazität des Stollens bei Vollöffnung der Schütze von 110–115 m³/s ausgegangen werden (je nach Wasserstand bzw. Wasserführung der Aare). Dabei wird eine Strömungsgeschwindigkeit im Stollen von bis ca. 4.6 m/s erreicht.

Tunnelbau im Grundwasser

Der Untergrund besteht vorwiegend aus siltigen/sandigen Schottern. Sie sind mitteldicht bis dicht gelagert, gut tragfähig und gut durchlässig. Der Stollenscheitel liegt ca. 5–6 m unter dem Grundwasserspiegel (Bild 8).

Das Auffahren des Stollens ist mit einer Hydroschild-Tunnelbohrmaschine (TBM) vorgesehen. Dabei wird die Ortsbrust mit einem Wasser-Bentonit-Gemisch gestützt, und der Grundwasserspiegel muss nicht abgesenkt werden. Der Ausbau erfolgt einschalig mit vorfabrizierten Stahlbetontübbingen von 25cm Stärke. Als Abdichtung dient ein Neoprenband in den Tübbingfugen. Der Stollen wird von der Baugrube des Auslaufbauwerks ausgehend Richtung Thunersee aufgefahren. Bei einer Vortriebsleistung von durchschnittlich 6 m/Arbeitstag ergibt sich eine Gesamtvortriebsdauer von rund acht Monaten. Das Ausbruchmaterial fällt an der Ortsbrust als flüssiges Wasser-Boden-Bentonit-Gemisch an, das zu einer Separieranlage gepumpt wird.

Der Stollen führt zu Beginn der Vortriebsarbeiten unter den Gleisen des RM durch und verläuft anschliessend entlang des Gleisfeldes des Bahnhofs Thun (Bild 10). Zusätzlich werden drei Strassenunterführungen, ein Gebäude der SBB und zum Schluss der stark befahrene Bahnhofplatz unterquert. Während der Vortriebsarbeiten werden die tangierten Bauwerke (Gebäude, Unterführungen, Gleisanlagen, Plätze) mit verschiedenen Messanlagen überwacht, die bei grösseren Setzungen automatisch Alarm auslösen.

In den bis 20 m tiefen Baugruben liegt die Sohle bis zu 14 m unter dem Grundwasserspiegel. Dieser kann beim Einlaufbauwerk (Bild 9) infolge Setzungsgefahr (feinkörnige Böden) und beim Auslaufbauwerk infolge starken Grundwasseranfalls (durchlässige Schotter) nicht abgesenkt werden. Damit sind wasserdichte Baugrubenabschlüsse vorgegeben. Die grosse Länge von ca. 28 m und das Erfordernis geringer Baugrubendeformationen im Nahbereich von Gebäuden und Gleisen bedingen überschnittene Pfahlwände im tiefen Baugrubenbereich. Mit ansteigender Baugrubensohle erfolgt ein Wechsel auf Spundwände. Das Grundwasser im Innern der Baugrube wird mittels Filterbrunnen entspannt. Damit müssen zwar die Bohrpfahlwände weniger tief ausgebildet werden, die Wasserhaltungsmassnahmen müssen jedoch jederzeit reibungslos funktionieren, da sonst das Aufschwimmen der Baugrubensohle die Folge sein könnte (hydraulischer Grundbruch). Eine zusätzliche Segmentierung der Baugrube reduziert dabei die Pumpmengen. Die insbesondere beim Einlaufbauwerk schlecht tragfähigen Böden und der hohe Wasserdruck lassen eine Verankerung nicht zu.

Für die Erstellung des Bauwerks wird mit einer Gesamtbauzeit von zwei Jahren gerechnet. Damit kann der Stollen ab Frühling 2009 (Schneeschmelze) zur Verfügung stehen.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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