Bauwerk

Hauptbücherei
Ernst Mayr - Wien (A) - 2002
Hauptbücherei, Foto: Manfred Seidl

Leseturm, liegend

Ein selbstbewusstes städtebauliches Statement, ein großzügig dimensioniertes, modernes Medienzentrum: das neue Haupthaus der Wiener Städtischen Büchereien von Ernst Mayr.

1. März 2003 - Judith Eiblmayr
Der Gürtel ist unserem Stadtverständnis nach weder als Trenn linie noch als Kante zu (re-)formulieren, sondern steht vielmehr für Naht, Klammer, für die räumliche und funktionelle Integration, für städtische Vielfalt. Wir glauben, dass diese Bruchstückhaftigkeit, das ,Nicht-Vollendbare', als Wesensmerkmal des Gürtels besteht und als Qualität immer neu zu formulieren ist", schrieben Adolf Krischanitz und Leopold Redl 1985 in ihrem Beitrag einer Arbeitsgruppe zur Formulierung eines neuen städtebaulichen Leitbildes für den Wiener Gürtel. Man hatte erkannt, dass es nicht genügt, den Gürtel als übergeordnetes Verkehrsband dem Individualverkehr preiszugeben, sondern dass dieser auch als wesentlicher Stadtraum wahrnehmbar und belebt werden muss, um eine Aufwertung der angrenzenden problematischen Wohngebiete zu erreichen.

„Städtische Vielfalt“ sollte mehr bedeuten als Peepshow-Etablissements und Auto-lackierereien, durch die Etablierung einer „anderen“ Lokalkultur unter den Stadtbahn- bögen und durch gezielte, mit EU-Geldern finanzierte städtebauliche Maßnahmen konnte der Gürtel in Teilbereichen als urbaner Raum für die nicht motorisierte Bevölkerung zurückgewonnen werden. Offensichtlich war den politisch Verantwortlichen auch bewusst, dass die perfekte Infrastruktur, die der Gürtel per se darstellt, für ein größeres Bauwerk genutzt werden sollte. Krischanitz' Projekt „Wolkenspange“, das Richard Lugner als Zubringer für sein Einkaufszentrum umgesetzt sehen wollte, wurde nicht realisiert, da weitere Funktionen für das Brückenbauwerk zwischen 7. und 15. Bezirk nicht zufriedenstellend zu definieren waren. Das Wichtige an dieser Idee war allerdings, dass der Bereich des Neubaugürtels zwischen Burggasse und Urban-Loritz-Platz als Ort mit hohem urbanem Entwicklungspotential erstmals konkretisiert wurde und als Standort für die neue Hauptbibliothek erwogen wurde.

Ein Bauplatz an einer der stärksten Verkehrsachsen von Wien - zwischen den Fahrbahnen, direkt über der U-Bahn und an der Straßenbahn - ist ideal für ein öffentliches Gebäude, eine Bibliothek an dieser Stelle übernimmt noch dazu die für die Gürtelzone erwünschte Restrukturierungsfunktion, da die hohe Fahrgastfrequenz der öffentlichen Verkehrsmittel eine hohe Besucherfrequenz aus allen sozialen Schichten erwarten lässt. Nachdem das alte Gebäude in der Skodagasse längst zu klein geworden war, sollte das neue Haupthaus der Wiener Büchereien - nebenbei gibt es 52 Zweigstellen über die Stadt verteilt - dem internationalen Standard entsprechend als großzügig dimensioniertes, offenes und modernes Medienzentrum konzipiert sein, das der interessierten Öffentlichkeit nicht nur im Freihandbereich und zur Entlehnung Zeitschriften und Bücher, CDs, DVDs und Videos bietet, sondern auch Internetterminals zur Verfügung stellt.

Den international ausgeschriebenen Wett- bewerb für die neue Hauptbibliothek gewann der Wiener Architekt Ernst Mayr, der bereits Großbauten wie das Biozentrum der Universität Frankfurt (gemeinsam mit Wilhelm Holzbauer) realisieren konnte. Durch den seitens der Flächenwidmung ausdifferenzierten Bebauungsplan waren klare Richtlinien für die Kubatur des über der U-Bahn-Station zu errichtenden Bauwerks vorgegeben, die Mayr in einem prägnanten Entwurfskonzept umsetzte. Er entwickelte einen 150 Meter langen, an den Längsseiten mit einer vorgehängten Klinkerfassade versehenen, geschlossen wirkenden Quader, der teilweise aufgestelzt über der U-BahnStation zu liegen kommt und zum Urban-Loritz-Platz hin schräg abfällt. Diese geneigte Fassade ist als riesige Freitreppe ausgebildet, die praktisch wie metaphorisch auf die Begehbarkeit des Gebäudes für die Öffentlichkeit verweist: Über die Treppenanlage gelangt man - wenn man sich nicht schon vorher auf ihr niederlässt, um das städtische Treiben auf dem Platz zu beobachten - auf das Flachdach des Gebäudes, wo sich ein Café befindet und von wo aus sich neue, wunderbare Perspektiven beim Rundblick über Wien ergeben.

Durch einen mittigen Einschnitt im Stiegenlauf gelangt man in eine Halle unter der (Re-)Präsentationstreppe, von wo aus der Zugang zur Bibliothek über Rolltreppen und Lifts erfolgt, die gleichzeitig als Auffang-gebäude der U-Bahn-Station dient. Eine für Wien einzigartig intelligente Kombination bildungspolitischer Provenienz: Man zweigt praktisch noch trockenen Fußes die potentielle Zielgruppe in eine öffentliche Bildungseinrichtung ab, und das ohne ökonomische Hintergedanken!

Die Haltung, dass an diesem Ort ausnahmsweise nicht der Kunde, sondern der Wissbegierige König ist und die Wissens-aneignung gratis geschehen darf, setzt Ernst Mayr mit seiner Architektur auch im Inneren beispielhaft fort. Die Räumlichkeiten der Bibliothek erstrecken sich über zwei Geschoße und eröffnen sich den Besuchern als weitläufig und - was die äußere Geschlossenheit nicht vermuten lassen würde - lichtdurchflutet: durch ein geschickt angelegtes System aus mittig in Längsrichtung liegenden Lichthöfen, Lichtschächten vom Dach her und der voll verglasten Nordseite des Gebäudes. Die Längsorientierung wird im Inneren durch drei Querachsen gebrochen, die den Großraum strukturieren und in einzelne Fachbereiche mit den jeweiligen Informationstheken übersichtlich organisieren. Die Quertrakte enden in Erkern, die in den Straßenraum des Gürtels hinein-ragen, deren Stirnwände zwar geschlossen sind, die seitlich jedoch den Blick auf die Fahrbahnen freigeben.

Aus diesem Spiel von in sich ruhendem Raum und gerichteten Blicken auf den unten vorbeiströmenden Verkehr - lautlos, weil der Schallschutz absolut gegeben ist - entsteht ein spannendes Moment zwischen Kontemplation und Integration, wo man sich in der individuellen Zurückgezogenheit beim Lesen oder Studieren gleichzeitig als Teil des städtischen Gefüges erleben kann. Besonders stark ist diese Raumstimmung, die einen über das hektische Großstadtleben erhebt und zum Verweilen einlädt, im nördlichen Trakt der Bibliothek: An einem Arbeitsplatz oder in einer Couch sitzend, kann man den Blick über die Dächer der Stadt bis zu den Wiener Hausbergen schweifen lassen. Oder man schaut hinunter, sieht auf die dahingleitenden U-Bahn-Züge und Autoschlangen und fühlt sich wie auf einem sicheren Schiff hoch über dem Verkehrsstrom.

Zurück zur Treppenanlage, mit der dem Architekten ein selbstbewusstes städtebauliches Statement gelungen ist. Er zitiert damit die Casa Malaparte. 1938 bis 1942 vom Schriftsteller und Journalisten Curzio Malaparte an der Felsküste Capris erbaut und für ihre fassadenbildende Treppenanlage berühmt, galt sie als Ort des Austauschs und der Förderung von Literatur und Kunst. Somit setzt Mayr seine Gestaltung des Zweckbaus Bibliothek quasi als liegenden Leseturm in einen adäquaten literarischen Kontext.

Der Gürtel wird „bruchstückhaft“ bleiben, aber Bauten wie die neue Hauptbibliothek sind die besten „Nahtstellen“, um das mittlerweile grüne Bildungsbürgertum des Bezirkes Neubau mit dem Arbeiter- und Zuwandererbezirk Fünfhaus zusammenzubringen.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Spectrum

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Akteure

Architektur

Bauherrschaft

Tragwerksplanung

Fotografie