Bauwerk

Hauptbücherei
Ernst Mayr - Wien (A) - 2002
Hauptbücherei, Foto: Manfred Seidl
Hauptbücherei, Foto: Manfred Seidl

Keine Architekturikone

Diese Bibliothek ist wie ein gutes Buch: Der Einband ist Nebensache. Was zählt, ist der Inhalt

4. April 2003 - Ute Woltron
Der Wiener Gürtel ist kein Ort, an dem man gerne längere Zeit verweilt. Er ist immerhin einer der mächtigsten Verkehrskanäle der Stadt. Auf bis zu acht Spuren brandet hier der Autoverkehr an, wird gebündelt und in die umliegenden Bezirke geschleust. Ein Verkehrsmeer mit gelegentlicher Ebbe und viel häufigerer Flut. In der Mitte die Straßenbahnen. Unterirdisch fährt - im Minutentakt - die U-Bahn.

Kaum je ein Verweilen

Die Menschen hasten, in ihren Autos, in den öffentlichen Verkehrsmitteln, zu Fuß. Es stinkt und lärmt.

Trotzdem gibt es neuerdings einen Fleck, an dem diese Verkehrsflüsse plötzlich an einen Ort der Ruhe gelangen, sich an etwas vorbeiwälzen, das einfach dasteht. Zumindest die Fußgänger halten inne. Am Urban-Loritz-Platz, mitten zwischen den Fahrbahnen, ist eine gebaute Arche vor Anker gegangen.


Bombastische Stiege

Auf den ersten Blick erscheint es völlig absurd, dass die neue Wiener Hauptbibliothek - denn nichts anderes ist dieses hoch aufragende Ding mit seinem Bug in Form einer Treppe - ausgerechnet in der Mitte des Gürtels und damit in einer der unwirtlichsten Gegenden der Stadt steht.

Auf den ersten Blick erscheint auch die Architektur des Hauses nicht sonderlich geglückt: Diese enorme, eigentlich bombastische Stiege erstreckt sich über die gesamten 26 Meter Breite des Hauses. Sie führt bis zum Dach hinauf, scheint's, in das Nirgendwo des Himmels, und bildet das Gesicht des langgestreckten, ansonsten sehr schweren, gravitätischen Konstruktes. Der hintere Teil des 144 Meter langen Ungetüms lastet auf Stützen über dem U-Bahn-Schacht. Irgendwie wirkt das Ganze unproportioniert, ungeschlacht und ein wenig deplatziert.

Funktionierender Ort

Dann allerdings erkennt man, dass das, was diese scheinbar absurde Stufenorgie von einer Treppe leisten will, von ihr auch geleistet wird: In der Frühlingssonne sitzen da StudentInnen mit Skripten und aufgekrempelten Hosenbeinen. Weiter oben ein Touristengrüppchen mit Stadtführer und Coladosen in den Händen. Ein paar Arbeiter rasten dort. Alles sehr gemütlich, obwohl links und rechts der Verkehr tost.

Dieses komische Stiegen-Haus ist jetzt schon zum Treffpunkt geworden, obwohl es erst am Dienstag kommender Woche eröffnet wird.

Der zweite Blick offenbart auch, dass hier mit den diversen Verkehrsflüssen, in deren Mitte das Haus steht, ganz klug umgegangen wurde. Das große Foyer unter der Treppe ist zwar nicht sonderlich einladend, es regelt aber über Aufzugsanlagen und lange Rolltreppen sowohl die Besucherströme der Bibliothek als auch die Passagierwellen der U-Bahn-Station, die sich unter dem Gebäude befindet. Im hinteren Bereich tingelt die Straßenbahn unter dem Haus durch, die Haltestelle befindet sich vor der Treppe - alles in allem also ein Ort, der verkehrstechnisch optimal an das Stadtleben angebunden ist.


Über der Hektik der Stadt

Wirklich reizvoll wird die Angelegenheit aber erst auf den dritten Blick. Und zwar dann, wenn man in das stille Reich eindringt, das hinter dieser Treppe liegt - in die Bibliothek. Hier wird es ruhig, der Verkehrslärm wird zu einer schwachen Ahnung, hier stehen sie in langen Regalen, die Schmöker, die papiergewordenen Überlegungen der Menschheit - die Bücher.

Die Bibliothek schwimmt über der Hektik der Stadt wie eine gelassene Arche Noah des Wissens. Der Trubel darf draußen bleiben, hier drinnen wird gelesen, studiert, werden Zeiten und Räume mit anderen Mitteln durchmessen. Der Architekt, der dieses Haus geplant hat - Ernst Mayr - muss Bücher lieben, und er muss sich darüber hinaus viele Gedanken darüber gemacht haben, wie Bibliothekare arbeiten.


Userfriendly

Die räumliche Organisation der neuen Bibliothek ist perfekt, doch was noch viel mehr zählt: Jeder, der sie noch nicht kennt, also jeder Erstbenutzer, kennt sich rasch aus. Dabei hilft ein ganz properes Leistsystem, vor allem aber die wohltuend klare Architektur.

Die erstreckt sich über drei Etagen, die allerdings fast überall über mehrgeschoßige Lufträume, Galerien und Durchblicke miteinander verbunden sind. Man hat also das Gefühl, immer überall gleichzeitig zu sein. In gemütlichen Erkern darf sich der Leser in samtig gepolsterte Pfühle begeben, um die ausgewählten Bücher zu überprüfen, CDs zu hören oder auf einem der 148 Kunden-PCs zu arbeiten.

Raffinierte Lichthöfe, also eigentlich Glasschächte, die in die Mitte des Baukörpers eingeschnitten sind, sorgen für Helligkeit auch in den tiefer gelegenen Zonen, für eine räumliche Gliederung und damit wieder bessere Orientierung.


Gelungene Lichtregie

Überhaupt spielt das Licht in diesem Haus eine tragende Rolle: Es ist allerorten nicht zu hell, aber auch nicht zu dunkel. Überall darf das Tageslicht im gerade rechten Maße hereinsickern, was einfach klingt, aber eine architektonische Herausforderung an die Planer darstellte.

Auch die haptischen Qualitäten, also die Wahl der Materialien, kann nur als gelungen bezeichnet werden. Der Fußboden ist mit Teppichfliesen in einem angenehmen Blau verlegt, die Möbel sind durchwegs aus hellem, ruhigem Ahorn gearbeitet. Ahorntäfelungen ziehen sich mehrgeschoßig über die Wände. Der Architekt hat geschickt die hölzernen Brüstungen bei Stiegen und Emporen gleichzeitig zu Regalen und Arbeitsplätzen verwandelt. Die metallenen Bücherregale sind ebenfalls an den Stirnseiten mit Ahorn verkleidet - ein kleiner Kniff, der für freundliche Gemütlichkeit sorgt.


Fazit

Diese Bibliothek macht auf Anhieb Spaß, sie ist nicht nur extrem gut erreichbar, sie lädt in ihrem stillen, gelassenen Inneren zum Gustieren und Studieren ein, sie ist eine luxuriöse Enklave der Zeitlosigkeit mitten im Vorwärtshasten. Sie ist, von außen betrachtet, nicht sehr elegant, doch es stellt sich die Frage, ob eine aufregendere, markantere Architektur, ein so genanntes Architekturzeichen, hier nicht auf Kosten des eigentlichen Zweckes dieses Hauses gegangen wäre, womit wir wieder beim Inhalt und nicht der Form landen.


[Diesen Text hat Ute Woltron für die Ö1 Sendung „Diagonal“ verfasst, die Sie am Samstag, dem 5. April, um 17.05 Uhr hören können. Mehr von Ute Woltron und der neuen Hauptbibliothek lesen Sie im aktuellen Presse-Spectrum.]

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