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Bauwelt 42.06
Der Katschhofstreit in Aachen
Bauwelt 42.06, Foto: Robert Mehl
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Der Aachener Katschhofstreit

Für den Bauhistoriker Jan Pieper droht mit dem „Bauhaus Europa“ die Demontage des Ensembles zwischen Dom und Rathaus. Er plädiert dafür, das Neubauprojekt nicht nur in seinem einzigartigen Kontext, sondern auch in seiner Funk­tion neu zu diskutieren.

2. November 2006 - Jan Pieper
Der Streit um den Neubau „Bauhaus Europa“ zwischen Münster und Rathaus demonstriert eine derzeit krisenhafte Verfassung der architektonischen Disziplin im Allgemeinen und eine ausgesprochene Ratlosigkeit von Kritik und öffentlicher Meinungsbildung in Sachen Architektur. Deshalb wird dieser Aachener Streit primär als Stellvertreterdiskussion um Kosten, Sozialverträglichkeit, unterstellte Selbstdarstellungssucht und persönliche Denkmalsetzungen der politisch Handelnden geführt, weil man offensichtlich nicht mehr imstande ist, die an dieser Stelle eigentlich notwendige architektonische Diskussion zu meistern.

Eine dreifache Sprachlosigkeit scheint gegenwärtig den architektonischen Diskurs zu lähmen: Er ist von einem zunehmend distanzierten Verhältnis zur historischen Architektur und zur Historie insgesamt geprägt. Er weiß architektonisch mit dem städtebaulichen Kontext nichts mehr anzufangen und ist deshalb ganz auf den Einzelbau fixiert. Und ihm sind im Entwurf wie in der kritischen Beurteilung die genuin architektonischen Kriterien weitgehend abhanden gekommen, so dass Bauen und Kritik allzu oft bei rein gefühlsmäßigen Meinungsäußerungen stehen bleiben.

Der erste Verlust, der das wenig ausgeprägte historische Bewusstsein betrifft, führt zu einer grotesken Fehlbewertung der städtebaulichen Besonderheit der Situation und der aus dem Bestand vorgegebenen Bindungen für das Neubauprojekt. Architektur vergangener Epochen scheint nur noch als überwunden und nicht mehr zeitgemäß wahrgenommen zu werden. Jedenfalls wird sie ganz offensichtlich nicht als das an­gesehen, was sie ist: die unendliche Metamorphose der elementaren und notwendigerweise begrenzten Ordnungen, die der Mensch im Raum errichten kann. Zudem behandelt sie immer wieder neu die Beziehungen zwischen dem Sichtbaren und dem Vorgestellten. Diese Beziehungen sind teils anthropologisch determiniert, teils historisch gewachsen und damit veränderlich, und deshalb ist Architektur über die Epochen hinweg immer wieder gleich und dennoch neu. Aus dieser Perspektive ist die Baugeschichte vor allem als eine Geschichte der historisch möglichen Variationen über die Themen und Topoi der Architektur zu begreifen, die sich in den Verkleidungen der Epochen in immer neuen Wandlungen darstellen, gleichwohl aber als Präfiguration des Gegenwärtigen. Und dies auf einem sehr hohen künstlerischen Niveau, denn das Wenige, das sich aus der Vergangenheit erhalten hat, musste ja dem kritischen Blick und dem Urteil vieler Generationen von Kennern standhalten.

Dies festzuhalten ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit, dennoch wird augenblicklich die Wahrnehmung stärker vom Blick auf die Unterschiede geprägt als von der Gesamtschau des Verbindenden. Primär wird das Detail mit seinen Neuerungen gesehen, nicht aber die grundlegenden zeitübergreifenden Gemeinsamkeiten. Wir haben uns im Einklang mit dem allgemeinen Narzissmus unserer Zeit, die nur noch mit sich selbst befasst zu sein scheint, darein verloren, die von uns gestaltete Welt als die ganz neue, ganz andere, noch nie dagewesene zu sehen. Zur „Begründung“ dieser Sicht hielt mir einmal ein Kollege wortlos sein Handy entgegen, will sagen: Seit wir damit fotografieren können, sind wir gattungsmäßig andere Menschen geworden, und für die brauchen wir eine gattungsmäßig andere Architektur. Aus dieser Perspektive muss die historische Architektur notwendig als fern und fremd erscheinen, können nur noch die Unterschiede in Material, Form und Konstruktion bemerkt werden – die uns primitiv erscheinende Technik, das Lastende, das Schwere, die strikte Regelhaftigkeit –, und so gesehen ist die historische Architektur für uns natürlich ohne lebensbestimmende Bedeutung, buchstäblich von gestern und eben deshalb nicht mehr relevant.

In der Unfähigkeit, in der Architektur, der historischen wie der zeitgenössischen, das von jeher lebendig Fortwirkende zu sehen, manifestiert sich eine bedenkliche Verengung des Blicks, gewiss auch ein allgemeines Bildungsproblem. Wenn man nicht weiß, wie die historische Kette der kulturellen Formation aussieht, kann man auch in den architektonischen Zeugnissen der Vergangenheit nicht mehr ihre formative Kraft für die Gegenwart erkennen.

Im Katschhofstreit führt das mangelnde historische Bewusstsein dazu, dass die Demontage des historischen Ensembles zwischen Münster und Rathaus von den Apologeten des Bauhaus-Europa-Projekts nicht erkannt wird, da weder die historische Bedeutung des Ensembles noch die Zeichenhaftigkeit seiner Architektur allgemein gegenwärtig sind. Deshalb werden diese Gegebenheiten auch nicht als vorrangige Bindungen gesehen, geschweige denn akzeptiert. Ganz verschüttet ist das Verständnis dafür, welche grundlegenden architektonischen Themen jenseits aller Zweckbestimmung Gegenstand dieses Raumgefüges sind. Die Doppelpoligkeit des Sakralen und des Profanen, die Dom und Rathaus von jeher versinnbildlichen, ihre axialen Beziehungen und Orientierungen werden nicht erkannt oder nur noch als belanglose Floskel aufgesagt. Ebenso wenig sind die typologischen Besonderheiten des Katschhofs als kleinteilige parasitäre Umnutzung einer vorgegebenen Großform verstanden worden.

Der Aachener Streit zeigt zweitens, dass das Bewusstsein dafür abhanden gekommen ist, dass Entwerfen immer zuerst die Auseinandersetzung mit dem Kontext bedeutet. Architektur entsteht im Dialog mit dem Ort, die leitenden Baugedanken, nach denen sich jedes bedeutsame Bauwerk ordnet und erklärt, sind vor allem das Ergebnis einer Durchdringung, Anverwandlung und Weiterentwicklung des Vorgefundenen. Die Baugeschichte lehrt, dass es gerade die besonderen, topographisch schwierigen oder erdrückend bedeutungsmächti­gen Orte sind, die zu den wirklich großen Lösungen führen, die wir noch heute bewundern.
Erinnert sei etwa an Michelangelos Kapitol, wo er aus dem Bestand des altehrwürdigen Senatorenpalastes, dem er nur die Fassade neu geordnet hat, und aus der vorhandenen Schrägstellung des Konservatorenpalastes das geniale Konzept des gegen die Perspektive gelegten Trapezes entwickelte und damit die wohl bedeutendste Platzanlage der frühen Neuzeit schuf. Oder Caramuel de Lobkowitz’ Fassade der Kirche von Vigevano, die das Organisationsprinzip des Bramante zugeschriebenen Arkadenplatzes aufgreift, darin der ersten geschlossenen Platzanlage der Frührenaissance die gebührende Reverenz erweist und sie zugleich in barockem Schwung vollendet. Schinkels Ergänzungen des Forum Fridericianum gehören hierher, die den barocken Bestand und die eigenen Planungen in ein System asymmetrischer Achsenbeziehungen einspannen, das in der Schrägstellung des Alten Museums als Pendant des Schlosses am Ende der Linden im spannungsrei­chen Gegenüber von Kunst und Staat aufgehoben ist. Erinnert sei schließlich an Mendelsohns Berliner Woga-Komplex am Kurfürstendamm, der in die vorhandene Dreiecksöffnung des Lehniner Platzes den halbrunden Solitär des Ufa-Kinos mit seinem Lüftungsturm hineinstellt, so dass aus der zufälligen Restfläche die Notwendigkeit des sich teilenden Stadtraumes wird, der den Solitär umspült.

Die kontextuelle Disposition der Architektur ist eine feste Größe im künstlerischen Bauen über die Jahrhunderte hinweg, sie gehört zu den axiomatischen Gewissheiten der Architekturtheorie seit Beginn der Disziplin. Der Entwurf für das Bauhaus Europa jedoch ist von solchen Referenzen an den Kontext völlig unberührt, er könnte überall stehen, am besten als Solitär (Seite 22 und 30). Keine Wegeführung, die er aufgreift, keine Blickbeziehung, keine Höhe ist ihm verbindlich, und die Raumkante des Katschhofs entmaterialisiert er in Transparenz, Spiegelung und Lichtwirkung der Glasfassaden. Dass diese Ortlosigkeit der Architektur ein bedauerlicher Mangel ist, müsste eigentlich allgemeine Zustimmung finden. Aber in Aachen wird exemplarisch deutlich, dass, wo die Ortsbindung nicht mehr als kategorischer Imperativ der Architektur verstanden wird, auch ihre Ortlosigkeit nicht mehr wahrgenommen werden kann.

Der dritte und vielleicht umfassendste Verlust, der sich in der allgemeinen Sprachlosigkeit des Katschhofstreits offenbart, ist die Unfähigkeit, sich in architektonischen Kategorien zu artikulieren. Dies betrifft sowohl den Entwurf wie auch dessen kritische Begleitung. Der Entwurf kann sich nicht entscheiden, ob er Architektur oder Landschaft, Kunst oder Natur sein will, er ist weder Weg noch Ort, eigentlich kein Raum mehr, sondern nur noch bewegte Fläche. An die Stelle der präzisen Geometrie, die aus dem natürlichen Fluss der Dinge architektonische Räume ausgrenzt, ist eine amorphe Bewegung getreten, eine allgemeine Unschärfe, die sich mit den Kate­gorien des Raumes, beispielsweise Oben oder Unten, Innen oder Außen usw., nicht mehr exakt beschreiben lässt. Die Formen und Höhlungen, die diese Architektur erzeugt, sind nicht mehr begründbar, nicht aus der Funktion, nicht aus der Konstruktion, nicht aus einem allgemein zu vermittelnden Sinnzusammenhang und schon gar nicht aus der Eigenbegrifflichkeit der Architektur. An die Stelle einer gemeinsam gespro­chenen Architektursprache ist hier die subjektive Lautmalerei des Einzelnen getreten, die bestenfalls Gefühle, aber keine Gedanken mehr zu vermitteln imstande ist. An die Stelle des Nachvollziehbaren ist die willkürliche Setzung getreten.
Für diese architektonische Mode hat sich in der Kritik das Wort „Blob“ eingebürgert, was englisch so viel wie „Klecks“ oder „Tropfen“ bedeutet. Der Blob will nicht mehr in den tekto­nischen Kategorien des bergenden Raumes beschrieben werden, der den Dingen einen Ort gibt und Platz schafft für ein Geschehen, der Blob will selbst das Ereignis sein. Damit wird Architektur zum Event, sie verwandelt sich von einem kulturellen Objekt, das begrifflich auf Permanenz festgelegt ist, zu einem vorübergehenden Geschehen.

Das Event ist umso erfolgreicher, je mehr passiert. Deshalb muss auch in dieser Architektur ständig etwas passieren, nicht in ihren Räumen, sondern in ihr selbst, in ihrer tragenden und hüllenden Struktur. Sie gibt sich deshalb unstatisch, sie scheint in Bewegung, suggeriert „einstürzende Neubauten“, irritiert mit Verspiegelungen, Transparenz und Lichtführung, sie ersetzt Wirklichkeit durch Schein. Das Event ist eine extrem populistische Spielart der Architektur. Es verlangt keine Reflexion, sondern bedient unverhohlen die plattesten Formen der Wahrnehmung von Raum und Körper in simpler Analogiebildung. In der Eventarchitektur mit ihren Landschaftsformationen werden die Sandkasten- und Strandburgenträume bedient, in den formalen Niedlichkeiten der rundlich verbackenen Flächen – wie bei Hundertwasser oder im Disneyland – das Mainzelmännchenwohlgefühl. Und die Pseudotechnizität aus geknautschtem Glas und „kühnen“ Trägern greift in die Trickkiste jeder billigen Fantasy-Produktion. Kitsch definiert man als ein Zuviel an Intention bei gleichzeitiger Verkümmerung der künstlerischen Form, worauf der Gebildete mit dem Goethe’schen Vorbehalt reagiert: „Man merkt die Absicht und ist verstimmt.“ In diesem Sinne ist das Event architektoni­scher Kitsch.
Der Aachener Katschhofstreit ist schließlich auch darin exemplarisch, dass die Kritiker dieses heillosen Projekts in öffentlicher Diskussion als „nörglerisch“, „grantelnd“, „ewig gestrig“, „konservativ“ diffamiert werden, während die Befürworter sich für „fortschrittlich“ halten. Das Prädikat „konservativ“ würde man ja ohne weiteres und gern annehmen, wenn es denn wörtlich gemeint wäre als „von innen heraus teilneh­mend ins Auge fassend“, als „con-servare“ im Gegensatz zum distanziert teilnahmslosen „ob-servare“ des Außenstehenden. Aber so ist es ja nicht gemeint, sondern als das Gegenteil von „progressiv“, als rückständig, muffig, die Zeit nicht mehr verstehend.

Als historisches Beispiel einer „fortschrittlichen“ Architektur, wie sie auch jetzt wieder gebraucht würde, ist im Katschhofstreit immer wieder die gotische Chorhalle des Münsters angeführt worden, die „mutig und selbstbewusst, bautechnisch und architektonisch modern“ dem Karolingerbau „wie ein Ufo“ hinzugefügt worden sei. Zunächst einmal verkennt diese Argumentation das historische Beispiel, mit dem sie operiert. Die Chorhalle ist in der Tat konstruktiv neuartig und in ihrer weitgehenden Entmaterialisierung ohne Frage ein bautechnisches Wagnis. Aber diese Kühnheit steht im Dienste der Bauidee, das karolingische Oktogon mit einem gotischen Kapellenkranz zu umgeben, der die Stationen des Krönungswegs darstellt. Die größte dieser Kapellen ist die Chorhalle in der Längsachse des Karolingerbaues, deren Aufgabe es war, die Krönungsreliquien aufzunehmen, und deshalb ist sie als gläserner Reliquiarbau ausgebildet. Sie ist Ziel und Höhepunkt des Wegs, der mehrfach das karolingische Oktogon umrundet. Entscheidend ist also, dass die technische Neuerung der gerüstartigen Konstruktion in den Dienst des architektonischen Gesamtkonzepts gestellt ist und sich keineswegs dagegen richtet, wie in Verkennung der historischen Gegebenheiten und der Bautypologie behauptet wird. Sie ist kein Selbstzweck, sondern Teil, Fortschreibung und Zuspitzung des aus der Historie und der kultischen Funktion abgeleiteten Programms.
Die Gotik bedeutet keinen Fortschritt gegenüber der Romanik, sie hat lediglich andere Themen ins Zentrum der Architektur gerückt, wie die diaphane Wand, die Modulation des Lichts, die Transparenz. Diese Themen gab es schon früher, in römischen Thermen etwa oder in den opaken Alabasterverglasungen byzantinischer Kirchen, allerdings hat die Gotik sich in einer bis dahin nicht gekannten Weise dieser architektonischen Möglichkeiten angenommen. Auch in späteren Epochen gehen diese Themen nicht verloren, sie werden lediglich neu und anders behandelt. Diaphane Strukturen beispielsweise kennt auch die Architektur der Renaissance, wie Pasqualinis Schlosskapelle der Jülicher Festung zeigt, oder die Architektur des Barock, etwa in den Kuppelbauten Guarinis oder den Wölbgestellen Balthasar Neumanns. Niemand kann ernsthaft behaupten, dass diese späteren Schöpfungen den früheren künstlerisch überlegen seien. Sie sind nicht fortschrittlicher, sondern anders, indem sie den klassischen Themen immer neue Aspekte abgewinnen. Ganz besonders gilt dies für die Architektur der Moderne, etwa für Le Corbusiers Lichtarchitektur von La Tourette wie für die „fleurs de béton“ oder die „fenêtres ondulatoires“. Aber die Themen als solche sind uralt. Eben darin liegt ja eine große, vielleicht sogar die Faszination der Moderne, dass sie längst Bekanntes neu zu inszenieren verstand.
„Fortschritt“ taugt also nicht als begriffliche Kategorie bei der Beurteilung von Architektur, denn der Gang durch die Geschichte zeigt in den historischen Neuerungen nichts anderes als die unendliche Metamorphose von Themen, die in der Conditio Humana selbst angelegt sind. Darin ähnelt die Architektur der Philosophie, dass sie immer wieder ganz grundsätzlich werden muss, dass sie in immer neuen Ringen die eine zentrale Frage umkreist: Wer sind wir, und wie stehen wir in der natürlichen und künstlichen Welt zum Bekannten und Un­bekannten? Und da es auf diese Frage niemals eine abschließende Antwort geben kann und da sich zugleich die Verhältnisse unserer materiellen und gesellschaftlichen Organisation ständig ändern, verschieben sich auch die Perspektiven und verlagern sich die Gewichte. Damit verändert sich auch die Architektur in ihren Formen und Möglichkeiten, im Kern aber versucht sie immer wieder aufs Neue, sich den gleichen elementaren Fragen anzunähern.

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Für den Beitrag verantwortlich: Bauwelt

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