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22. November 2014 mit Wojciech Czaja
Der Standard

Licht und Schatten über den Gleisen

Die Hauptbahnhöfe in Salzburg und Wien sind nahezu gleichzeitig startklar. Mit unterschiedlichen Fahrplänen. Im Westen stehen die Signale auf leichte Eleganz, die Hauptstadt hingegen schaltet auf Durchzug.

[Wojciech Czaja] Wie würden Sie den Salzburger Bahnhof in einem Satz beschreiben? „Great, your train is late!“, tönt es sofort aus den Mündern von Klaus Kada, Kilian Kada und Gerhard Wittfeld. Gemeinsam mit einem Team von mittlerweile hundert Mitarbeitern betreiben sie in Aachen das Büro Kada Wittfeld Architektur und gewannen 1999 den Wettbewerb zur Sanierung und Neubebauung des Hauptbahnhofs Salzburg. Lange hat es gedauert, denn „große öffentliche Projekte brauchen viel Zeit, und eine Evolution tut solchen Mammutbauwerken gut.“ Nun wurde der Bau nach fünfjähriger Bauzeit vor zwei Wochen offiziell eröffnet.

Der Hauptbahnhof Salzburg ist ein schönes Beispiel dafür, was Architekten so gerne als „Dialog zwischen Alt und Neu“ bezeichnen. Die Bahnhofshalle wurde freigelegt, zum Vorschein kamen alte Jugendstilornamente und längst verfallen geglaubte Fliesenmosaike. Dem gegenüber steht eine moderne, lichtdurchflutete Passage mit Shops und breiten Einschnitten in der Decke, durch die man in den Himmel blicken kann. Oben findet man sich unter der historischen Bahnsteighalle aus Eisen und Glas, an die ein paar schlanke, weiche Bahnsteigdächer mit einer Neuinterpretation von Glas anschließen: Über Bahnsteigen und Gleisen spannt sich eine transparente Luftkissenmembran aus PTFE-Folie.

„Wir haben lange darüber gegrübelt, und mit lange meine ich Jahre, wie wir die historische, denkmalgeschützte Halle in unseren Entwurf am besten einbeziehen können“, sagt Wittfeld. „Letztendlich haben wir uns dafür entschieden, dem Original den Vorzug zu geben.“ Unter den vielen Farbschichten der zuletzt grauen, schlammfarbenen Konstruktion kam die Ursprungsfarbe zum Vorschein: Eierschalenweiß. Dem Ambiente, so Wittfeld, komme der helle Originalfarbton durchaus zugute: „Schaut nicht aus wie ein Bahnhof, sondern wie ein Sakralbau. In gewisser Weise ist das eine Wertschätzung gegenüber den Menschen, die dieses Bauwerk benutzen.“

Rund 80 Millionen Euro haben Sanierung und Umbau gekostet. Das Gesamtinvestitionsvolumen des Projekts beläuft sich - mitsamt Brücken, Gleisbau und Signalanlagen - auf das Dreifache. Neu ist, dass es Kada Wittfeld gelungen ist, die ÖBB davon zu überzeugen, die Bahnhofspassage bis nach Schallmoos durchzubrechen und auf diese Weise einen Nebeneingang zu schaffen, wo sich auch eine Radgarage für 550 Fahrräder befindet. „Ich hasse Bahnhöfe, die den Passagieren nur das Geld aus der Tasche ziehen“, sagt Klaus Kada. „Ein Bahnhof ist kein Einkaufszentrum, sondern ein Ort der Bewegung, eine öffentliche Fußgängerzone.“ Shops gibt es, keine Frage, doch die Bühne dient hier dem Fortfahren und Ankommen.

[Maik Novotny] Architektonisch ist ein Bahnhof ja eigentlich nichts Kompliziertes. Traditionell besteht er meist aus zwei Teilen - einem Eingangsgebäude und einem Dach. Das eine verankert die weite Welt in der Stadt, das andere schützt vor Regen.

Beide Teile, das haben Architekten und Ingenieure in den letzten 180 Jahren gezeigt, lassen sich zu Spektakulärem veredeln. Manchen Bahnhöfen gelingt es, das Ankommen (wie der Westbahnhof mit seinem großen Fenster auf die Stadt) und Abfahren (wie der alte Südbahnhof mit seinen Süd-Ost-Verschlingungen) zu inszenieren, wenigen sogar, den Durchfahrenden zum Aussteigen zu bewegen.

Die Aufgabe, einen neuen Hauptbahnhof für eine alte Hauptstadt zu bauen, sollte also reichlich Chancen für Spektakuläres bieten. Sollte man meinen. Von Albert Wimmer, Ernst Hoffmann und Theo Hotz entworfen und von Stadt und ÖBB eher als rein infrastruktureller Durchlaufposten von städtebaulichem Masterplan und Immobilienverwertung behandelt denn als architektonisches Einzelstück, wurde der Wiener Hauptbahnhof von Anfang an als „Bahndamm mit Dach“ beworben, und an dieser Reduktion krankt er jetzt nach der schrittweisen Eröffnung.

Dabei ist die Grundidee des Daches keine schlechte: Die ineinander verschränkten Rauten oszillieren bildhaft zwischen Durchfahren und Abbremsen. Doch was von oben besehen dynamisch wirkt, verschmilzt von unten zu einer einzigen, dezent angerissenen Platte, die schwer über den Bahnsteigen lastet, sodass man sich besonders im nächtlichen Neonlicht wie in einer stahlverarbeitenden Fabrik wähnt.

Die Kunst der Fuge

Das Eingangsgebäude wiederum ist kein solches, sondern eine ausgefüllte Restfläche zwischen dem Bogen der Trasse und dem geplanten 88 Meter hohen Bürokomplex auf dem Baufeld A01 (Signa Holding) am Gürtel, der kleinstmögliche ÖBB-Restposten der Grundstücksverwertung. Zwar könnte man auch die „Kunst der Fuge“ architektonisch zu etwas Besonderem machen, doch dazu sind die Anschlüsse der Glasfassaden an die Glasbrüstung des Bahndamms zu unentschlossen verbastelt. Immerhin sorgt die von zwei Seiten (und viermal am Tag beidseits korrekt) lesbare Bahnhofsuhr für Aufheiterung.

Der Kern des Bahnhofs steckt ohnehin weder im Dach noch im Eingang, sondern im Damm: Dieser verknüpft die lang getrennten Bezirke vier und zehn, indem er möglichst viele Passanten durch die Einkaufspassage saugt und die kommerzfreien Durchgänge daneben als finstere Angsträume belässt. Wir lernen: Heute besteht ein Bahnhof nicht aus Dach und Eingang, sondern aus Haltestelle und Shoppingcenter.

11. Oktober 2014 Der Standard

Eine Wolke über Wattens

Swarovski erweitert seine Tiroler Kristallwelten im großen Stil - etwa mit einem Turm der norwegischen Architekten Snøhetta und einer riesigen Wolke aus 600.000 Kristallen vom Künstlerduo Cao Perrot. Die Eröffnung soll im Frühjahr 2015 stattfinden.

Sie sind, noch vor den Kaiserappartements der Hofburg, eine der bestbesuchten Touristendestinationen in Österreich: die Swarovski Kristallwelten am Tiroler Firmenstammsitz in Wattens. Rund zwölf Millionen Besucher wandelten seit der Eröffnung 1995 durch die von André Heller gestalteten „Wunderkammern“ für die kristallinen Exponate.

Vom dahinter stehenden Konzern waren zuletzt weniger glitzernde Neuigkeiten zu erfahren: Rund 200 Jobs sollen noch dieses Jahr in Wattens abgebaut werden. Der Luxus spürt die Krise. 2007 beschäftigte man rund 6700 Mitarbeiter, Ende dieses Jahres werden es am Stammsitz nur noch 4800 sein. Aber wo das Kerngeschäft lahmt, muss in die Marke an sich investiert werden. Um die dunklen Wolken zu vertreiben, schöne Wolken aus Kristall: Nach langer Planung verkündete Swarovski 2013 die Erweiterung der Kristallwelten in großem Stil.

Stars und Wunderkinder

Auf 7,5 Hektar Parklandschaft mit Attraktionen soll die Marke per Sinneserlebnis in den Köpfen verankert werden. Rund 34 Millionen Euro werden dafür investiert. Dies sei auch als deutliches Zeichen für den Standort Wattens zu verstehen, erklärte Stefan Isser, Geschäftsführer der Swarovski Tourism Services GmbH, bei einer Pressekonferenz diese Woche. „Ziel ist es, die Besucherzahl von 700.000 pro Jahr auf 800.00 bis 850.000 pro Jahr zu erhöhen“, sagt er. Die internationalen Kristallfans sollen dabei bis zu vier Stunden auf dem Areal verbringen - Shop inklusive. André Heller ist dieses Mal nicht mit im Boot; stattdessen sah man sich international um. „Wir haben viele internationale Architekten eingeladen und mit ihnen geredet“, so Isser. Der Auftrag zum baukünstlerischen Brand-Building wurde dann dreigeteilt: Zum Zuge kommen Stars, Lokalmatadore und Wunderkinder.

Zuerst die Stars: Das norwegische Architekturbüro Snøhetta, bekannt geworden durch das Opernhaus Oslo, das 9/11-Memorial in New York und das avantgardistische Design der neuen Kronen-Banknoten, wird einen - selbstverständlich kristallinen - 20 Meter hohen Spielturm errichten, in dem die Besucherkinder herumtollen dürfen (was zweifellos die Verweildauer ihrer Familien, wie geplant, verlängern dürfte). „Es ist sicher nicht unser größter Auftrag, aber einer der schönsten“, freute sich Snøhetta-Chef Kjetil T. Thorsen: „Die Erwartungen von Swarovski an Handwerk und Detaillierung sind immens. Das ist eine spannende Herausforderung für uns.“

Die Lokalmatadoren: Das Tiroler Büro s_o_s (Hanno Schlögl, Johann Obermoser, Daniel Süß), das bereits die Swarovski-Shops in Innsbruck und Wien gestaltete, wird eine Veranstaltungshalle, den vergrößerten Shop und einen neuen Haupteingang errichten. Dieser wird als auskragende Betonplatte auf einem „white forest“ aus Birkenstämmen ruhen, erklärt Architekt Obermoser. „Kristalle werden im Eingangsbereich aber nicht thematisiert, man soll hier erst zur Ruhe kommen, den Lärm der Außenwelt ausblenden.“

Ein wolkiges Drahtgeflecht

Und schließlich die Wunderkinder: Der wohl spektakulärste Neubau wird ein 1400 Quadratmeter großes Kunstwerk aus wolkigem Drahtgeflecht sein, in dem 600.000 von Hand eingehängte Kristalle über einer spiegelnden Wasserfläche funkeln. Die Idee der Wolke kam vom französisch-amerikanischen Künstlerduo Cao Perrot. „Das Wahrzeichen der Kristallwelten, der Riese von André Heller, ist sehr solide. Wir wollen mit der Wolke eine Leichtigkeit in die Landschaft bringen“, sagt Xavier Perrot. Diese Wolke bewege sich im Wind und wechsle ihre Erscheinung mit den Wetter- und Lichtverhältnissen. Nahezu die Hälfte der Wattens-Wolke ist bereits fertig. Eröffnet werden die neuen Kristallwelten Ende April 2015.

16. August 2014 Der Standard

Das Licht unter Tage

Kultur statt Kohle: Mit ihrem Neubau des Schlesischen Museums im polnischen Katowice schufen die Grazer Architekten Riegler Riewe ein kulturelles Bergwerk im Untergrund.

Schweigend deutet die bejahrte Museumswärterin auf einen der 24 Sitze, die um die riesige hölzerne Trommel angeordnet sind. Fügsam setzt man sich, dann drückt sie mit dem Fuß auf den Schalter am Boden. Es beginnt zu sirren und zu rattern. Schaut man durch die doppelten Gucklöcher, schieben sich plastische, schwarzweiße Bilder von rechts nach links durch, manchmal holpern und verrutschen sie leicht. Was hier so rührend mechanisch rattert, ist ein über 100 Jahre altes Stereoskop im Schlesischen Museum im polnischen Katowice. Die Fotos zeigen rußverschmierte Bergmänner, katholische Nonnen, Gründerzeit-Bauten der boomenden Industriestadt um die Jahrhundertwende, die um 1850 noch ein Dorf war, aber auch Bauten aus der jungen polnischen Republik der 1920er-Jahre wie den expressionistischen Wolkenkratzer Drapacz Chmur.

Auch heute findet man noch reichlich rußgeschwärzte Fassaden in Schlesien, aber sie verschwinden zusehends. Zwar prägt der Bergbau in der 300.000-Einwohner-Stadt noch die Identität, aber riesige Brownfields zerfallender Schwerindustrie künden auch hier vom Ende einer Ära. Ähnlich wie in Bilbao, Manchester oder dem Ruhrgebiet ist der Wechsel zu Dienstleistung, Kultur und Bildung längst im Gange.

Auch das Schlesische Museum ist nicht mehr zeitgemäß. Ein Provisorium ist es schon immer gewesen, seit 1984 untergebracht im ehemaligen Grand Hotel Wiener, einem charmanten, aber verwinkelt verstaubten Bau aus der Jahrhundertwende. Dabei hatte es schon einmal ein neues Schlesisches Museum gegeben, fertig wurde es leider nie. Der Bau aus den 1930er-Jahren, ein Monument des wiederentdeckten Polentums im 1922 von Deutschland abgetretenen Oberschlesien, wurde noch vor der Fertigstellung, wenige Tage nach dem Überfall der Nationalsozialisten zu Beginn des Zweiten Weltkriegs 1939, von diesen zerstört.

2005 begann der Neustart: Man erwarb man das Grundstück der ehemaligen Zeche „Katowice“, direkt im Norden des Stadtzentrums gelegen. Hier soll eine neue Kulturmeile entstehen, beginnend beim riesigen gekippten Ufo der Veranstaltungshalle Spodek von 1971. Ein Kongresszentrum und eine Konzerthalle für das lokale Sinfonieorchester sind zurzeit in Bau. Den Wettbewerb für das östlich anschließende Schlesische Museum gewann 2007 das Grazer Büro Riegler Riewe, bekannt etwa für ihren Neubau des Hauptbahnhofs Innsbruck, das Literaturhaus Graz und mehrere Messe- und Laborgebäude.

Gemeinsam mit dem Universitätsviertel, das sich auf der anderen Seite der achtspurigen Stadtautobahn anschließt, entsteht so ein Zentrum des postindustriellen Schlesien und eine Art Leistungsschau der neuen polnischen Architektur, die sich in den letzten Jahren dank der guten Wirtschaftslage und mit Auslandserfahrung zurückgekehrter Architekten weltläufiger entwickelt hat als in den ehemals sozialistischen Nachbarländern.

Doch anders als das vom polnischen Büro HS99 entworfene, preisgekrönte ziegelrote Scientific Information Centre and Academic Library gegenüber will der österreichische Entwurf für das Schlesische Museum keine laute Landmarke sein. Das ist eine kluge Entscheidung, denn eine solche würde in einer Umgebung, die nur aus zusammenhanglos verstreuten Einzelbauten besteht, ohnehin kaum auffallen. Stattdessen wurden die rund 26.000 Quadratmeter Museumsräume fast komplett im Boden versenkt. Die naheliegende Assoziation zu Bergwerk und Stollen sei aber ein Nebeneffekt, sagt Mikolaj Szubert-Tecl, Leiter des Büros Katowice von Riegler Riewe. „Wichtig ist vor allem, dass das Museum die noch bestehenden Gebäude nicht verdeckt.“ Neben dem - schwer zu verdeckenden - erhaltenen Förderturm sind dies eine Handvoll Nebengebäude, von denen zwei als Werkstatt bzw. Restaurant umgenutzt wurden, die anderen verharren noch ruinenromantisch im Dornröschenschlaf.

Um diese Ziegelbauten wurde ein neuer Park angelegt, darin verstreut einige Kuben aus geätztem Glas: Ganz diskret und sachlich bezeugt so das neue Schlesische Museum seine Existenz. Über die Dimension seiner Räume schweigt es sich von Außen komplett aus. Mit dieser Spannung spielt der Bau gekonnt: Mehrere Parcours von Wegen sind durch und um die weiß gehaltenen Räume im Untergrund gelegt, die aus mehreren Richtungen und Tiefenlevels begehbar sind. „Ermöglichungsarchitektur“ haben es Florian Riegler und Roger Riewe genannt: Auch Zugänge zum Museum gibt es mehrere, der aufregendste davon ist der Nebeneingang in den hallenartigen Raum für Wechselausstellungen. Ein sich über mehrere Ebenen in vielen 90-Grad-Winkeln in die Tiefe wühlender schmaler Gang, der für wohlige Desorientierung sorgt. Der Haupteingang mit seinen beiden ineinander verschränkten, von der Decke abgehängten Doppelrampen leitet dagegen mit spielerischer Erhabenheit in den Untergrund. Und damit in diesen Kulturflözen keine Klaustrophobie entsteht, fungieren die gläsernen Boxen als Lichtleiter: Sie ragen unterschiedlich tief in die Räume hinein und verstreuen bläuliche Helligkeit. „Zuerst waren viele skeptisch, aber sobald sie drinnen waren, waren alle begeistert“, sagt Szubert-Tecl.

Noch sind allerdings keine Besucher drinnen, auch auf die Exponate wartet das Museum noch. Zwar ist das Gebäude (Kosten rund 66 Mio. Euro, 85 % davon durch EU-Förderung) schon seit Monaten fertig, doch die Museumsplanung hinkt hinterher: Der Eröffnungstermin wurde immer wieder verschoben, auch der Herbst 2014 konnte nicht gehalten werden. Im Juli wurde der erst ein Jahr zuvor berufene Direktor Dominik Ablamowicz seines Amtes enthoben. Es sei ihm nicht gelungen, ein funktionsfähiges Konzept auf die Beine zu stellen, hieß es vonseiten der Landesverwaltung. Ihm folgt nun die museumserfahrene Direktorin Alicja Knast nach.

Vor 2015 ist nicht mit der Eröffnung zu rechnen. Zumindest das Auditorium wird aber bereits vermietet: Ende August steigt ein Musikfestival im glasboxbeleuchteten Untergrund. Und für die schlesischen Nostalgiker dreht sich immer noch das ratternde Stereoskop im Altbau.

2. August 2014 Der Standard

Die B-Seite der Architektur

Wieder hat Zaha Hadid einen Preis bekommen, wieder gibt es große Aufregung. Dürfen Architekten für Diktatoren bauen? Sind sie für tote indische Bauarbeiter verantwortlich? Wie ethisch korrekt können und müssen sie sein?

Der musikerfahrene Schriftsteller Max Goldt verglich einst mit federleicht-ambivalentem Snobismus die Bewunderung prunkvoller Bauten aus alten Zeiten mit dem Hören der A-Seite eine Platte. Die weniger schöne B-Seite „Hunderte müssen schlechtbezahlt schuften, damit irgendein Landfürst unter Schnörkellüstern Bouillon schlürfen kann“ höre man sich nur einmal an, die A-Seite dagegen summe man noch nach Jahrzehnten mit.

Tatsächlich sind die Weltkulturbauten, die unter lupenrein demokratischen Bedingungen mit fairen Sozialleistungen entstanden, zweifellos in der Minderheit. Doch in den Top Seven der Weltwunder wird eben nur der Hit „Pyramiden“ gespielt und nicht das Klagelied der Schuftenden, die Monumente für mumifizierte Bauherren errichteten.

Ein brandneues Bauwerk, ebenfalls einem Toten gewidmet, sorgt zurzeit für Debatten über die Balance zwischen A- und B-Seite der Architektur: Das 2013 eröffnete Heydar Alijev Center in Baku, erbaut von Zaha Hadid, wurde mit dem Design Award des Londoner Design Museum ausgezeichnet. Nicht zum ersten Mal erhob sich darauf Kritik, vor allem in britischen Medien. Ein Bauwerk in einem autoritären Staat, gewidmet dem 2003 verstorbenen Staatsoberhaupt, dem Amnesty Menschenrechtsverletzungen attestierte, errichtet auf einem Areal, dessen frühere Bewohner laut lokalen Aktivisten zwangsenteignet wurden, habe eine solche Auszeichnung nicht verdient.

Es sei in der Auszeichnung eben nur um die Architektur gegangen, verteidigte Design-Museum-Direktor Deyan Sudjic die Entscheidung, und die sei eben herausragend. In der Tat sind die sahneweißen Kurven des Ensembles aus Museum und Konferenzzentrum selbst für vom Hadid'schen Wiedererkennungswert ermüdete Augen ausgesprochen elegant und ausgewogen. Stattdessen hagelte es noch mehr Kritik, und zwar an Hadids Stadion für die WM 2022 in Katar, auch wenn dieses bisher noch im Planungsstadium ist. Hier, in einem der reichsten Länder der Welt, verdienen die Arbeiter aus Indien und Nepal gerade mal 55 Cent die Stunde. Mehr als 880 Arbeiter sind laut Informationen des Guardian ums Leben gekommen, seit Katar den WM-Zuschlag erhielt. Darauf angesprochen antwortete Hadid, für diese Probleme sei nicht die Architektur, sondern die Politik zuständig.

Es ist bei weitem nicht nur Zaha Hadid, die diese Vorwürfe zu hören bekommt. Es traf in den letzten Jahren auch Architekten, die in China ihre Großprojekte bauten - und das sind fast alle internationalen Büros. Vielleicht wäre Hadid auch glimpflicher davongekommen, wenn nicht ihr Büropartner Patrik Schumacher immer wieder mit wilden Worten die Autonomie der Architektur verteidigt, die Einmischung der Politik verdammt und die „Political Correctness“ von Ausstellungen wie den letzten Biennalen in Venedig gegeißelt hätte.

Komponieren die Architekten also wirklich nur die harmonische A-Seite? Liegt die B-Seite überhaupt in ihrer Macht? Das ist unter ihnen selbst umstritten. Daniel Libeskind befand, Architekten müssten sehr wohl die moralische Verantwortung übernehmen. So glitzernd ihre Türme auch sein mögen, sie seien nicht zu trennen von den Umständen, unter denen sie entstünden. Jacques Herzog, mit Pierre de Meuron 2008 Erbauer des Pekinger Olympiastadions, sagte dagegen, er habe selbst als Stararchitekt keinen Einfluss auf die Zustände chinesischer Baustellen, so bedauerlich sie auch sein mögen.

Immer lächerlicher

Auch Wolf D. Prix, der mit seinem Büro Coop Himmelb(l)au wie viele andere in China und Aserbaidschan baut, nimmt seine Kollegin in Schutz: „Die Diskussionen über Zaha Hadids Architekturen werden immer lächerlicher. Sie ist berühmt, hat sehr viele Aufträge, und das weckt Neid. Ich kenne keinen Architekten, der, vor der Frage stehend, ein Kulturzentrum nach seinen Vorstellungen in Baku zu bauen oder nicht, wildentschlossen aus moralischen Gründen diesen Auftrag abgelehnt hätte. Ich kenne aber viele Architekten, die nie gefragt wurden und deshalb umso empörter diejenigen verurteilen, die Aufträge aus den sogenannten Diktaturen annehmen. Aber die Frage ist nicht, ob man in autoritären Gesellschaften bauen kann, sondern die Frage ist, wie man baut.“ Obendrein würden Architekten heute, so Prix, mit immer größeren, auch „scheinmoralischen“ Verpflichtungen beladen, ihr Einfluss auf das Baugeschehen aber immer geringer.

Der Architekturtheoretiker Bart Lootsma, Professor an der Uni Innsbruck, nimmt die Architekten mehr in die Pflicht: „Man kann von jemandem wie Zaha Hadid schon erwarten, dass sie bei den Verhandlungen Bedingungen stellt. Das gehört zur moralischen Pflicht in jedem Beruf. Der Architekt wird bezahlt von den Auftraggebern, ist aber den Interessen der Öffentlichkeit eine Verantwortung schuldig und muss versuchen, die Auftraggeber von diesen Interessen zu überzeugen. Das ist die Essenz von Architektur.“ Dass dies aber immer schwieriger wird, konstatiert auch Lootsma: „In der EU, aber noch radikaler in Ländern wie den USA, Russland und China, in denen Architekten zunehmend als konkurrierende Unternehmer in einem kapitalistischen System gesehen werden und weniger als Kulturproduzenten, stehen diese Prinzipien selbstverständlich unter Druck.“

Welche moralischen Grundsätze gibt es überhaupt für Architekten? Viele internationale Architektenkammern haben einen „Code of Conduct“, auch ein österreichischer Architekt hat sich, laut den hiesigen Standesregeln, „innerhalb und außerhalb seines Berufes der Achtung und des Vertrauens der Öffentlichkeit gegenüber seinem Stand würdig zu erweisen“. In der Regel, so Kammerpräsident Georg Pendl zum STANDARD, würden diese Regeln vor allem bei Urheberrechtsfällen angewendet, seit kurzem mahnen sie auch die faire Bezahlung von Mitarbeitern ein. Ausbaufähig seien sie in jedem Fall, so Pendl.

Doch selbst wenn man sich der politischen B-Seite stellt, wird dies nicht immer honoriert. Zwei Beispiele aus Österreich: Das im Jänner eröffnete Schubhaftzentrum in Vordernberg, geplant von den Wiener SUE Architekten, ist gitterlos, freundlich, hell und fein möbliert. Ob es korrekter ist, ein Schubhaftzentrum so human wie möglich zu gestalten oder erst gar keines zu bauen, wurde in der Architektenszene heftig, wenn auch sachlich diskutiert. Andere waren weniger konstruktiv und reagierten mit Farbbeutelwürfen.

Noch stärkerem Widerstand sahen sich Alexander Hagner und Ulrike Schartner vom Büro gaupenraub ausgesetzt, als sie einen Ort für ihre gemeinsam mit Pfarrer Wolfgang Pucher initiierte Wiener Notunterkunft suchten. Nach zwölf Jahren ehrenamtlicher Arbeit, konfrontiert mit Unterschriftenlisten protestierender Anrainer, angedrohten Prügeln, Schreiduellen in Bürgerversammlungen und kafkaesken behördlichen Hindernissen, wurde den Architekten vor zwei Wochen endlich die Bewilligung für den Bau des „Vinzi-Dorfes“ in Hetzendorf für 23 Obdachlose erteilt.

Dass sich das nicht jeder antun will, ist verständlich. Das sei auch nicht der Punkt, sagt Alexander Hagner. „Aber es muss solche Angebote geben. Wir sehen uns auch nicht als Gutmenschen, aber wir investieren das Geld eben lieber in karitative Projekte, als es in Wettbewerben zu verpulvern.“ Angesichts solcher Kämpfe gegen Windmühlen ist es klar, dass Großprojekte in Staaten mit schlanken Normen und unterdrückter Protestkultur von vielen Architekten als Erleichterung empfunden werden. Die Nachwelt wird sicher nur die schöne A-Seite hören. Ob die Architektin selbst auch B sagt, kann und muss sie selbst entscheiden.

12. Juli 2014 Der Standard

Südliche Sinnlichkeit aus Stahl

Die Ausstellung „Loose Ends“ in Innsbruck entdeckt das radikal regionale Werk der 62-jährigen sizilianischen Architektin Maria Giuseppina Grasso Cannizzo.

Azurblaues Meer, gleißendes Licht, Zitronenhaine, pittoresk abblätternder Putz in Gässchen, die nach frischem Süßgebäck duften. Nicht nur zur Urlaubszeit der Stoff, aus dem Träume von Sizilien gemacht sind. Dass die süditalienische Insel auch ganz andere Assoziationswelten hervorruft, dessen kann man sich zurzeit im Innsbrucker aut. (Architektur und Tirol) vergewissern, und das mit allen Sinnen.

Schwarze Wände, ein tiefer Stahltank, in den eine so steile wie fragile Metallstiege dunkel abtaucht, um über einer Spiegelfläche aus schwarzem Öl zu enden. Über einem anderen Schacht klappt ein stählerner Deckel langsam auf und zu und lässt oranges Licht aus einem Spalt hervorscheinen. Aus einem dritten klingt leises, schwer zu verortendes Wellensittichgezirpe.

Es ist eine Architekturschau der anderen Art, die maßgeschneidert ist für das postindustrielle Ambiente des ehemaligen Adam-Bräu-Kesselhauses. Keine Hochglanzposter, sondern ein sinnliches Bühnenbild für die Arbeitsmethodik einer eigensinnigen Frau: der Architektin Maria Giuseppina Grasso Cannizzo. Geboren 1952 im sizilianischen Vittoria, arbeitete sie nach dem Studium in Rom für Fiat in Turin, bevor sie 1986 ihr eigenes Büro gründete. Seither baut sie konsequent nur in ihrem eigenen Umfeld. Alle ihre Bauwerke entstanden auf der Insel. Es sind nicht viele, die meisten für private Auftraggeber.

Sie arbeitet meistens allein, und das 365 Tage im Jahr. Die Bilder, die man von „MGGC“ - so das praktische Kürzel, das sie auch selbst verwendet - sieht, zeigen sie auf der Baustelle, die Zigarette immer in der Hand. Ihre Bauten sind keine wiedererkennbaren Markenzeichen, sie sind jedoch alle geprägt vom rauen sizilianischen Südosten mit seiner Ölindustrie und seinen Häfen. Nicht wenige von ihnen sind Ferienhäuser, auch sie fern von jeder verputzten Lieblichkeit.

So etwa das kleine Hofgebäude, das sie 2002 einer fünfköpfigen Familie für deren Feriendomizil in einem alten Fischerhaus in Scoglitti maßschneiderte. Anstatt die Schlafräume aneinanderzureihen, stapelte sie einfach Betten und Bettkojen in einem Turm aus Sichtbeton übereinander. Wie hölzerne Schubladen schwebt Kinderbett über Kinderbett über Elternbett, mit blechdünn gefalteten Stiegen verbunden. WC und Duschen stapeln sich daneben, in ähnlicher Offenheit, und das Raumpuzzle mutet an wie eine Mischung aus Jugendherberge und japanischem Minihaus.

Eine ähnliche Stapelarbeit schuf Grasso Cannizzo 2008 mit ihrem Kontrollturm am Hafen von Marina di Ragusa, dessen drei perfekt proportionierte Kuben in ein Gerüst aus rotem Stahl eingepasst sind - von unten nach oben: Segelklub, Wohnung, Hafenbüro. Dort, ganz oben, darf der hoffentlich schwindelfreie Hafen-Supervisor von Marina die Ragusa durch den Glasboden direkt aufs unter ihm wogende Mittelmeer blicken. Für unsere klischeeverwöhnten Augen ein gänzlich unitalienisches und unsüdliches Ensemble, mit kühlem, klarem Strich gezeichnet, und in seinem unverzierten Nebeneinander- und Aufeinanderstellen verschiedener Materialien eher an die belgischen Bricolage-Frechdachse von de Vylder Vinck Taillieu erinnernd als an barocke Sinnesfreuden-Architektur Marke Bella Italia.

Das wohl bekannteste, technisch raffinierte, sinnlich alle Stücke spielende Werk von Frau MGGC ist das Ferienhaus FCN, das einsam in den Olivenhainen von Noto steht und das 2012 mit dem RIBA Award ausgezeichnet wurde. „Es greift das typische Element mediterraner Ferienhäuser auf, deren Fensterläden entweder völlig geschlossen oder ganz offen sind, je nachdem, ob sie gerade bewohnt sind“, erklärt aut-Leiter Arno Ritter. Nur begnügte sich MGGC nicht mit dem Designen von Fensterläden: Hier fungiert der ganze Gästetrakt als Fensterladen: Die mit Bootssperrholz verkleidete Box kann sich - inklusive Badezimmer - zu Urlaubsbeginn von der Fensterfront zur Seite schieben lassen, um von dort den Meerblick freizugeben. Vor der Abreise rollt sie per Kurbeldreh wieder zurück.

Boxen aus Holz, die sich herumschieben, aufklappen und öffnen lassen, finden sich immer wieder in diesen Bauten, ob als Stauraum in einem Dachboden oder als Teile von Fassaden. Schließlich ist die Architektin keine, die den Bewohnern ihrer Häuser auf die Finger haut, wenn der Ficus an der falschen Stelle steht oder der Ikea-Flokati über dem edlen Geländer auslüftet. „Sie freut sich, wenn die Bewohner sich das Haus aneignen und es verändern,“ sagt Arno Ritter, „auch darum hat sie die Ausstellung Loose Ends genannt.“

Grasso Cannizzo selbst beschreibt ihre Methodik mit dem Sammeln, Ordnen und Beschreiben von Papierblättern, die sich nach und nach mit Inhalt füllen. „Die Blätter sind nun dem Lauf der Zeit ausgesetzt, den Bewohnern und dem Einwirken unvorhersehbarer Bedingungen, sie werden zerknüllt, gefaltet, geklebt, zerrissen, gelöchert, geschnitten. Das Papier akzeptiert seine eigene Vergänglichkeit, zerfällt am Ende seines Lebens in Bruchstücke, bildet neue weiße Blätter, die dazu verwendet werden können, einem neuen möglichen Projekt Form zu geben.“ Dies kann der Besucher der Ausstellung spielerisch nachvollziehen, denn der Katalog ist als Lose-Blatt-Sammlung angelegt, deren Reihenfolge sich wie bei Spielkarten mischen lässt.

Und was hat es jetzt mit dem Öl, dem Feuer und dem Vogelgezwitscher auf sich? Gut, das Feuer ist leicht dem Ätna zuzuschreiben, der das östliche Sizilien zum instabilen Territorium macht. Die anderen beiden sind autobiografischer Natur: Sie evozieren das Arbeitsumfeld der 62-jährigen Architektin. Der Steinboden in ihrem Haus ist, wie in der Gegend traditionell üblich, aus ölhaltigem Stein - mit dem entsprechenden schweren Odeur. „Dieser Geruch ist in dieser Gegend Bestandteil der Gebäude und der Landschaft“, sagt Arno Ritter, der Grasso Cannizzo besucht hat. Und die Wellensittiche - ein gutes Dutzend - untermalen aus ihrer Voliere den Arbeitsalltag der Architektin.

Wie genau und beharrlich sie in diesem ölig-idyllischen Umfeld arbeitet, sieht man daran, dass sie sich für die Konzeption der Innsbrucker Ausstellung ein Jahr freinahm. So entstand daraus ihr erstes sizilianisches Projekt außerhalb Siziliens.

21. Juni 2014 Der Standard

Kein Gramm zu viel

Zum Tode von Helmut Richter (1941-2014): Der Meister der scharfen Kanten und intelligenten Reduktion prägte eine ganze Generation von Architekten. Ein Nachruf.

Respekt, Bewunderung, Trauer, versonnene Anekdoten - all diese angemessenen Reaktionen waren zu verzeichnen, als die Nachricht vom Tod Helmut Richters, der am vorigen Sonntag, zwei Tage nach seinem 73. Geburtstag, nach langer Krankheit verstarb, bekannt wurde. Doch es war unter den spontan, schnell und reichlich eintreffenden Bekundungen vor allem eines, das hervorstach: Dankbarkeit. Und dies in einer Direktheit und Aufrichtigkeit, die selbst auf Außenstehende anrührend wirkte.

„Niemand prägte unser Büro mehr als Helmut Richter. Wir haben bei ihm studiert, in seinem Büro gearbeitet, an seinem Institut unterrichtet. Er polarisierte! Allein dafür vermissen wir ihn!“ schreiben beispielsweise Jakob Dunkl, Gerd Erhartt und Peter Sapp vom Büro Querkraft. Dass die warmherzig-wehmütigen Nachrufe einem Architekten galten, dessen Bauten auf den ersten Blick eher kantig und kühl scheinen, ist kein Widerspruch. Die Bewunderung galt vor allem seiner ansteckenden Begeisterung für Architektur und seinem unablässigen Drang zur Innovation.

Immer unter Spannung

Geboren 1941 in Graz, studierte Richter Architektur an der TU Graz und Informationstheorie sowie System- und Netzwerktheorie an der University of California in Los Angeles. Das Interesse an Mathematik sollte ihn später genauso prägen wie das zur Philosophie. 1977 gründete er gemeinsam mit Heidulf Gerngroß sein Büro, die ersten Wohnbauten wie das Haus Königseder in Oberösterreich und die Glasfassade einer Wohnanlage an der Brunner Straße in Wien sorgten für Aufsehen. In einer Zeit, als vor allem mit bildhauerischer Opulenz prunkende Raumkünstler wie Hans Hollein die heimische Architektur dominierten, setzte Richter auf die intelligente Reduktion: Glas, Metall, konstruktiv ans äußerste Minimum getrieben: kein Gramm zu viel.

In dieser Leichtigkeit, die er ins schwerfällige Wien brachte, war er am ehesten verwandt mit den technikaffinen Konstrukteuren aus Großbritannien und Frankreich, die keine Scheu vor der Industrie kannten. Doch entwickelte Richter seine völlig eigene Version des Hightech: Anstelle der laborkalten Glätte eines Norman Foster oder der hemdsärmeligen Werkstatttüftelei des genialen Erfinders Jean Prouvé verlieh Helmut Richter seiner konstruktiven Intelligenz eine sinnliche Eleganz, die immer leicht unter Spannung zu stehen schien.

Kompromisse kannte er dabei nicht: Als er bei seinem Hauptwerk, der gläsern kristallinen Informatikmittelschule in Wien-Penzing (1992-94), herausfand, dass sich ein Stahlträger über dem luftigen zentralen Turnsaal noch weiter verkürzen ließ und der Statiker folgerichtig die Mehrkosten für die Umplanung anmahnte, zahlte Richter das Weniger an Material kurzerhand mit einem Mehr aus eigener Tasche. Reich wurde er durch seine Arbeit nicht.

Absolut authentisch

„Er war absolut authentisch und ehrlich. Es gibt selten Menschen, die ihre Überzeugungen so leben, mit solchem Rückgrat, auch wenn es ihnen Nachteile bringt“, sagt seine Frau, die Architektin Silja Tillner, zum STANDARD. Dieser kantige Eigensinn machte es ihm und anderen nicht immer leicht. Als ihn sein Freund und Kollege Rob Krier Anfang der 1990er-Jahre einlud, sich an dessen neuem Stadtviertel in Potsdam zu beteiligen, lehnte er ab: Der konservative Krier hatte es zur Bedingung gemacht, aus Stein oder Ziegel zu bauen - für Richter undenkbar.

Es mag an dieser Unbeirrbarkeit liegen, dass Richter im Ausland niemals Fuß fasste. Das ist durchaus bedauerlich. Welchen Weg hätte wohl seine Karriere genommen, wäre 1982 sein maßgeschneiderter Stadtmaschinenentwurf für die Opéra Bastille realisiert worden, und nicht der heute bereits alt, schwer und müde wirkende Mitterrand-Pomp des Uruguayers Carlos Ott?

Nicht immer leicht

Mancher wird insgeheim auch dieser Fügung dankbar gewesen sein, denn schließlich sorgte Richters Fokussierung auf Wien dafür, dass er die internationale Welt nach Österreich brachte, etwa in den von ihm initiierten legendären Vortragsreihen während seiner Professur an der TU Wien von 1991 bis 2007, im Zuge deren er rund 500 Diplomarbeiten betreute. Dort prägte er eine ganze Generation von Architekten, die ihrerseits heute das österreichische Baugeschehen prägen. Sein enormes ingenieurtechnisches und bauhistorisches Wissen (er konnte alle barocken Kirchen Venedigs auswendig aufzählen, hieß es) kam ihm und seinen Schülern zugute.

„Durch seine lange, schwere Krankheit ist Helmut Richter für viele in Vergessenheit geraten, für mich nicht! Als Architekt und Lehrer war er ein Genie“, sagt Andreas Gerner vom Büro gerner°gerner plus, langjähriger Mitarbeiter im Büro Richter und Assistent am Institut Richter der TU Wien. „Als Mensch hatte er Kanten, die ihn zu einem Schwierigen machten. Das hat die Zusammenarbeit mit ihm nicht immer leicht gemacht. Aber gelernt habe ich viel von ihm, unter anderem die unendliche Liebe zu Details, die Forschung mit und am Material, die feine Statik. Ich bin durch ihn letztendlich noch neugieriger geworden. Ich war ihm dafür immer dankbar.“

Nicht überall wird diese Dankbarkeit geteilt: Richters gläserner Schule in Penzing droht seit einiger Zeit der Abriss. Bleibt zu hoffen, dass den bekennenden Thomas-Bernhard-Verehrer Helmut Richter das Bernhard'sche Schicksal der posthumen Anerkennung von oben rettet. „Jetzt werden viele mit netten Worten seiner gedenken. Zuerst gehasst und nach seinem Tod vereinnahmt? Schön wär's, und alle lieben jetzt seine Gebäude, die Richter-Schule wird eine Ikone der österreichischen Architektur, und niemand kommt mehr auf die absurde Idee, ihr Gewalt anzutun“, sagt Jakob Fuchs von faschundfuchs Architekten, ehemaliger Assistent am Institut Richter. Seine Büropartnerin Hemma Fasch fügt hinzu: „Helmut Richter hat wenig gebaut für einen Architekten, dessen Gebäude die Sprengkraft hatten, die Macht des Gewohnten und Bequemen nachhaltig zu zerstören. Es muss alles dafür getan werden, sein Werk als lebendes Zeugnis für die Haltung eines Visionärs zu bewahren.“

Für Richters gebautes Erbe besteht also noch Hoffnung. Wie sieht es um sein geistiges Erbe aus? Was können wir heute von ihm lernen? „Architektur und Konstruktion zusammen zu denken, wie einen biologischen Organismus“, antwortet Silja Tillner. „Heute wird viel oft nur auf die Hülle von Gebäuden geachtet, und ökonomisches Bauen heißt oft nur, dass es billig ausschaut.“ Um dieses Erbe für die Zukunft zu sichern, überlegt man jetzt an der TU Wien, einen Helmut-Richter-Preis für Architektur und Konstruktion auszuloben. Damit auch die nächsten Generationen die Dankbarkeit für den Meister der klugen Sparsamkeit teilen werden.

14. Juni 2014 Der Standard

Reiche Ernte auf weitem Feld

Seit 17 Jahren betreiben die Architekten Peter Schneider und Erich Lengauer ihr Büro im 3000-Seelen-Ort Neumarkt im Mühlkreis. Ihr Werk ist umfangreicher und vielseitiger als jenes so mancher städtischer Kollegen - und die Sprache der Leute beherrschen sie obendrein.

Stadtluft macht frei? Das mag zutreffen, doch in der Architektur ist die Stadt oft ein hartes Pflaster. Zwar locken große Bauaufgaben und Ruhm im Hochglanzmagazin, doch die Konkurrenz ist groß. Oft übersehen werden hingegen die Architekten, die in Dörfern und Kleinstädten zugange sind. Baukulturell ein weites Feld, ist das Land oft fruchtbarer als die Stadt, und die Auftragslage verhält sich keineswegs proportional zur Einwohnerzahl.

Paradebeispiel: Das Büro Schneider Lengauer, seit 1997 im 3000-Einwohner-Ort Neumarkt im Mühlkreis zu Hause, 15 Minuten nördlich von Linz. Das Werk von Peter Schneider und Erich Lengauer ist dabei so beachtlich wie variantenreich, und preisgekrönt obendrein. Die Standortwahl war durchaus bewusst, sagt Erich Lengauer: „Wir sind beide auf dem Land aufgewachsen, Peter Schneider in Osttirol, ich im Mühlkreis.“ Der Anfang sei nicht leicht gewesen. „Früher ist Architektur auf dem Land nicht wirklich anerkannt worden. In den letzten Jahren hat sich das geändert.“ Vorteilhafter Nebeneffekt: Man erarbeitet sich über die Jahre ein eigenes Revier, in dem man auch mal an den einen oder anderen Auftrag etwas leichter kommt.

Man spreche eben die Sprache der Leute. Dazu müsse man gar nicht täglich ins Wirthaus gehen, das liege ihnen ohnehin nicht so. „Das Begegnen auf Augenhöhe können wir recht gut, da tut man sich leichter mit der Kommunikation. Städter würden bei den Leuten auf dem Land sicher auf mehr Skepsis stoßen“. Spannende Aufgaben gibt es auf dem Land reichlich, von der jahrhundertealten Bausubstanz bis zur Rettung von Ortskernen, die vom Aussterben bedroht sind.

So auch der Bürostandort Neumarkt, der lange vom Schwerverkehr Richtung Tschechien durchtost war. „Wir haben damals analysiert, wie viele Häuser im Ort bewohnt sind. Das Ergebnis war erschreckend“, so Lengauer. Als 2009 die Bundesstraße durch einen Tunnel geführt wurde, war der Weg frei für einen Neubeginn. Neumarkt bekam von Schneider Lengauer einen kleinen Platz als neue Ortsmitte. „Jetzt ist ein erweitertes Wohnzimmer entstanden.“

Ähnliches gelang ihnen durch jahrelange Arbeit im Dorf Kals am Großglockner (1223 Einwohner). Hier restaurierten sie das Widum, einen gotischen Bau aus dem 14. Jahrhundert, und belebten den zu einer Durchfahrt verkommenen Ort durch Neubauten. 2009 bekam Kals dafür den Landluft-Preis. Die persönliche Erfahrung mündet auch in den Umgang mit Materialien: etwa bei der 2011 realisierten Aufbahrungshalle in Hopfgarten im Defereggental (734 Einwohner), einem außen in rauhen Stein und innen in warmes Holz gekleideten Ort des Abschieds. „Hier war es früher üblich, die Toten in der Stube aufzubahren“, sagt Lengauer. "Diese Geborgenheit wollten wir wiederaufgreifen, daher haben wir eine geschützte „Stube“ aus Lärchenholz entworfen." Man sieht: Landluft macht erfinderisch.

24. Mai 2014 Der Standard

Postkarten aus der Alten Welt

Die europäische Stadt: Niemand kann sie genau definieren, doch sie wird weltweit eifrig kopiert - von Florida bis Schanghai, von Brasilien bis Las Vegas. Die Geschichte eines Exportschlagers.

Wirklichkeit und Postkartenbilder", so besangen die nostalgischen Robo-Romantiker von Kraftwerk bei ihrem umjubelten Burgtheater-Auftritt letzte Woche in ihrem Stück Europa Endlos den Kontinent, den sie auf der LP Trans Europa Express durchfuhren. Ein Attest, das heute mehr denn je auf die europäische Stadt zutrifft. Denn die realen Stadtbilder von Venedig, Paris oder Barcelona sind als tausendfach reproduziertes Produkt zur sofort erkennbaren Marke geworden.

Wie der berühmte Fall der 2012 eröffneten Kopie des Weltkulturerbe-Ortes Hallstatt in der chinesischen Provinz Guangdong zeigt, lassen sich diese Bilder leicht kopieren - inklusive Palmen und Londoner Telefonzelle. Am anderen Ende des Globus werben die Hotel-Kasino-Komplexe der US-Spaßmetropole Las Vegas mit ebenso fröhlich verzerrten Versionen von Stadtbildern wie Paris, Venedig oder Monte Carlo. Einmal verkleinert mit halb so großem Eiffelturm, ein andermal als reine Motto-Dekoration für Hotelburgen wie bei den 36 Stockwerken des nach dem beschaulichen Gardasee-Dorf benannten Bellagio. Die europäische Stadt ist ein Exportschlager.

Schon zu kolonialen Zeiten benannten die Eroberer und Pioniere aus der Alten Welt ihre neu gegründeten Siedlungen praktischerweise einfach nach den alten. Die USA sind voll davon: So findet sich Zürich in Kansas, Rom im Staate New York, Moskau in Idaho, neun verschiedene Hamburgs in sämtlichen US-Bundesstaaten und sogar ein Vienna in Virginia.

Andere österreichische Städte haben eher unglamouröse Namensvetter: Salzburg schaffte es nur zu einem Straßenzug in Newport Beach, Kalifornien. Und Innsbruck, New York, ist nicht mehr als ein Skigebiet, das nach kaum mehr als einem Jahrzehnt Ende der 1970er-Jahre schon wieder aufgegeben wurde. Doch dafür finden sich weltweit stolze 191 Schweizen.

Andere benannten die Städte in pioniergeistgetränkter Eitelkeit gleich nach sich selbst, wie der deutsche Auswanderer Hermann Blumenau. Heute zählt das 1850 gegründete Blumenau im südbrasilianischen Bundesstaat Santa Caterina rund 300.000 Einwohner. Die ungewöhnliche Gründungsgeschichte wird mit einiger Verspätung Ende des 20. Jahrhunderts mit „echt“ deutschen Fachwerkbauten unterstrichen - etwa mit einer Kopie des Rathauses von Michelstadt im Odenwald aus dem 15. Jahrhundert im XXL-Format.

Nicht nur Namen und Wahrzeichen werden kopiert, sondern auch ganze Städte. So entsteht seit 2001 am Stadtrand von Schanghai unter dem Motto „One City, Nine Towns“ eine Reihe neuer Städte für insgesamt eine Million Einwohner, von denen jede mit dem Look einer westlichen Stadt stilisiert ist. So kommt Gaoqiao New Town als Klein-Niederlande mit Windmühle daher, andere hingegen in typisch deutscher, britischer, italienischer und auch amerikanischer Optik.

Lässt sich das Erfolgsmodell Europa tatsächlich exportieren? Ganz so einfach sei das nicht, meint Vittorio Magnago Lampugnani, Professor für Geschichte des Städtebaus an der ETH Zürich, im Gespräch mit dem STANDARD. „Diesen Städten fehlt die Authentizität. Die Städte, die wir lieben, spiegeln ein gesellschaftliches Ideal wider, eine Idee des Zusammenlebens, die über das Funktionale weit hinausgeht. Das spiegelt sich auch im Stadtraum wider: Der Campo in Siena ist das repräsentative Wohnzimmer der Stadt und wird auch so bewirtschaftet.“

Doch was ist nun abseits von Wahrzeichen und Fassaden die Essenz der europäischen Stadt? Bauliche und kulturelle Dichte? Die Patina aus jahrhundertelangem Um- und Überbauen? Von der Unesco geheiligte Innenstädte? Oder vielleicht eine besondere Urbanität, was auch immer das sein mag? Dazu gibt es so viele Theorien, wie es Stadtforscher gibt, und die Bücher über die europäische Stadt füllen Regale. Manche sehen den Begriff als Mythos, andere, wie der Soziologe Hartmut Häussermann, sprachen ihm überhaupt jede aussagekräftige Relevanz ab.

„Der Begriff Europäische Stadt ist aus meiner Sicht nur bedingt brauchbar“, relativiert auch Lampugnani. „Erstens unterscheiden sich etwa italienische Städte erheblich von spanischen oder skandinavischen, denn sie alle haben einen ausgeprägten Eigencharakter. Zweitens ist auch die Abgrenzung zur islamischen Stadt oder zur indischen recht schwierig. Die klare Aufteilung von öffentlichen und privaten Bereichen, die hohe Dichte und der menschliche Maßstab, der auch für den Fußgänger erlebbar ist, haben Städte von Rom bis Wien und Stockholm und von Isfahan bis Delhi gemeinsam. Deswegen halte ich den Eurozentrismus hier für fragwürdig.“

„European Village Style“

Vielleicht sind es also nur Idealvorstellungen einer „irgendwie europäischen“ Stadt, die weltweit ihre Anhänger finden. Ein so erfolgreiches wie umstrittenes Modell lässt sich vor allem in Florida begutachten: Orte wie die Walt-Disney-Stadt Celebration oder die dicht bebaute Reißbrettstadt Seaside gelten als Paradebeispiele des sogenannten „New Urbanism“, der ab Anfang der 1980er-Jahre die Abkehr von Einfamilienhausteppichen zwischen zehnspurigen Freeways hin zu dörflich anmutenden Siedlungen verkündete. Die Rede ist von „European Village Style“.

Dass diese Städte oft aussahen wie zuckersüße, perfekte Kunstwelten unter einer Truman-Show-Schneekugel, brachte ihnen reichlich Hohn und Spott ein. Trotzdem wurde der New Urbanism bald in die Alte Welt zurückimportiert. So entsteht seit 1993 im englischen Dorchester nach Plänen des Architekten Leon Krier die Siedlung Poundbury als Sammelsurium von Versatzstücken vermeintlich typisch britischer Kleinstadtbauten des 18. und 19. Jahrhunderts. Die Realität passt sich der nostalgischen Postkarte an. Ideengeber für diese konservative Selbstkopie ist niemand geringerer als Prince Charles. Kein Wunder, dass das Projekt bis heute bei Architekten und Laien umstritten ist.

„Poundbury ist in der Theorie eine gute Idee, denn es ist eine fußgängerfreundliche und räumlich einnehmende kleine Stadt“, sagt Vittorio Magnago Lampugnani. „Aber die Imitation eines englischen Dorfes mit Konstruktionen, die wir heute gar nicht mehr beherrschen, gibt dem Ganzen einen falschen Zug. Das Konzept wäre auch mit moderater Modernität umsetzbar gewesen.“

So umstritten diese nostalgische Variante der europäischen Stadt ist - die Gefahr droht ihr von ganz anderer Seite: Die Innenstädte von London, Berlin und Paris sind heute so attraktiv für Bewohner und Investoren, dass es immer weniger bezahlbare Wohnungen gibt. So könnte der Exportschlager Europäische Stadt ironischerweise ausgerechnet in seiner Originalversion an seinem eigenen Erfolg scheitern - wenn die Stadt zum Freilichtmuseum wird und Realität und Postkartenbild bald nicht mehr zu unterscheiden sind.

16. Mai 2014 Der Standard

Busfahrt zum Hinterhof

Raus aus dem Elfenbeinturm, ran an den Lehm: Die Architekturtage am Freitag und Samstag öffnen die Türen in die Welt des Bauens

Was machen Architekten? Jo, eh klar, sich selbst verwirklichen und schwarz gekleidet Betonklötze in unsere Welt setzen. Das entspricht natürlich nicht (ganz) der Wahrheit. Aber weiß man’s? Ja, man weiß es, zumindest wenn man die alle zwei Jahre ausgesprochene Einladung annimmt, sich ihre Ateliers anzuschauen und sich Bauten erklären zu lassen. Bei den Architekturtagen, die Freitag und Samstag in ganz Österreich stattfinden.

Es gibt informative Spaziergänge und -fahrten, also insgesamt rund 500 Veranstaltungen. In Wien etwa gibt es Grätzeltouren durch Bezirke oder fachlich untermauerte Führungen zu den Baufeldern der Seestadt Aspern. Das Leitthema lautet „Alt Jetzt Neu“; ihm kann man sich sowohl auf städtischer Ebene nähern – im Sonnwendviertel und im Erste-Bank-Campus um den Hauptbahnhof – als auch auf handfest dinglicher Ebene mit Führungen durch vergessene und revitalisierte Bäderbauten oder Informationsveranstaltungen zur Sanierung von Einfamilienhäusern oder zum Bauen mit Lehm. In Wien werden unter dem Motto der städtischen Nachverdichtung Bustouren zu neuen Hinterhofbauten angeboten (u. a. zu Wiens erstem Strohhaus). In Niederösterreich wiederum kann man per Fahrrad Badehäuser an der Donau besichtigen: In Horn, Krems, Klosterneuburg, Waidhofen/Ybbs und Wiener Neustadt heißt es „Fassadenlesen in Niederösterreich“.

Auch ist wieder Bratislava dabei: Hier werden Führungen zu teilweise sanierten Altbauten mit realsozialistischem Einschlag angeboten. Startpunkt für die Wiener Exkursionen ist in der Zentrale am Franz-Josefs-Kai 3, weitere Veranstaltungen finden im ehemaligen Postamt in der Mondscheingasse im 7. Gemeindebezirk statt.

19. April 2014 Der Standard

Handgemachtes aus der Backstube

Die Backraum Architekten aus Wien sind keine Marktschreier. Sie forschen lieber am Material, verkohlen dafür Holz nach Rezepten aus dem 19. Jahrhundert oder lassen sich von Felsenkulissen inspirieren. Oder sie gehen angeln, wenn es der Ideenfindung dient.

Fast sieht es aus wie eine Scheune - das fensterlose Ding aus Holzlatten, das im Nebel auf einer niederösterreichischen Wiese steht. Doch was sich zur Straße hin rau und geschlossen zeigt, öffnet sich zur Talseite mit breiter Glasfront und birgt im Inneren 90 Quadratmeter hellen Wohnraum, der zusätzlich Licht von oben bekommt.

Entworfen wurde das Niedrigenergiehaus, das inzwischen mit dem Velux-Flachdachpreis ausgezeichnet wurde, vom jungen Wiener Büro Backraum. Der Name ist Programm, denn das von Andreas Etzelstorfer gegründete Architekturbüro befindet sich in einer ehemaligen Backstube in Wien-Neubau. Seit 2011 wird sie als Büro genutzt. Umgebaut hat Etzelstorfer sein Büro von Hand und (mit etwas väterlicher Hilfe) im Alleingang, wie er betont: „Boden, Elektrik, Putz, einfach alles!“ Nach eineinhalb Jahren Baustelle konnte es bezogen werden. Im Ladenlokal nebenan kam ein tatsächlicher Backraum unter, eine Bäckerei, die von Etzelstorfers Freundin, ebenfalls Architektin, betrieben wurde.

Die Liebe zum Handgemachten zieht sich durch alle Bauten und Projekte. „Jedes Projekt hat einen bestimmten Schwerpunkt im Material“, sagt Etzelstorfer. Ein Lieblingsmaterial gebe es zwar nicht, aber Synthetisches aus dem Hightech-Labor bleibt in der Backmischung eher außen vor. „Das Erdige, Natürliche liegt mir mehr.“

Wo die Liebe zum Material regiert, sucht man auch im Experiment das Machbare: „Ich bin niemand, der sich ewig verzettelt. Ich suche die pragmatische Lösung, die funktioniert.“ Auf die Suche nach dem idealen Rezept für eine neue Aufgabe macht man sich am liebsten direkt vor Ort. Und wenn dieser ein Grundstück am Attersee ist, dann kann es schon sein, dass man erst einmal in Ruhe dort angeln geht.

Mit dem Ergebnis, dass für das soeben fertiggestellte Ferienhaus eine lebendige Kalksteinfassade gewählt wurde, inspiriert von der Felsenkulisse vis-à-vis. Die Materialzutat ist voll aufgegangen: Sogar die großen, flächenbündig eingepassten Klappläden vor den Fenstern, die sich hydraulisch hochfahren lassen, erstrahlen im massiven Steinlook. Die freundschaftliche Kooperation am Bau liegt den Architekten übrigens besonders am Herzen. Da freut man sich, wenn der Bauherr Kaffee auf die Baustelle bringt. Ein respektvolles Verhältnis während der Planungs- und Bauphase, meint Etzelstorfer, zahle sich immer aus.

Die nächsten Forschungsprojekte sind bereits in Arbeit: Für ein Mehrfamilienhaus beim Lainzer Tiergarten hat man sich für rötliches Zedernholz entschieden. Ein Einfamilienhaus im Waldviertel soll eine Fassade aus einseitig verkohltem Holz bekommen. Ländliche Behaglichkeit in Pechrabenschwarz? „Warum nicht?“, fragt Etzelstorfer. „Früher hat man mit diesen Techniken das Holz haltbar gemacht.“ Im Moment recherchiert man nach Holz-Kohle-Rezepten aus dem 19. Jahrhundert. Denn wenn alles architektonisch abgestimmt ist, darf auch im Backraum mal etwas anbrennen.

22. März 2014 Der Standard

Forschen zwischen Flachland und Flachau

Karten, die die Welt erklären: In ihren zwei Filialen in Amsterdam und den Alpen macht Theo Deutinger von TD Architekten komplexe Daten grafisch sichtbar. Bei aller Liebe zum „visuellen Journalismus“ wird auch das handfeste dreidimensionale Bauen nicht vergessen.

Hätten Sie gewusst, wo die größte Shoppingmall der Welt ist? Welches Gebäude das weltweit teuerste ist? Und wie viele geplante Wolkenkratzer infolge der Finanzkrise im Fegefeuer ungebauter Eitelkeiten verblieben sind? Dass man sich diese Antworten nicht mühsam in Excel-Listen und spröden Balkendiagrammen zusammensuchen muss, ist Verdienst des Salzburger Architekturbüros TD, wo man die für Ahaerlebnisse sorgenden Ergebnisse breiter Feldforschungen in bildhafte, sofort verständliche Form bringt.

Da werden die Einkaufszentren der Welt wie in einem Lageplan als Shops in einer globalen Mega-Mall nach Kontinenten geordnet. Die größten befinden sich übrigens in China, Malaysia, Bangladesch, im Iran und auf den Philippinen. Das teuerste Hochhaus der Welt steht in Singapur, wie uns ein farbenfrohes Datenpanorama erklärt. Und die 198 Wolkenkratzer, die „on hold“ sind, drängeln sich eng zum Gruppenfoto zusammen.

„Visuellen Journalismus“ nennt Theo Deutinger, der Kopf hinter TD Architekten, diese konzentriert erzählten, teils politischen, teils wirtschaftlichen Bildgeschichten. Dabei ist man bei TD nicht nur zweidimensional unterwegs - es werden auch richtige Häuser gebaut. „Beide Tätigkeitsfelder beeinflussen einander ständig“, sagt Deutinger. „Auch in der Architektur arbeiten wir immer research-based, also mit konkreten Forschungsergebnissen.“

Nicht selten fallen räumliche Idee und zweidimensionales Diagramm zusammen. Eine der ersten TD-Karten imaginierte die Alpen als Central Park, mit den wohlhabenden Städten Wien, München, Zürich und Mailand als angrenzende Nobelviertel in der Megacity Mitteleuropa. Besteht da nicht die Gefahr einer gewissen Oberflächlichkeit, wenn man komplexe Inhalte plakativ vereinfacht? Keineswegs, erklärt der TD-Chef. „In unseren Karten und Bauten erkennt man Schicht für Schicht immer mehr.“

Gelernt hat er die visuelle Kommunikation in den Niederlanden. In Amsterdam befindet sich heute noch der Stammsitz des Büros, das er nach Mitarbeit bei holländischen Topliga-Büros wie Rem Koolhaas und MVRDV gründete. Seit zwei Jahren gibt es auch eine Filiale im Salzburger Heimatort Flachau. Der Vergleich der beiden Länder sei spannend, so Deutinger. Denn während TD in Österreich vor allem Einfamilienhäuser baut, ist man in Amsterdam meist zweidimensional unterwegs. „Die Bauwirtschaft in den Niederlanden ist komplett eingebrochen. Hier und da wird noch ein Projekt subventioniert, damit man nicht vergisst, wie man Häuser baut.“

Kein Wunder also, dass sich die Wohnhäuser von TD (mit einer exotischen Ausnahme in Westafrika) allesamt in Österreich befinden. Im Mai startet der Bau eines Apartmenthauses im Salzburger Heimatort. So bekommt jeder, was er will: das Flachland die zweidimensionalen Daten, und das gebirgige Flachau die dreidimensionale architektonische Realität.

8. März 2014 Der Standard

Das Werben mit dem Wow

Architektur im Netz bedeutet heute vor allem: Schwimmen mit der oder gegen die Bilderflut. Eine Bestandsaufnahme.

2009 wurde Antonino Cardillo vom Trendmagazin Wallpaper unter die 30 wichtigsten Nachwuchsarchitekten gereiht. Dumm nur, dass sich später herausstellte, dass der junge Italiener bislang so gut wie nichts gebaut hatte. Denn die luxuriösen Wohnlandschaften, von denen Magazine wie H.O.M.E. und Build schwärmten, waren allesamt Renderings, also digitale Visualisierungen, scheinbar Computerspielen entsprungen und in unscharf mediterrane Umgebung implantiert. Cardillo quittierte es mit treuherzigem Achselzucken: In Italien sei es eben für junge Absolventen praktisch unmöglich, an Aufträge zu kommen. Und sei die visionärste Architektur nicht schon immer auch virtuell gewesen?

Was vor einigen Jahren noch für Empörung sorgte, ist inzwischen längst Alltag. In der Flut von Architekturportalen und Blogs im Netz verschwimmt die Grenze zwischen gebauter und ungebauter Architektur immer mehr. Realität lässt sich bestens simulieren, und das mit immer besser werdenden virtuellen Techniken. Wenn ein Bild im Internet angeklickt oder weggeklickt werden soll, zählt oft nur der sogenannte „Wow-Content“. Aufmerksamkeit ist die wichtigste Währung. Innerhalb weniger Sekunden wird entschieden. Was ins Auge springt, gewinnt.

Nicht selten sind es junge, gut ausgebildete Architekten abseits der gängigen Designmetropolen, die ihren Ideen ohne große Hürden eine gewisse Öffentlichkeit verschaffen wollen. Einer von ihnen ist der 25-jährige ukrainische Architekt Igor Sirotov, dessen geschmackvoll möblierte Innenräume und in anthrazitfarbener, fast schwarzer Herr der Ringe-Düsternis gehaltene Villen am Schwarzmeerufer in den Blogs reihenweise „Awesome“-Kommentare ernten. Erst auf den zweiten, sehr genauen Blick erkennt man: sehr schön, aber auch sehr fiktiv. Immerhin, vier Projekte seien inzwischen realisiert, wie Sirotov auf Anfrage des STANDARD versichert.

Das Angebot an Architekturportalen ist inzwischen nahezu unübersichtlich geworden. Während Portale wie Archinect oder das österreichische Nextroom zu klugen und hilfreichen Informationsfiltern geworden sind, boomen vor allem Seiten wie Tumblr, die reine Bilderhalden sind. 60er-Jahre-Brutalismus hier, Wolkenkratzer dort, ein nie endender Wasserfall aus Wow-Content. Eines der ersten und erfolgreichsten Portale, das in Mailand ansässige Designboom, ist seit 1999 im Netz und zählt heute 33.000 Artikel, vom Maserati über lustige USB-Sticks bis hin zu Designerlampen und Zaha Hadids neuestem Stadion. Und täglich kommen zehn oder mehr brandneue Berichte dazu, die Hälfte davon vom eigenen Team recherchiert.

Das Internet als Spielwiese

Ein Stammgast bei Designboom mit bisher 69 Einträgen ist Jürgen Mayer H., dessen Bauten wie die riesige hölzerne Pilzlandschaft Metropol Parasol in Sevilla oder die fast schon karikaturhaften Tankstellen und Grenzhäuser in Georgien zu den meistpublizierten Projekten der letzten zehn Jahre gehören. An Aufmerksamkeit und Wow-Content mangelt es hier nicht. Die Häuser des Berliner Architekten sind gleichzeitig ihre eigenen Logos und dank wiederkehrender Elemente wie abgerundeter Ecken schnell als Markenzeichen erkennbar.

Jürgen Mayer H. sieht die Entwicklung positiv: „Die Wahrnehmung und Verarbeitung von Information hat sich entscheidend geändert. Der Informationsfluss ist viel zeitnaher und unmittelbarer als bei üblichen Architekturpräsentationen. Das Internet ist wie ein Teaser oder Trailer, ein geeignetes Medium, um rasch einen Überblick über Architekturtendenzen zu bekommen. Es entstehen spielerische Kommentare, Interessengruppen und immer wieder neue Blogs. Architektur wird dadurch persönlicher.“

Das Internet als Spielwiese haben längst auch österreichische Architekten entdeckt. Ein Büro, das seit langem stark im Netz präsent ist, ist das Wiener Team Alleswirdgut (awg), das neben seiner ständig aktualisierten Website auch auf Twitter und Facebook aktiv ist. Letzteres diene aber mehr dem persönlichen Zugang zur Architektur als dem Werben um Auftraggeber, sagt Herwig Spiegl von awg, der den Wow-Content gut kennt: „Man klickt so schnell durch, dass man eher hängenbleibt, wenn einen etwas anschreit.“ Die Chance, auf Interessenten zu stoßen, sei zwar größer, wenn der Leser aber hunderttausenden Architekten gegenüberstehe, gleiche sich das jedoch wieder aus.

Mehr noch: Auf Bildschirm-Ebene ist die Gleichwertigkeit von Gebautem und Ungebautem sogar von Vorteil. So war man bei awg verständlicherweise darüber enttäuscht, dass ihr Hochhausentwurf, ein Wettbewerbsbeitrag für die Neubebauung eines Grundstücks in der Nähe des Wiener Rathauses, vor kurzem nur den fünften Rang belegte. Nachdem das awg-Projekt jedoch deutlich einprägsamer wirkte als der recht brave Wettbewerbssieger, entwickelte es rasch ein virtuelles Eigenleben im Netz. „Wir wollten nicht, dass unser Projekt einfach in der Schublade verschwindet“, so Spiegl. „Durch die vielen Publikationen im Netz ist daraus eine sehr breite Diskussion über das Thema Architekturwettbewerbe entstanden.“

Das weltweite Netz - ein kleines Trostpflaster also für den enormen kreativen und finanziellen Aufwand, den Architekten im Wettbewerbswesen betreiben? Nebenbei kennt die Architekturgeschichte reichlich ungebaute Entwürfe, denen dank ihrer visionären Ideen und ihrer Bildsprache ein langes Leben beschieden war, wie etwa Adolf Loos' Verlagshaus-Entwurf für die Chicago Tribune in Form einer dorischen Säule oder Ludwig Mies van der Rohes kristallines Hochhaus, das beim Wettbewerb für einen Büroneubau in der Berliner Friedrichstraße 1921 sang- und klanglos unterging und heute als einflussreiche moderne Ikone gilt.

Doch nicht jeder Architekt springt so lustvoll in die Bilderflut. Schweigsamere Baukünstler wie etwa Peter Zumthor, der die physische Präsenz der Architektur - „Hand aufs Holz“ - als maßgeblich ansieht, verzichten komplett auf einen virtuellen Auftritt im Internet. Auch seine Schweizer Kollegen Herzog & de Meuron leisteten sich ihre erste Website erst 2011, als sie bereits auf mehrere Hundert Projekte zurückblickten und die Elbphilharmonie in Hamburg langsam in die Höhe wuchs.

Eine solche Verweigerungshaltung könnten sich eben auch nur Stars vom Status eines Zumthor leisten, meint Herwig Spiegl. „Wir hätten nichts dagegen, so berühmt zu sein, dass wir keine Website brauchen! Doch für junge Büros ist die virtuelle Architektur eine Visitenkarte und oft die einzige Möglichkeit, nach außen zu treten.“ Und wenn die Bilderflut junge Talente aus entlegenen, globalen Ecken ans weltweit sichtbare Licht spült, kann sich die Architekturgeschichte nur freuen.

22. Februar 2014 Der Standard

Der Playboy im Penthouse

Wie sexy ist eigentlich moderne Architektur? Die Ausstellung „Playboy Architektur“ in Frankfurt gibt Antwort: sehr sexy.

Sie kommt nach dem Theater noch mit hoch, er legt eine Jazz-LP auf, sie holt sich einen Happen aus der Küche, er mixt Cocktails, man wechselt zur Terrasse, kommt sich vor der blinkenden Skyline näher. Nachdem diverse Designklassiker wie der Butterfly Chair und der Eero-Saarinen-Sessel umkurvt werden, endet der Parcours im Schlafzimmer. Was wie die Kurzfassung eines Bildungsbürger-Pantscherls klingt, ist im Grunde die Legende zu einem architektonischen Plan. Zum Plan eines geschmackvollen, detailliert gezeichneten Designlofts, wie man es in einer Architekturzeitschrift erwartet. Und zum Plan einer sexuellen Eroberung in 25 Schritten, einem Handbuch für den James Bond in jedem Mann. Darüber der Titel Playboy's Progress. Denn genau im Playboy erschien die Doppelseite 1954.

Man lese den Playboy ja nur wegen der Artikel, lautet die üblicherweise mit Eh-klar-Augenzwinkern quittierte Ausrede. Dass man das Herrenbeglückblatt nicht nur wegen Interviews mit John Lennon oder Kurzgeschichten von Vladimir Nabokov, sondern genauso als Architekturmagazin lesen konnte, beweist die Ausstellung Playboy Architektur 1953-1979, die vergangene Woche im Deutschen Architekturmuseum (DAM) in Frankfurt eröffnet wurde. Die Schau, 2012 mit großem Publikumserfolg in Maastricht gezeigt, wurde von Beatriz Colomina, Professorin an der Princeton University, konzipiert. Die Bibliothekare in Princeton hätten auf ihre Bitte, zu Forschungszwecken 30 Jahrgänge Playboy anzukaufen, irritiert reagiert, erzählte sie anlässlich der ersten Ausstellung.

Die These von Colomina nach dem Studium der Magazine: Der Playboy habe mehr für die Verbreitung moderner Architektur und Designs getan als seriösere Fachblätter. Ist das 1953 von Hugh Hefner gegründete Blatt also eine Art Stilfibel mit Girls? In der Tat war der Playboy in seiner Anfangszeit erstaunlich nah am Puls des internationalen Stils. „Die Designmagazine waren damals brav und konservativ“, sagt Evelyn Steiner, die die Ausstellung am DAM betreut. „Hefner war dagegen ein visionärer Denker, eine Art urbaner Pop-Architekt. Er hat die Stadt der Vorstadtidylle vorgezogen. Im Hintergrund der Abbildungen blinkt immer die Silhouette seiner Geburtsstadt Chicago.“

Dabei begnügte sich Hefner nicht damit, ein paar zeitgenössische Sessel dekorativ ins Bild zu rücken. Architektur wurde durchaus ernst genommen, wenn auch mit weit mehr Witz und Lässigkeit, als es heute penibel nachempfundene, sterile Kulissen von Retro-Serien wie Mad Men glauben machen. Das eigens für den Play- boy konzipierte Penthouse Apartment, dem die Septemberausgabe 1956 stolze sechs Seiten widmete, wurde unter anderem von Charles Eames entworfen. Das großzügige Loft ist ebenso eindeutig in der aufregenden Metropole angesiedelt wie das Playboy Townhouse (nach Plänen von Hefner selbst), in dem die Schnauze des E-Type-Jaguars zart die Wand zum Pool touchiert. Wie alle im Playboy gezeigten Wohnungen sind es mondäne Junggesellenbuden, deren vollautomatischen Küchen ganz ohne Beteiligung einer Gattin auskamen. Ungewohnt in Zeiten, da Inneneinrichtung noch als weibliche Domäne galt.

Um den ewigen Junggesellen à la James Bond trotz edler Dekostoffe und polierten Mahagonis nicht in seiner Männlichkeit zu verunsichern, wurde die Möblierung als perfektes Mittel zur Eroberung herausgestellt - der Weg ins Bett führte über die Sessel. „Stühle wurden mit sich darauf räkelnden Playmates als Verführungsinstrument abgebildet“, sagt Steiner. „Das funktionierte wie eine Kaufanleitung: Der Leser konnte sich so einen Teil des Playboy-Glamours zu eigen machen.“

Mondäne Junggesellenbuden

Nicht nur den Möbeln und Häusern, auch den Architekten selbst wurde im Playboy ein sinnlicher Rahmen geboten. The Master Builder lautete 1954 der Titel eines Porträts von Frank Lloyd Wright, in dem natürlich die ungebundene Jetsethaftigkeit des Jaguar fahrenden Stararchitekten erwähnt wurde, dessen in der Tat abenteuerliche Biografie allerdings zu diesem Zeitpunkt schon im neunten Lebensjahrzehnt angekommen war. Wenig später schob Mies van der Rohe sein kantig-viriles Profil ins Bild, und in den 1960er-Jahren durfte Buckminster Fuller visionär über die „Stadt von morgen“ fabulieren. Der Architekt als Einzelgänger und Pionier, der heroisch in die Zukunft blickt. Wer die Kurven geodätischer Kuppeln bändigt, so der Unterton, kennt sich auch mit weiblichen Kurven aus. Und für die Architekten war der Playboy mit seinen bis zu sieben Millionen Lesern das ideale Mittel, um potente Kunden zu werben.

Als dieser Zukunftsoptimismus in den 1970ern dank Vietnam und Watergate an Glanz verlor, vollzog auch der Playboy die Rückkehr ins Innere. Urbane Lofts waren weniger erstrebenswert in Zeiten, da New York zu pleite, Chicago zu kriminell und Detroit entvölkert war. Die Junggesellenbuden der Siebziger sind architektonisch immer noch innovativ, aber isoliert und idyllisch - am Strand von Malibu, in der Wüste, im Wald. John Lautners luxuriöse Landsitze, deren Panoramafensterfronten sich für sich fotogen räkelnde Playmates bestens eigneten, waren die Playboy-Architektur dieser Zeit.

Weiter ins Innere drangen auch die Möbel. Keine 25 Schritte mehr zum Schlafzimmer, das Bett wurde jetzt selbst zur Wohnung. Schließlich tätigte Hugh Hefner selbst seit 1960 seine Geschäfte am liebsten vom Bett aus, das er ungern verließ, außer um in seinen ebenfalls mit Betten ausgestatteten Privatjet zu wechseln. Wie riesige Plüschinseln sind diese Betten in den Playboy-Features verankert, ausgestattet mit Hausbar, Telefon, Fernseher und Stereoanlage, oder drehbar und mit „three motor vibrator system“ für die „gentle pre-sleep massage“ oder den „wake-up shake“. Schutzbedürftig kuschelt sich der Junggeselle in diese embryonale Wohnwelt Marke Verner Panton.

Die Playboy-Jahrgänge, die in der Frankfurter Ausstellung zu sehen sind, enden im Jahr 1979. Die James Bonds der 80er-Jahre waren grimmige Einzelgänger, Kämpfer mit Knarre, ohne Witz und Eleganz. „Ab den 80ern war die goldene Zeit des Playboy vorbei“, konstatiert Steiner. „Es gab immer mehr Magazine, außerdem Video und Privatfernsehen. Vermutlich konnte Hugh Hefner auch mit der damals aktuellen postmodernen Architektur nicht mehr viel anfangen.“ Heute begnügen sich Männermagazine mit Listen von Vitaminpräparaten zum Muskelaufbau. Das wäre dem Junggesellen von 1954 nie eingefallen.

1. Februar 2014 Der Standard

38 Sekunden Öffentlichkeit

Im Jahr nach Gezi plant in der Türkei immer noch der Staat die Stadt. Der Istanbuler Stadtforscher Orhan Esen erklärt, warum.

Vor einem Jahr, im Februar 2013, veröffentlichte der Stadtforscher und Aktivist Orhan Esen den Artikel Taksim 5. November, die Codes eines Putsches. An jenem 5. November 2012 hatten über Nacht die Bauarbeiten am Umbau des größten und wichtigsten öffentlichen Platzes in Istanbul begonnen, mit der von Premierminister Erdoggan forcierten Rekonstruktion einer ottomanischen Kaserne im heutigen Gezi-Park. Was danach passierte, ist bekannt.

Inzwischen wurde der Kasernen-Neubau per Gericht vorerst gestoppt. Gleichzeitig begann im Herbst das nächste Großprojekt, wieder beinahe über Nacht: Rund 70 Hektar Land werden in Yenikapi, am Ufer der Altstadt, im Marmarameer aufgeschüttet. Zwar wurde 2010 ein internationaler Wettbewerb für das Areal ausgeschrieben, den Peter Eisenman gewann, doch die Pläne verschwanden in der Schublade. Stattdessen entsteht nun ein gigantischer, auf den Visualisierungen totalitär anmutender Aufmarschplatz für rund eine Million Menschen. Orhan Esen erklärt im Gespräch mit dem Standard, welchen Interessen der öffentliche Raum in der Türkei ausgesetzt ist.

STANDARD: Sie haben sich schon vor der Besetzung des Gezi-Parks für stadtplanerische Belange um den Taksim-Platz eingesetzt. Worum ging es Ihnen dabei genau?

Esen: Taksim ist das unumstrittene Zentrum Istanbuls. Ein junger Ort, auf den symbolisch alles hineinprojiziert wird, ein richtiger Zankapfel. Es ging uns dabei um mehrere Aspekte: um das eigentliche Kasernenareal, um den Straßentunnel, um den Platz vor der Oper sowie um den Gezi-Park. Noch dazu werden in den angrenzenden Vierteln viele der großartigen Häuser aus den Dreißigerjahren abgerissen und durch billig gemachte postmoderne Bauten ersetzt. All das hätte man öffentlich diskutieren sollen. Das ist nicht passiert. Das Projekt enthielt nur Top-down-Entscheidungen.

STANDARD: Der Umbau gilt als Lieblingsprojekt des Premierministers. Warum plant hier der Staat die Stadt?

Esen: Der Bürgermeister, die lokalen Planungsinstanzen sind völlig von der Bildoberfläche verschwunden. Dafür ist Premierminister Erdoggan relativ aggressiv vor die Medien getreten. Von der Kaserne sind nie detaillierte Pläne veröffentlicht worden. Nachdem wir dann endlich 130.000 Stimmen dagegen gesammelt hatten, hat das Denkmalschutzamt bekanntgegeben, dass ein Wiederaufbau dieser Kaserne nicht zulässig ist. Das Original stammt aus dem 18. Jahrhundert und wurde nie aufgemessen. Der Neubau der Kaserne ist also historisch in keiner Weise korrekt, sondern reine Fantasiearchitektur.

STANDARD: Es erinnert an die Rekonstruktion des Berliner Stadtschlosses.

Esen: Die gleiche Konstellation, die ähnlichen Argumente! Aber in Berlin waren sie cleverer und haben die Sache zehn Jahre lang auf Eis gelegt, bis die Opposition eingeschlafen ist, und dann stillschweigend angefangen. Hier wollten sie es in einem Jahr durchziehen. Auch das Kulturzentrum am Taksim, eine Ikone der Nachkriegszeit, wollte man abreißen, genau wie den Palast der Republik in Berlin. Was mit diesem Bau geschehen soll, wird seit 1999 diskutiert. Er steht unter Denkmalschutz, aber heute weiß niemand mehr, was Denkmalschutz bedeutet. Das Gesetz steht auf so schwachen Beinen, dass man fast den Topkapi-Palast abreißen könnte. Es richtet sich ein gewisser Hass Erdoggans gegen alles Moderne.

STANDARD: Warum wird die moderne Architektur so emotionalisiert?

Esen: Weil sie einen ideologischen Hintergrund hat. Die kemalistische Republik wollte sich von der angeblich rückständigen Geschichte loslösen. Dass es auch im 18. und 19. Jahrhundert Modernisierungsbestrebungen gab, wurde dabei völlig unter den Tisch gekehrt. Man wollte den Begriff der Moderne ganz für sich allein beanspruchen. Die postislamistische Bewegung von Erdoggans AKP dagegen will eine geschichtliche Kontinuität herstellen. Das ist an sich nichts Schlechtes. Aber es gerät zur Persiflage, wenn man die Eklektizismen des 19. Jahrhunderts schlecht und kommerziell nachbaut. Das ist eine provinzielle Reaktion auf alles Urbane. So ist ein falscher Kulturkrieg entstanden, in dem beide Seiten auf verkehrten Positionen stehen.

STANDARD: Wie äußert sich dieser Kulturkampf beim Taksim-Projekt?

Esen: Es geht um die Nutzung des öffentlichen Raumes. Im November 2012 wurde der Platz mit großem Polizeieinsatz eingezäunt, 150 Bäume wurden abgeholzt, Straßentunnels wurden errichtet. Wir haben von Anfang an alle Aspekte der Planung kritisiert, auch die politische Dimension der Straßenplanung.

STANDARD: Welche Dimension ist das?

Esen: Das Straßenprojekt verhindert, dass große Mengen zu Demonstrationen auf den Platz kommen, weil die Straßen jetzt voller Tunneleinfahrten sind. Das ist eine Militärarchitektur wie die von Haussmann im Paris des 19. Jahrhunderts. Aber als es darum ging, dagegen zu protestieren, zögerten die Leute. Da ist man sehr technokratengläubig. Mit dem Protest gegen den Bau der Kaserne und die Abholzung der Bäume konnten sich Leute leichter identifizieren.

STANDARD: Warum halten Sie das Thema Auto für so elementar?

Esen: Es ist ein amerikanisches Stadtmodell. Istanbul und Ankara sind in der Antike gewachsen, im Mittelalter, in der Gründerzeit. Es sind Urbeispiele der europäischen Stadt. Die kann man nicht mit dem Modell Miami oder Dubai überbauen. Der Witz ist, dass offiziell mit der Fußgängerfreundlichkeit von Taksim geworben wird. Dabei werden im ganzen Viertel massiv Parkplätze gebaut. Das Zentrum wird durch das Auto erobert. Man ist nur dort Fußgänger, wo man sich vermarkten kann. Der öffentliche Raum als politischer Raum wird abgeschafft.

STANDARD: Wer nutzt den Taksim als politische Bühne?

Esen: Jeden Freitag und Samstag gibt es Flashmobs am Laufband - von politischer Demonstration bis zur Kunstperformance. Feministen, Kurden, Arbeiter, Studenten. Das ist seit 20 Jahren so, eine richtige Istanbuler Tradition. Zehn Leute, die verkleidet sind, und sich etwas Cleveres ausgedacht haben. Am Taksim stehen heute rund um die Uhr Polizei, Krankenwagen und Fernsehübertragungswagen - weil immer etwas passiert. Man nimmt es auf, und die Leute wissen genau, dass sie in den Primetime-Nachrichten maximal 38 Sekunden Zeit haben. Darauf stimmen sie ihre Performance und ihre Botschaft ab. Ansonsten landen die Videos sofort auf Facebook.

STANDARD: Wie ist die Situation heute?

Esen: Sie hat sich verschärft. Der Taksim ist heute ein sehr dionysischer Ort, an dem eine internationale globale Jugend auf der Straße feiert. Seit den Protesten vor einem Jahr wird von Regierungsseite ganz konsequent auf jede Art politischer und künstlerischer Demonstration reagiert.

STANDARD: Stattdessen entsteht zurzeit ein 70 Hektar großer, neu aufgeschütteter Platz am Marmarameer.

Esen: Eine Bevölkerung, die diesen riesigen Platz füllt, kann nur die AKP mobilisieren. Dazu braucht man 50.000 Leute, und dort wird man nur gesehen, wenn es die Mainstream-Medien übertragen. Im Taksim wird es durch die Anwesenden getragen. In Yenikapi gibt es nur Möwen.

STANDARD: Welche Planungsgeschichte hat dieser neue Taksim?

Esen: Gar keine! Die Pläne wurden erst bekannt, als das Gelände schon halb aufgeschüttet war. So viel Fläche, wie Amsterdam in zehn Jahren aufgefüllt hat, wurde hier in nur zwei Monaten aufgefüllt. Es wurde nie diskutiert, nie geplant, einfach nur gemacht.

STANDARD: Gibt es dagegen Proteste der Architekten?

Esen: Es ging alles zu schnell, wir wurden überrumpelt. Während am Taksim Proteste liefen, wurde das Land aufgefüllt. Es fügt sich zu einem Bild zusammen, welchen Begriff vom öffentlichen Raum man hat: nur mit Auto zu erreichen, kommerzialisiert, amerikanisiert.

STANDARD: Wie geht es am Taksim weiter? Ist die Kaserne nach dem Gerichtsbeschluss gestorben?

Esen: Das kommt auf die nächsten Wahlen an. Erdoggan macht im Moment eine extreme Konfrontationspolitik. Wenn er bei den Wahlen Erfolg hat, wird das als Legitimierung für sein Projekt gesehen werden.

Orhan Esen studierte Sozial-und Wirtschaftsgeschichte an der Bosporus-Universität in Istanbul und ist heute als Stadtforscher und Buchautor tätig. 2005 veröffentlichte er gemeinsam mit Stephan Lanz „Self Service City: Istanbul“. Er ist Mitglied von INURA (International Network for Urban Research and Action) sowie Mitbegründer der „Taksim Platformu“ und der YSGP (Grüne und Linke Zukunftspartei).

4. Januar 2014 Der Standard

„Meine Eitelkeit ist schaumgebremst“

Sein Büro gründete er Ende 1973. Er baut viel, sehr viel sogar, und das meistens in Wien. Mit Heinz Neumann sprach Maik Novotny unter anderem über 40 Jahre Architekturschaffen.

Vom Wiener Westbahnhof über den Uniqa-Tower bis zu zahlreichen Wohnbauten: Heinz Neumann ist einer der meistbeschäftigten Architekten Österreichs, und unter diesen einer der österreichischsten, denn er baut so gut wie nie im Ausland. Soeben feierte er sein 40-Jahr-Berufsjubiläum. Anlass für ein Gespräch über Hochhäuser, Vorbilder wie Roland Rainer und Karl Schwanzer, seine Aversion gegen „Computerkastln“, Stararchitektinnen, die schiefe Stiegen bauen, und über das Geheimnis, warum er nachts durch sein Büro geistert.

STANDARD: Sie haben kürzlich Ihr 40-Jahr-Bürojubiläum gefeiert. Ist das Arbeiten als Architekt in diesen Jahren leichter oder schwerer geworden?

Neumann: Schwieriger. Die Randbedingungen mögen die gleichen sein, aber die Flut an Vorschriften, die sich dauernd ändernde Bauordnung, die nicht nachvollziehbare Gesetzgebung, was Erdbeben, Brandschutz und Barrierefreiheit betrifft, ist längst nicht mehr auf dem Boden der Realität. Alle Wohnungen behindertengerecht auszuführen ist ein netter sozialer Gedanke, aber nur ein Prozent dieser Wohnungen wird auch tatsächlich so genützt. Wenn das ein gutes Rechenbeispiel ist, na dann Grüß Gott an die Politik, der ich ja sowieso „Grüß Gott“ sagen will.

STANDARD: Sie erheben in der Öffentlichkeit und Architektenszene eher selten das Wort. Warum plötzlich „Grüß Gott“?

Neumann: Ich habe noch immer nicht den Mut verloren, meine Stimme zu erheben, aber ich habe auch 40 Jahre lang erfahren, dass es eigentlich sinnlos ist. Das sind Mechanismen, die anders funktionieren. Man verlässt den Boden der Realität und verordnet Maßnahmen, die vielleicht politisch positiv, in Wirklichkeit aber grundsätzlich falsch sind.

STANDARD: Zum Beispiel?

Neumann: Ich kann unseren Politikern nur raten, nach Holland zu fahren und sich dort anzuschauen, wie man effizient und kostengünstig bauen kann. Dort darf eine Türe noch 60 Zentimeter breit sein! Und wenn sich jemand so ausfrisst, dass er dann nur noch durch eine 80 Zentimeter breite Tür hindurchpasst, dann baut man ihm eben eine Sonderkonstruktion ein. Bei uns wird man schon verklagt, wenn man eine falsche Türschnalle montiert! Als Roland Rainer seinerzeit erfahren hat, dass die Türen nur mehr 65 Zentimeter breit sein dürfen, hat er gesagt: „Jetzt hör i auf! Jetzt interessiert's mi nimmer.“ Da war er sehr konsequent.

STANDARD: Ist Roland Rainer ein Vorbild für Sie?

Neumann: Ich bin in einem Rainer-Haus aufgewachsen, in einem Zimmer mit sechs Quadratmetern: ein Bett, ein Schreibtisch, ein Kasten. Es war traumhaft! Rainer war mit meinem Vater befreundet und ist bei uns ein und aus gegangen. Mein Vater mochte Pflanzen, und Rainer hat zu ihm gesagt: „Warum steht da ein Ficus? Du hast doch draußen einen Garten!“ Er hatte eine genaue Vorstellung davon, wie seine Häuser zu nutzen waren. Das war ein Tyrann! Aber ein sehr lustiger Tyrann. Und für den Wohnbau hat er Unbeschreibliches geleistet.

STANDARD: Hat sich Ihre Art zu arbeiten in den 40 Jahren verändert? Sie gelten ja als nicht besonders computeraffin.

Neumann: Woher wissen S' denn das? Aber ja, es stimmt, ich bin ein architektonisches Urgestein. Und darauf bin ich stolz. Ich setze mich an die Reißschiene und skizziere die Sachen. Die seelenlose digitale Zeichnerei, um ehrlich zu sein, interessiert mich nicht wirklich. Die Seele der Architektur - das sind Entwurf und Details, und die sind immer noch schöner, wenn sie aus dem Kopf kommen und nicht aus dem Computer.

STANDARD: Viele Bauten wären heute ohne Computer weder baubar noch entwerfbar. Stichwort: Zaha Hadid.

Neumann: Das Zeichnen mit dem Computer hat Auswirkungen auf die Ästhetik der Gebäude. Und was Zaha Hadid betrifft, empfehle ich Ihnen, in der neuen WU-Bibliothek die Stiegen anzusehen, über die man im Seitenschritt hinaufgehen muss, und die Geländer, die das Zehnfache eines normalen Geländers kosten! Da frage ich Sie ganz aufrichtig: Hat das noch mit sparsamer Architektur für die öffentliche Hand zu tun, wenn sich jemand aus Jux und Tollerei mit unbrauchbaren Baudetails in Szene setzt? Das bitte schrei- ben S'!

STANDARD: Halten Sie es abgesehen vom finanziellen Aspekt auch für schlechte Architektur?

Neumann: Es ist nicht sinnhaft. Wenn sich irgendeine Bank am Pariser Platz in Berlin eine Wuchtl von Herrn Gehry leistet und dann in Konkurs geht, ist das okay. Bei der öffentlichen Hand aber bin ich dagegen. Schauen Sie sich einmal einen Campus vom Bill Gates an! Das sind die schlichtesten Gebäude, aber dort wird Weltgeschichte der Wissenschaft geschrieben. Bei uns hingegen wird eine Bibliothek gebaut, die von Formalismen und Verschwendungssucht geprägt ist. Das hat mit sinnhafter Architektur nichts zu tun.

STANDARD: Was ist denn sinnhafte Architektur?

Neumann: Eine, die genau dem Zweck entspricht, den sie zu erfüllen hat, und nicht mit überzogenen Architektonismen spielt.

STANDARD: Haben diese Architektonismen in Zeiten der Stararchitektur zugenommen?

Neumann: Ja. Es ist ein Unding.

STANDARD: Sie haben Ihre Laufbahn im Büro eines Stars der früheren Generation begonnen, nämlich bei Karl Schwanzer. Wie haben Sie die Arbeit mit ihm in Erinnerung?

Neumann: Ich war von Schwanzer sehr beeindruckt, weil er eine unbeschreibliche Dynamik und Spontaneität hatte. Bei ihm galt: Architektur ist keine Wissenschaft, sondern Architektur heißt: probieren. Das habe ich von ihm übernommen, und manche Angewohnheiten auch.

STANDARD: Welche?

Neumann: Na ja, wie er sich räuspert, wie er spuckt und so weiter. Und wie Schwanzer geistere ich in der Nacht immer im Büro herum. Nur kann ich heute leider nicht mehr auf die Pläne schauen, weil die alle in dem digitalen Kastl drin sind. Aber ich schaue mir halt an, was an ausgedruckten Plänen so herumliegt.

STANDARD: Sie waren unter anderem an der Planung seines berühmtesten Baus, des Vier-Zylinder-Hochhauses für BMW in München, beteiligt.

Neumann: In der Entwurfsabteilung haben wir damals zu fünft mit dicken Bleistiften herumgekritzelt, so lange, bis wir schwarze Finger hatten. Eines Tages lag dieses Ding (zeichnet den Umriss des BMW-Hauses auf, Anm.) am Papier, und wir sagten uns: „Na, des wär a Hetz!“ Und anschließend landete es wie vieles im Papierkorb. Als ich am nächsten Tag ins Büro kam, hatte Schwanzer den Plan aus dem Mistkübel geholt, glattgestrichen und darüber geschrieben „Weitermachen so! Schwanzer.“ So wurde es dann auch gebaut.

STANDARD: Sie bauen sehr viel, das meiste davon hier in Wien. Gab es in 40 Jahren denn keine internationalen Ambitionen?

Neumann: Das ist sehr leicht zu beantworten. Erstens gibt es in Österreich neun Bauordnungen und in jedem Ausland auch eine eigene. Im Grunde ist es einfacher, wenn man dort baut, wo man die Bauordnung kennt. Zweitens bereitet die Distanz oft Probleme. Und drittens geht es um die Sprache. Solange ich hier genügend zu tun habe, werden sich meine Anstrengungen, in Ägypten oder Brasilien zu bauen, in Grenzen halten. Und nachdem meine Eitelkeit schaumgebremst ist, sage ich Ihnen: Wenn ich hier schöne Sachen bauen kann, dann mache ich das auch.

STANDARD: Gibt es nach 40 Jahren noch unerfüllte Wünsche?

Neumann: Jeder hat unerfüllte Wünsche. Sie werden meinen nicht verstehen, wenn Sie noch niemals in Dubai waren. Ich war schon etliche Male dort und setze mich jedes Mal in ein Hotel, von dem aus man direkt auf den Burj Khalifa blickt. Dieses Haus ist für mich ein Weltwunder von einer unbeschreiblichen Eleganz und Ästhetik. Der Entwurf stammt von Skidmore, Owings & Merrill, einem Büro mit einer sehr langen Architekturtradition, und deshalb ist jedes Detail dort perfekt. Mei, des Haus is schön! Wenn ich die Chance hätte, so etwas zu bauen, und wenn's nur halb so hoch ist - ich würde alles dafür geben.

STANDARD: Und wie? Planen Sie, weiter nachts durchs Büro zu streifen? Oder sagen Sie wie Roland Rainer „Jetzt interessiert's mi nimmer“?

Neumann: Ich werde so lange arbeiten, wie es mir Spaß macht. Das ist eine diplomatische Antwort.

14. Dezember 2013 Der Standard

Oh, wie schön ist . . . Styropor?

Pro und contra Verpackungswahn: Führen schaumgedämmte Fassaden in die Sackgasse? Architekten suchen nach Auswegen.

Es ging hoch her, vor drei Jahren bei der „Konferenz zur Schönheit und Lebensfähigkeit der Stadt“ in Düsseldorf. Damals gerieten sich ein junger grüner Oberbürgermeister und ein renommierter Großarchitekt in die Haare. Und das über ein so sprödes wie ödes Thema: Wärmedämmung. Der Erste - Boris Palmer aus Tübingen - plädierte dafür, wenn nötig auch die jahrhundertealten Fachwerkhäuser seiner hübschen Altstadt in Styropor zu hüllen. Der andere - Hans Kollhoff - sah das Ende der Baukultur nahen. Es folgten Debatten über den „Dämmwahn“, der Stuck und Klinker hinter Styropor verschwinden ließ.

Seither sind die lauten Streitgespräche in Deutschland und Österreich verklungen, doch das Thema ist nicht vom Tisch, im Gegenteil. Spricht man dieser Tage mit Architekten, hört man immer mehr Stöhnen über die zunehmende Flut an Normen, die Industrieprodukte in den Bau hineinreklamieren. Neben Brandschutz und Barrierefreiheit ist es vor allem die Wärmedämmung, die den Architekten Unbehagen bereitet. Fassaden flächendeckend mit Ölschlamm zuzukleben, das könne es eigentlich nicht sein. Trotzdem kommt man vor allem im Wohnungsbau heute um die 20 oder mehr Zentimeter Wärmeschutz kaum herum.

Dabei ließe sich das einheitliche Verpacken durchaus infrage stellen. Der 2011 vom Bundeskanzleramt veröffentlichte Baukulturreport analysierte, dass Bauten aus den Jahren zwischen 1945 und 1960 energetisch am schlechtesten abschneiden, vor allem Einfamilienhäuser. Hier sei daher durch Sanierungen am meisten herauszuholen. Dicht bebaute Stadtviertel stehen ohnehin nicht zu schlecht da.

„Es stimmt, dass sich die Architekten zurzeit mehr wehren, es ist eine richtige Bewegung entstanden, als Reaktion auf die Vorschriftenflut“, sagt Dietmar Steiner, Direktor des Wiener Architekturzentrums (AzW). Als einer der vehementesten Styropor-Gegner lässt er kein gutes Haar am Hartschaum: „Ich war schon in den 80er-Jahren dagegen, damals war die Technik noch nicht so ausgereift, da ist die Dämmung in nassen Fetzen von der Fassade gehangen.“ Er hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, diese Technologie zu beenden, weil er sie „tektonisch widerlich“ finde.

Weiter ausgereift ist die Technologie zwar inzwischen, doch das ändere, so Steiner, nichts daran, dass man damit auf dem falschen Weg sei. „Man braucht das Zeug nicht! Es ist ein reines Resultat des Lobbyismus, und es wird obendrein meist falsch verarbeitet. In 20 Jahren wird das ein riesiges Problem, wenn man die ganze Chemie zu entsorgen versucht!“ Die Kritik vieler Architekten resultiert nicht nur aus chemischem Unbehagen, sondern auch aus Sorge um die Ästhetik des Stadtbildes: Proportionen gingen in der Aufschäumung verloren, noch dazu würden die Nordseiten trotz Fungiziden im Putz nach Jahren zu schimmeln beginnen, der Wartungsaufwand sei enorm.

Pro: Besser als gar nichts!

Der grüne Bürgermeister aus Tübingen, Boris Palmer, hält auch heute noch an seiner Position fest: „Wärmedämmverbundsysteme sind für die Häuslebauer am günstigsten, und es ist immer noch besser, als nichts zu tun“, sagt er. „Das heißt nicht, dass man alles zukleistern muss. Ich hatte auch nie vor, unsere ganze Altstadt in Styropor zu packen. Den Rest sind wir aber in den letzten Jahren massiv angegangen, wir verpacken wie die Weltmeister!“

Die Forderung nach Schönheit statt Styropor ist für Palmer zweitrangig, wenn es um Energie geht. „Ich verstehe die Aufregung unter den Architekten, finde es aber unsinnig, wenn sie die Dämmung abschaffen wollen. Was die Ästhetik betrifft, überhöht da die Zunft ihre Leistungen. Die Masse der Bauten aus den 50er- und 60er-Jahren ist ja nicht besonders ästhetisch.“

Auch die Industrie ist in die PR-Offensive gegangen und wirbt inzwischen mit dem Begriff der architektonischen Qualität um die Gunst der Öffentlichkeit: Die „Qualitätsgruppe Wärmedämmsysteme“ lobt jedes Jahr den Ethouse Award aus - mit dem Preis für 2013 wurden im November vier Bauten, darunter ein zum Passivhaus saniertes Wohnhaus in Klosterneuburg-Kierling aus dem Jahre 1979, ausgezeichnet.

Abseits aller bauphysikalischen Fragen geht es nicht zuletzt um das Stadtbild: Will man Straßen für Straßen im dicken Chemiepullover-Look? Der Weg der Architekten, die hier nach Auswegen suchen, führt nicht selten zurück zu den Wurzeln des einfachen Bauens. Sie entdecken den Mehrwert der massiven Wand wieder, die Wärme speichert und dabei optisch in Würde altert. Ein erster experimenteller Ansatz war die Mustersiedlung 9 =12 in Wien-Hadersdorf, die 2007 den Sichtbeton vor das Plastik setzte.

Heute versucht man, den Schaumstoff ganz zu eliminieren. In Berlin bauten Zanderroth Architekten ein Mehrfamilienhaus mit 55 Zentimetern Leichtbeton und sonst nichts. In Österreich tun es ihnen Architekten wie Dietmar Eberle gleich, dessen styroporloses Bürohaus „2226“ in Lustenau ohne Dämmung auskommt (DER STANDARD berichtete).

Ein Münchner Büro wiederum geht einen anderen Weg: Hild und K Architekten haben soeben ein Buch zum Thema herausgegeben. Der Tenor: Wenn man schon nicht um Wärmedämmsysteme herumkommt, sollte man zumindest versuchen, damit zu arbeiten.

„Die Architekten werden durch gesetzliche Vorschriften und wirtschaftliche Zwänge heute gezwungen, Wärmedämmverbundsysteme zu verwenden, gegen die sie zum Teil zu Recht, zum Teil aus Gründen der Sozialisation, Vorbehalte haben“, sagt Architekt Andreas Hild. Das heißt: Sie wurden in der Tradition der Moderne ausgebildet, in der „Echtheit“ höchstes Gebot war. Hild habe selbst auch gewisse Vorbehalte. Trotz dieser Vorbehalte hat er sich dem Thema pragmatisch genähert. Weil es sonst niemand tut. „In Deutschland kann man ein Haus ohne Genehmigung und ohne Architekten dämmen. Wenn sich Architekten nicht zuständig fühlen, führt das zu unkontrollierter Zerstörung. Wir versuchen, konstruktive Lösungen zu liefern.“

Mit ihren Projekten versuchen Hild und K Architekten, aus der Notwendigkeit das Beste zu machen, das heißt den sonst flach verklebten Stoff zu schichten und zu schnitzen, sodass eine Fassade mit baukünstlerischem Mehrwert entsteht: Das Styropor wird dreidimensional. Stilmittel oder nur Fassadenkosmetik? Für Andreas Hild eine Antwort auf die Sachzwänge der Zeit. „Wenn wir dämmen wollen, werden die Bauten sich verändern. Aber auch wer Dämmen ablehnt, muss yeine Maßnahme ergreifen, um Änderungen kommt man nicht herum. Oft genug hat sich die Geschichte durch äußere Vorschriften verändert.“ Ob sie sich ihn nun zunutze machen, ersetzen oder bekämpfen: Das Ringen der Architekten mit dem schön-schiachen Schaum hat erst begonnen.

7. Dezember 2013 Der Standard

Für eine Handvoll Blattgold

Die Sofiensäle leben wieder: Das Alte wurde synergetisch aufgewogen durch einen Neubau, der dagegen eher alt aussieht.

Es war eine Gesellschaft, die man sonst an diesem Ort selten antrifft: Was am Montagabend in der Marxergasse im 3. Bezirk opernhaft betucht den Taxis entstieg, war von eher erstbezirklicher und döblingesker Anmutung, in einer Gegend, in die sich sonst außer den Bewohnern gerade mal Hundertwasser-Touristen verirren. Die Wiedereröffnung der Sofiensäle verdiente es in der Tat, das zu oft verwendete Beiwort „feierlich“.

Eine Feier, die wohl die meisten Gäste vor kurzem für unwahrscheinlich gehalten hatten. „Noch vor drei Jahren hätte niemand daran geglaubt, dass das möglich ist“, so beschrieb es Projektentwickler Erwin Soravia. Exakt zwei Jahre ist es her, dass mit der Restaurierung des Veranstaltungssaals begonnen wurde. Mehr als zehn Jahre war dieser damals schon als dachlose Ruine dem Zahn von Zeit und Witterung ausgesetzt gewesen, nach dem verheerenden Brand im August 2001.

„Die letzten Monate waren absolut herausfordernd“, so Oliver Schreiber vom Denkmalamt bei der Eröffnung. „Es ist nicht gerade alltäglich, ein Objekt in diesem Ausmaß partiell zu rekonstruieren.“ Die Erleichterung über das Happy End eines langen, zähen Ringens war ihm anzumerken. Kein Wunder: Denn in den langen, von Gleichgültigkeit, Vernachlässigung und Rat- und Tatenlosigkeit geprägten Leidensjahren des geschichtsträchtigen Etablissements war es vor allem das Denkmalamt gewesen, das die „Sofie“ mit regelmäßigen Appellen aus dem scheinbar in alle Ewigkeit verlängerten Nahtoderlebnis befreit hatte.

Dabei ist es weniger die Einzigartigkeit der Bausubstanz der Logen, Balkone und Pilaster, die nun in blattgoldverzierter Pracht wiederauferstanden sind, die die Sofiensäle so schützenswert machte, sondern die kumulierte Ereignisdichte aus 163 Jahren, die selbst für das vergangenheitssatte Wien ungewöhnlich ist. Die Namen Johann Strauß, Arthur Schnitzler, Karl May, Heinrich Himmler, Bruno Kreisky, Willy Brandt und Drahdiwaberl seien hier nur als willkürlicher Auszug genannt.

Auch eine Expertise des Architekten Manfred Wehdorn, der auch für die Wiedererrichtung der 1992 ebenfalls durch Brand zerstörten Redoutensäle der Hofburg verantwortlich zeichnete, attestierte den Sofiensälen 2002 vorrangig kulturelle und weniger baukünstlerische Werte. Anders als die höfischen Redoutensäle seien die vorstädtischen Sofiensäle seit je ein Rahmen für die Selbstdarstellung des Bürgertums gewesen. Dennoch war es die bauliche Raffinesse, die den 2700 Personen fassenden Saal so beliebt machte: 1838 als „Sofienbad“ errichtet, wurde es 1848 von den späteren Architekten der Hofburg, August Sicard von Sicardsburg und Eduard van der Nüll, ausgebaut, weitere Umbauten folgten 1870 und 1899 mit der repräsentativen Straßenfassade. Im Inneren war der Bau mit dem temporär abgedeckten Schwimmbecken ein so simpler wie intelligenter Multifunktionssaal mit oft gerühmter Akustik.

All dies endete am 16. August 2001, als der Saal nach Flämmarbeiten am Dach niederbrannte. Schon drei Wochen später stellten die Eigentümer, die Sofiensäle AG des Baumeisters Julius Eberhardt, den Antrag auf Aufhebung des seit 1986 bestehenden Denkmalschutzes.

„Wohnungen sind ein Muss“

Das Bundesdenkmalamt wies den Antrag zurück, die Eigentümer verharrten in demonstrativem Abwarten, unterbrochen durch Beseitigung der nicht denkmalgeschützten Teile des Baus. „Die Ruine bleibt so stehen, wie sie ist. Sie ist dem Zahn der Zeit ausgesetzt, wie es einer Ruine zusteht. Und wenn nicht eine vernünftige Lösung zustande kommt, wird sie irgendwann zusammenfallen“, verkündete Eigentümervertreter Karl Pistotnik im Jahre 2004. Ein städtebaulicher Wettbewerb mit fünf geladenen Architekten brachte zwar Ideen und eine Änderung der Flächenwidmung, doch keinen Investor. Neben dem Denkmalamt schien sich nur noch eine Bürgerinitiative für das Gemäuer zu engagieren.

Dies schien sich 2006 mit dem Kauf des Grundstücks durch die (teils stadteigene) ARWAG zu ändern, doch es folgten noch weitere Jahre Tatenlosigkeit, garniert mit abwechselnden Absichts- und Armutserklärungen. Mal sollte ein Hotel errichtet werden, dann Hotels und Wohnungen, auch universitäre Nutzungen wurden angedacht. Ein manifester Wille oder gar Plan war jedoch nicht zu erkennen. 2010 erwarb die IFA AG, eine Tochter der Soravia Group, das Gelände, die Hotelpläne wurden begraben, stattdessen sollten nur Wohnungen um den restaurierten Saal gruppiert werden. Von 22 Millionen Euro Kosten war die Rede, nach Abschluss der Arbeiten sind es nun 50 Millionen. 109 Einzelinvestoren waren am Bauherrenmodell beteiligt, das die Realisierung möglich machte. 47 geförderte und 21 frei finanzierte Wohnungen wurden von Architekt Albert Wimmer errichtet.

„Wohnungen sind ein Muss, um den Standort zu beleben“, erklärte Erwin Soravia. Hier das Investitionswagnis Sofiensaal, auf der anderen Seite der Wohnbau als sichere Anlage: Das Betongold wiegt das Blattgold auf. An einem Bauplatz mitten im Wohngebiet ist das durchaus sinnvoll, und doch: Betrachtet man die Volumen, die sich beidseits des Saales und straßenseitig auch darüber aufschichten, erinnert dies unweigerlich an die hinter die Spähscharten des Wiener Gasometers geschichteten Wohntorten: sozialer Wohnbau als universale Wiener Verfügungsmasse, die sich unterscheidungslos in jedes beliebige Volumen füllen lässt.

Gehäuse für Erinnerungen

Zumindest scheint die Fassade, die mit ihren Loggien eine steinern-massive quasi Pariser Großbürgerlichkeit ausstrahlen soll, die von den Grundrissen dahinter aber nicht eingelöst wird und hofseits in eine standardisierte Stapelung mündet, zu suggerieren, dass die Symbiose zwischen Alt und Neu in erster Linie eine finanzielle war. Formal ist vom großzügigen Bürger-Glamour des Saales nichts in den Wohnbau hineindiffundiert.

Und der Saal selbst? Manche der ersten Besucher fühlten sich bei der Eröffnung an die weiß-goldene Grellheit neureich-russischer Oligarcheninterieurs erinnert, doch dies war vielleicht nur der Festbeleuchtung geschuldet. Oliver Schreiber vom Denkmalamt war stolz auf die Wiederbelebung in Stuck und Gold: „Die Stukkaturen waren stark beschädigt und verwittert. Zu Projektbeginn waren noch etwa 50 Prozent des Bestandes vorhanden.“ Die auffälligste und angesichts der Projektgeschichte nicht unironische Manifestation der Gegenwart sind die dunklen, überbreiten Rahmen der Türen und Fenster zwischen Saal und Foyer: Deutlicher kann ein Baudetail kaum „Brandschutz!“ rufen. So wirkt jetzt paradoxerweise das ursprünglich Alte - der Saal - brandneu und das Neue - der Wohnbau - vergleichsweise brav. Vielleicht wird sich das über die Jahre nivellieren. Angesichts der schon mehrmals mit letzten Ölungen versehenen Ruine ist jedoch das unverhofft Gerettete und Rekonstruierte schon der größte Wert. Und sei es nur als Gehäuse für Wiener Erinnerungen.

23. November 2013 Der Standard

Hochaktiv in passiver Mission

Sie holen das Passivhaus aus der Häuslbau-Nische: poppe*prehal Architekten aus Steyr haben sich der Energieeffizienz verschrieben und lassen dieses Know-how in kantige Gewerbebauten münden. Da kann ein Logistikzentrum auch mal ganz aus Holz daherkommen.

Spricht man heute von Passivhäusern, haben die meisten noch immer unweigerlich das Bild eines bis zum Anschlag gedämmten Monopolyhauses auf der grünen Wiese vor dem geistigen Auge, energetisch gefinkelt, aber architektonisch brav und unspektakulär. Dabei beschränkt sich die ambitionierte Energieeffizienz heute längst nicht mehr auf Wohnhäuser, und muss auch nicht im Strickpulli-Look daherkommen.

Der Neubau für einen Metallbetrieb in Wien-Liesing, der vor kurzem fertiggestellt wurde, nimmt sich beispielsweise sehr schnittig und fesch aus, mit scheinbar unsparsamem Verglasungsanteil obendrein. Verantwortlich für das heiz- und kühlautarke Gebäude mit Wasserspeicher und Fotovoltaik sind die Architekten Helmut Poppe und Andreas Prehal vom Büro poppe*prehal in Steyr, das sich seit der Gründung vor 13 Jahren dem energieeffizienten Bauen verschrieben hat.

„Schon unser erstes Projekt war ein Passivhaus“, erinnert sich Helmut Poppe. "Damals nannte man das noch „Solararchitektur“, ein richtiges Unwort, das nach Birkenstockschlapfen klingt. Wir wollten zeigen, dass es auch zeitgemäßer geht." Einfamilienhäusern leistet man sich heute noch zweimal pro Jahr, die Mehrzahl der Projekte von poppe*prehal sind inzwischen Gewerbebauten und öffentliche Bauten wie Schulen und Kindergärten. Dafür reizen die Architekten den Tätigkeitsbereich weit aus, agieren als Generalplaner und scheuen auch nicht vor der Entwicklung eigener Prototypen zurück.

2009 entwickelte man im Rahmen eines EU-Projektes in vierjähriger Forschungsarbeit für den Firmensitz der Eine Welt Handel GmbH im steirischen Niklasdorf ein Fassadensystem namens eco²building, was dem Bau eine Nominierung für den Österreichischen Staatspreis für Architektur und Nachhaltigkeit bescherte.

„Wir haben uns gefragt, warum eigentlich nur Einfamilienhäuser Passivhäuser sein sollten und nicht auch Gewerbebauten. Gerade dort legen die Auftraggeber Wert auf einen hohen Vorfertigungsgrad und kurze Bauzeit, man kann also technisch einiges herausholen“, sagt Helmut Poppe. In Hightech-Spielereien will man sich jedoch nicht verlieren: „Auch mit weniger Technik kann man erfolgreich sein. Man braucht nur einen gewissen Hausverstand.“

Dies und ambitionierte Auftraggeber. So kann auch ein Logistikzentrum wie jenes der Firma Schachinger in Hörsching (OÖ) komplett als Holzbau errichtet werden - ungewöhnlich, präsentieren sich Lagerhallen in der Regel doch als Trapezblechdesaster.

Die Bauten weisen dabei durchwegs eine kantige Form auf. Helmut Poppe scheut die oft gebrauchte „Kisten“-Vokabel nicht: „Das hat weniger mit Energieeffizienz zu tun oder damit, dass ein Gebäude unbedingt möglichst kompakt sein soll. Diese Stringenz entspricht unseren Vorstellungen von Architektur. Es ist keine Architektur, die schräg sein will.“

25. Oktober 2013 Der Standard

My Home Is My Wonderland

Das Trio Share Architects aus Wien setzt bei seinen Bauten auf Offenheit und Durchblicke zwischen Innen und Außen

Die Anfänge waren geradezu beispielhaft kosmopolitisch. Als sich Hannes Bürger, Silvia Forlati und Thomas Lettner 2003 in Wien zusammenschlossen, kamen zwei von ihnen gerade aus Singapur, studiert hatte man in Italien, den Niederlanden und Japan, gearbeitet unter anderem bei Zaha Hadid. Dazu passend war das erste Projekt das Leitkonzept für die erfolgreiche paneuropäische Wanderausstellung Wonderland, deren pixelgroße Tafeln monatelang durch sämtliche europäische Hauptstädte tourten.

So global hätte es weitergehen können, doch die drei Architekten blieben hier. „Damals habe ich noch nicht einmal Deutsch gesprochen“, erinnert sich die gebürtige Italienerin Silvia Forlati. Von weltläufiger Schnittigkeit allerdings der Büroname: Share. „Ein Gebäude wird ja erst in der Zusammenarbeit ermöglicht. Es ist ein Prozess des gemeinsamen Findens“, erklärt Silvia Forlati den Namen.

Barrierefreie Offenheit

Heute ist das Büro fest im konkret gebauten Österreich verwurzelt. Der Durchbruch kam mit dem Gewinn des Wettbewerbs für die Palliativstation des Wiener Wilhelminenspitals (mit Raum-Werk-Stadt Architekten), die 2012 fertiggestellt wurde. Um den Patienten Schutz vor Einblicken und trotzdem viel Bewegungsradius zu geben, bekam der breit angelegte Bau helle Atrien eingestanzt, und nachdem die Zimmer allesamt Richtung Grün orientiert wurden, gelang es, einen Großteil des Baumbestands zu erhalten - eine barrierefreie Offenheit zwischen Innen und Außen, die mittlerweile so etwas wie ein Markenzeichen geworden ist.

Ihr jüngstes Projekt, das im September eröffnete Bürgerservice-Zentrum in Ossiach, holt ebenso die Landschaft ins Haus. Der multifunktionale Doppelpavillon steht leicht erhöht neben dem altehrwürdigen Stift. „Durch eine faltbare Fassade kann der Saal zum Außenraum geöffnet werden“, sagt Silvia Forlati. „Und die Stufen auf der Terrasse sind als Bühne für Hochzeiten und Veranstaltungen nutzbar, ohne dass man jedes Mal eine Behelfskonstruktion bauen muss.“

Maximale Raumnutzung

Eine Methode, die auch bei Bauaufgaben zur Anwendung kommt, bei denen es für gewöhnlich enger zugeht: den Wohnbauten. Das yachtweiße Badehaus an der Alten Donau, das fast nur aus einer zwischen Innen und Außen oszillierenden Terrasse besteht, ebenso wie Geschoßwohnbauten, die trotz engen räumlichen und finanziellen Korsetts mit großen Loggien und geräumigen Stiegenhäusern Platz und Luft schaffen. „Es geht uns um die maximale Raumnutzung, um eine Großzügigkeit über das Minimum hinaus“, sagt Forlati.

Ist es die Offenheit der globalen Erfahrung, die diese Luftigkeit in die Entwürfe bringt? „Ich weiß nicht, ob man das im Ergebnis sieht“, meint die Architektin. „Es ist mehr ein mentaler Internationalismus. Die Nähe zum Kunden und zur Baustelle sind uns wichtiger. Der österreichische Markt ist spannend genug.“ Wonderland ist eben überall.

Kurz & bündig

Ihr Büro in drei Worten? Offen, verlässlich, spannend.
Der beste Ort für Ideen? Zwischen uns dreien.
Bleistift oder Computer? Beides!
Wie viel arbeiten Sie? 220 Stunden im Monat.
Was würden Sie gerne bauen? Eine Bar (Hannes), mehr Wohnbau (Silvia), etwas Großes (Thomas).
Ihr größter Erfolg? Dass wir noch da sind.
Ihre größte Niederlage? Disqualifiziert beim Wettbewerb wegen einer falsch gespeicherten PDF-Datei.
Ihr Lieblingsurlaubsland? Italien.
Letzter Gedanke am Abend? Was morgen passieren wird.
Alternativjob zur Architektur? Alle drei: keiner!

19. Oktober 2013 mit Wojciech Czaja
Der Standard

Bauordnung muss brennen!

Wir blicken 25 Jahre in die Zukunft: Was wird am 19. Oktober 2038 an dieser Stelle zu lesen sein? Österreichische Architekten und ihre Twitter-Visionen.

heri & salli, Wien
Ökostadt in Weiß: Fantastische Aussichten! Hochgebirgscity in den Alpen für 100.000 Einwohner steht kurz vor dem Spatenstich.

Johannes Baar-Baarenfels, Wien
Schwechat: Terminal 5 eröffnet. Gebäude adaptiv gegenüber Umwelteinflüssen. Neues Bewusstsein für gesellschaftliche Relevanz von Architektur.

Martina Hartl, t hoch n
Energiebewusstes Bauen ohne jegliche sklavische Unterwerfung an die Dämmstärkenvorgaben der Kunststoffindustrie!

Barbara Imhof
Liquifer Systems Group
Die Stadt als Raumschiff: Zusammenleben in verdichtetem Raum, Integration technologisierter Natur, effizientes Haushalten mit Ressourcen.

Sabine Pollak, Köb & Pollak
Im Oktober 2038 berichtet das ALBUM über neueste Bandstadt-Projekte auf funktionslos gewordenen Autobahnen zwischen Wien, Berlin und Paris.

Boris Podrecca, Wien
Kleinkariert war gestern. Hurra! Wien, bislang einzige europäische Hauptstadt ohne herzeigbaren Hauptplatz, eröffnet heute moderne Piazza.

Sandra Knöbl, Labour of Wood, Wien
Breaking News: Österreichische Bauordnung ist endlich einem auf dem Modulor basierenden Manifest für Ästhetik und gebaute Umwelt gewichen.

Wilfried Krammer, Wien
Vom temporären Pilotprojekt zur Realität: Nonmotorisierter Netzplan für Wien fertiggestellt. Ein Projekt von European Smart Cities Austria.

Roland Gruber, nonconform architektur vor ort
In 25 Jahren wird die Architekturseite täglich erscheinen. Sie wird dann „Ein schöner Land“ heißen und brennheiße Lebensthemen aufgreifen.

Wolf Prix, Coop Himmelb(l)au
Die Architekturkritik im STANDARD wird im Wirtschaftsteil in Form von Rechtsgutachten und Bilanzberichten zu lesen sein. Traurig, aber wahr.

Margarethe Cufer, Wien
Egal. Da bin ich tot. Wenn es mit den Vorschriften so weitergeht, ist es ohnehin besser, die Häuser von Juristen planen zu lassen.

Peter Riepl, Riepl Riepl, Linz
Die Erde ist abermals kleiner geworden. Doch die Architektur öffnet neue Spielräume und macht unsere Welt wieder unermesslich.

Gernot Hertl, Steyr
Das Streben nach gutem Raum gab es immer. Doch kaum vorstellbar: Vor 25 Jahren gab's noch Zersiedelung und Kernzonensterben!

Gerhard Saile, Halle 1, Salzburg
Verschandelung gestoppt! Nach Einführung des Unterrichtsfachs „Raumordnung und Architektur“ durch Bundesregierung 2014 Erfolg erkennbar.

Jakob Dunkl, querkraft architekten
Mit neu geschaffenem Ministerium für Baukultur betont die Regierung die gesellschaftspolitische Relevanz von Architektur und Raumordnung.

Markus Bogensberger, HDA Graz
Österreichisches Architekturmuseum feiert 20-jähriges Bestehen. Außenstellen in den Bundesländern haben sich als Publikumshit erwiesen.

Arno Ritter, aut, architektur und tirol
2013: Wenn die Sonne der Baukultur niedrig steht, werfen sogar architektonische Zwerge lange Schatten. 2038: Architektur = Qualität = Alltag

Gerhard Kopeinig, Velden
Österreich wird frei! Frei von architektonischem Getöse.

Patrick Jaritz, IG Architektur
Wünsche mir am 19. Oktober 2038 folgende Schlagzeile: „Erstmals zwei Architektinnen für Friedensnobelpreis nominiert!“

Gernot Ritter, Hofrichter Ritter Architekten, Graz
Friedensnobelpreis an Architektin verliehen!

Martin Haller, Caramel
Wissenschaftlich erwiesen: Wenn Architekten träumen. Gute Architektur ist in kollektivem Bewusstsein gespeichert und wartet auf Erweckung.

Gabu Heindl, Wien
Eröffnung des 200. Wiener Gemeindebaus seit Wiederaufnahme von Gemeindebau im Jahr 2014. Und: Evaluierung des Gesamtschulbau-Programms.

Silja Tillner, Tillner & Willinger
Die Stadt 2038: Vertikale Fassadenbegrünungen und Bäume in allen Straßen haben das Stadtklima verbessert. Alle wollen in der Stadt leben.

Sigfried Loos, polar, Wien
Gehweg und Fahrweg fließen zusammen: Das neue Projekt ist eine urbane Landschaft, die mit den Echtstoff-Gebäuden verwoben ist.

Albert Wimmer, Wien
Die Zukunft gehört dem Universal Design, das für so viele Menschen wie möglich nutzbar ist. Und: Am Cover Baukultur statt Immobilienkultur.

Maria Flöckner und Hermann Schnöll
Neue Möglichkeitsräume! Dafür tut, frei nach Rudofsky, nicht eine neue Bauweise, sondern ein neues Gesellschaftsmodell not.

Karin Triendl, triendl und fessler
Als Reaktion auf gesellschaftliche Veränderungen werden lokale Ressourcen bestimmend. Qualitätsvolles und Gutes erhält einen neuen Stellenwert.

Marion Wicher, yes architecture
Das Recht auf Licht, Luft und Architektur in einem schadstoffreinen Lebensumfeld wurde nun schriftlich verankert.

Florian Haydn, 000y0
Bauordnung hat Gültigkeit verloren: Das Bauen wird schwieriger, die Menschen bauen gemeinsam - ohne Architekt.

Edgar Spraiter, Geistlweg Architektur, Oberalm
In 25 Jahren werden Architekten in Dienstleistungsfirmen die Änderungen für das nächste Update von Web-Bauteilkonfigurationen erarbeiten.

Christina Schinegger, soma, Wien und Salzburg
Hoffentlich werden die Konzepte und Baumethoden, die wir zurzeit entwickeln, in 25 Jahren einer breiten Allgemeinheit zur Verfügung stehen.

Verena Konrad, Vorarlberger Architekturinstitut
Meine Vision für 2038: Qualitätsvolle Verdichtung und Verständnis von Baukultur als fixer Bestandteil des Nachdenkens über soziale Räume.

Christoph Achammer, ATP, Innsbruck
Team aus Architekten, Ingenieuren und Geisteswissenschaftlern hat Wien-Bratislava zur lebenswertesten nachhaltigen Stadt der Welt gekürt.

Gerda Gerner, gerner gerner plus, Wien
Anpfiff zur WM 2038 im ersten beambaren Stadion der Welt von gerner gerner plus architekten. DER STANDARD ist live dabei!

Robert Diem, franz architekten
Nach 30 Jahren Fightclub hat sich die Diskussion über Architektur von kleinen Büros in eine breite Öffentlichkeit verlagert.

Matthias Finkentey, IG Architektur
Architektur ist die Entscheidung kompetenter, kreativer und mutiger Bauherren. Möge das Standard werden.

Pia Anna Buxbaum, Archicolor
Angenehmes Raumklima und ressourcenschonendes Bauen sind heute schon selbstverständlicher Teil guten Designs.

Sebastian Illichmann, Wien
Seitdem Normen und Bauordnungen radikal vereinfacht wurden, macht das Bauen wieder Spaß!

Georg Poduschka, PPAG
Leben und Wohnen im Wandel! Ausgerechnet die Architektur, eine bis dahin erzkonservative Disziplin, hat diese Evolution ausgelöst.

Stephan Ferenczy, BEHF
Wettbewerbe wegen Vermögensvernichtung abgeschafft! EU-Steuerfreibetrag für Architekturleistungen wirkt sich positiv auf gebaute Umwelt aus.

Wolfgang Kaufmann, Linz
Renaissance der Immobilienentwicklung: Politik, Bauherren und Nutzer vertrauen wieder auf Qualität und Lösungskompetenz der Architekten.

Heinz Neumann, Wien
Wow-Architektur ist passé! Die Architektursprache spiegelt den verantwortungsvollen Umgang mit knappen Energie- und Rohstoffressourcen wider.

Sonja Gasparin, gasparin & meier, Villach
Auf dass sich eine riesige Verdaumaschine der schlechten Architektur annehme und der so produzierte Humus immun sei gegenüber Bau-Unkultur!

Bettina Götz und Richard Manahl, Artec Architekten
Aufgrund von Verknappung der Mittel wurde eine ganze Reihe widersinniger Bauvorschriften im Bereich der Normen und Gesetze abgeschafft.

Elke Delugan-Meissl und Roman Delugan, DMAA
Mit der Auflösung heutiger Lebensgewohnheiten wird sich der Wohnraum künftig zu etwas Unlesbarem, Ungeplantem, Herausforderndem verwandeln.

Marta Schreieck, henke und schreieck architekten
Heute ist der Kampf härter denn je. Ich wünsche mir daher, dass der Job in 25 Jahren wieder so viel Spaß machen wird wie vor 25 Jahren.

Michael Anhammer, SUE Architekten
In 25 Jahren schauen wir unverbissen und lächelnd auf unser Werk. Die Haftpflicht hat uns nicht gekündigt. Und es gibt Pension für uns!

Dietmar Steiner, Architekturzentrum Wien
Was soll sich ändern? Und warum?

13. Oktober 2013 Der Standard

Wie Menschen wohnen wollen

Ein Film des Urbanisten Reinhard Seiß macht sich auf die Suche nach dem Geheimnis glücklichen Wohnens abseits der Häuslbauer-Siedlungen.

Der Wohnbau ist die älteste und doch komplizierteste Aufgabe der Architektur. Über die Frage, was genau der Mensch wirklich braucht, um glücklich zu hausen, herrscht zwischen Häuserl im Grünen und Wohnblocks von der Stange keineswegs Einigkeit.

Vier Wohnbauten sind es, die der Stadtplaner und Autor Reinhard Seiß in seinem Film Häuser für Menschen - Humaner Wohnbau in Österreich porträtiert. Darunter vermeintlich Bekanntes wie Harry Glücks Wohnpark Alt-Erlaa in Wien und Roland Rainers Gartenstadt Puchenau bei Linz sowie die „Sargfabrik“ in Wien-Penzing von BKK-2/BKK-3 Architekten und die Wohnanlage Guglmugl in Linz von Fritz Matzinger, die beide unter Beteiligung der Bewohner entstanden.

Bewohner, die sich im Film rundum zufrieden zeigen. Reinhard Seiß erklärt im Interview, was das Wohnen in diesen Bauten so besonders human macht.

STANDARD: Ein zweistündiger Film, der sich vier Wohnbauten widmet. Was macht gerade diese Beispiele so besonders?

Seiß: Ich wollte Best Practices zeigen, die etwas Ikonenhaftes haben, und Architekten, die Pioniere waren und eine eigene Philosophie entwickelten. Und ehrlich gesagt: Sehr viele andere Beispiele wären mir da nicht eingefallen. Natürlich haben auch andere Architekten den einen oder anderen guten Wohnbau gemacht, aber nicht in dieser Konsequenz wie die vier porträtierten Wohnbau-Überzeugungstäter.

STANDARD: Was macht das Wohnen in diesen Häusern so besonders human?

Seiß: Ganz wesentlich sind qualitätsvolle private und gemeinschaftliche Freiräume. Die Sargfabrik hat zum Beispiel einen Dachgarten für alle Bewohner. Ebenso wichtig scheint die Förderung sozialer Kontakte sowie die Möglichkeit, das Wohnumfeld selbst gestalten zu können. Bei Rainer und Matzinger kann das jeder Bewohner in seinem kleinen, aber eigenen Garten tun, Harry Glück stellte den Mietern große Pflanztröge auf die Terrassen - und in der Sargfabrik gestaltet jeder seinen Abschnitt des Laubengangs.

STANDARD: Harry Glück begründet das mit elementaren Bedürfnissen wie der Nähe zur Natur. Verändern sich die menschlichen Grundbedürfnisse nie?

Seiß: Ich halte es schon für etwas hysterisch, wenn es heißt: „Wir leben im Internetzeitalter und brauchen daher einen neuen Typus von Haus, eine neue Form von Stadt!“ Der technische und gesellschaftliche Fortschritt im 20. Jahrhundert vor Einzug des Internets war viel gravierender als das, was seither passiert ist. Unser Versagen heute liegt darin, dass wir es nicht schaffen, diese Modelle entsprechend weiterzuentwickeln.

STANDARD: Fritz Matzinger hat sich von Exkursionen nach Afrika inspirieren lassen, Roland Rainer vom informellen Bauen. Sind diese anthropologischen Zugänge zur Architektur heute selten geworden?

Seiß: Nicht viele Architekten verfolgen einen breiteren philosophischen Ansatz. Forderungen wie „Architektur muss brennen“ zielen eher auf baukünstlerische Effekte ab und lassen Architektur als Selbstzweck erscheinen. Das ist allen vier Architekten im Film fremd, für sie ist das äußere Erscheinungsbild ihrer Bauten zweitrangig. Wobei etwa Roland Rainer trotzdem ein begnadeter Ästhet war, der unglaubliche Raumatmosphären geschaffen hat.

STANDARD: Die Zersiedlung wird von allen Beteiligten im Film stark kritisiert. Ist das Einfamilienhaus also inhuman?

Seiß: Inhuman würde ich es nicht nennen. Es ist eher eine finanzielle Falle, in die viele hineintappen. Das Fatale an den vielen Einfamilienhäusern betrifft ja nicht deren Bewohner, sondern unsere Gesellschaft und vor allem die nachfolgenden Generationen. Sprich, die volkswirtschaftlichen Kosten der ineffizienten Infrastruktur, die ökologischen Folgen der Autoabhängigkeit oder der horrende Bodenverbrauch durch Zersiedlung.

STANDARD: Fritz Matzinger sagt im Film: „Wenn es ordentlichen Wohnbau gäbe, bräuchten wir keine Einfamilienhaussiedlungen.“ Wo muss man da ansetzen?

Seiß: Leider bietet der Immobilienmarkt qualitätvolles Wohnen in verdichteter Form so gut wie nicht an. Die Politik könnte und müsste dies forcieren. Unsere Städte zerfallen mehr und mehr in monofunktionale Wohn-, Konsum-, Büro- und Gewerbegebiete und verlieren damit an Lebensqualität.

STANDARD: Ist der Trend zu Baugruppen wie in der Seestadt Aspern ein Schritt in die richtige Richtung?

Seiß: Ja, und es ist ein bedenkliches Zeugnis für die Wohnbauträger, dass immer mehr Menschen dazu bereit sind, mehrere Jahre lang Zeit und Engagement in die Entwicklung eines Wohnbaus zu investieren, anstatt eine schlüsselfertige Wohnung zu übernehmen.

STANDARD: Zeigen die vier Beispiele, dass Tucholskys „Villa im Grünen mit großer Terrasse, vorn die Ostsee, hinten die Friedrichstraße“ doch kein Ding der Unmöglichkeit ist?

Seiß: In substituierter Form, ja. Alt-Erlaa ist vielleicht das eindrucksvollste Beispiel für die Möglichkeit einer solchen Synthese aus Stadt und Land. Es handelt sich weder um ein klassisches urbanes Grätzel noch um das herkömmliche Wohnen im Grünen, aber beides wird hier mit nur geringen Abstrichen geboten.

STANDARD: An welche Zielgruppe richtet sich der Film - angehende Häuslbauer oder Fachpublikum?

Seiß: Zuerst hatte ich die Dokumentation für ein breites Publikum konzipiert. Mittlerweile denke ich aber, dass der Film auch den professionellen Wohnbau-Akteuren etwas zu sagen hat. Die Kritik der im Film interviewten Architekten zumindest zielt nicht so sehr auf die Häuslbauer als auf den eigenen Berufsstand ab.

verknüpfte Publikationen
- Häuser für Menschen

28. September 2013 Der Standard

Raue Kleider für den eleganten Kern

Salzburg-Kasern hat sich in den letzten Jahren zum Modestandort für Großhandelskunden entwickelt. Das Gusswerk-Areal setzt dabei auf Industriehallen im Loft-Look und urbane Mischung statt Monokultur.

Salzburg - Dort, wo Salzburg im Nordosten langsam ins ländliche Hügelland übergeht, wächst seit einigen Jahren eine ganz spezielle Monokultur heran. Im Ortsteil Kasern, in unmittelbarer Nähe der Westautobahn, hat sich ein Cluster an Modeunternehmen angesiedelt, die sich vor allem an Großhandelskunden wenden, die auf übersichtlichem Raum auf das Angebot dutzender bekannter und unbekannter Labels zugreifen können.

Während der Großteil dieser insgesamt neun Fashion-Foren auf der grünen Wiese entstand, hat sich ein Unternehmen am südlichen Rand auf einen speziellen Look spezialisiert: Mode im Industrieloft. Auf dem Gelände der ehemaligen Glockengießerei fanden die Investoren Michael Mayer, Marco Sillaber und Erich Walketseder von der Gusswerk Eventfabrik GesmbH einen gut nutzbaren Baubestand vor, der sich mit überschaubarem Aufwand zum Showroom adaptieren ließ. Die Gießerei Oberascher war 1919 in den Ortsteil Kasern gezogen, bis 2003 wurden hier Glocken gefertigt. Nach der Pleite des Industriebetriebs bot sich die Kreativindustrie als Nachnutzerin des preisgünstigen Areals geradezu an.

„Es gab einige Firmen und Labels, die speziell das Industrielle gesucht haben“, erklärt Geschäftsführer Marco Sillaber. „Räume mit rauem Loftcharakter, die architektonisch im Hintergrund bleiben, damit sich der Kunde auf die Mode konzentrieren kann. Gerade für Großkunden ist das attraktiv“. Zur Adaptierung der Bauten wurde 2004 ein geladener Architektenwettbewerb ausgeschrieben, dessen Sieger die Fabrikhallen um jeweils ein bis zwei Bauteile in zeitgemäß edel-industriellen Materialien ergänzten.

„Es sollten keine hübschen, aufwändig herausgeputzten Bürogebäude mit 2,50 Metern Raumhöhe sein, sondern echte Lofts, mit Materialien wie Sichtbeton und transluzenten Glaslamellen“, so Sillaber. 2008 wurde die Zusammenarbeit mit dem Österreichischen Bauherrenpreis ausgezeichnet. „Man kommt dorthin und fühlt sich nicht in Österreich, schon gar nicht in Salzburg. Eher am Rand einer großen europäischen Stadt“, urteilte damals die Jury über das raue Ensemble.

Die rund 15.000 Quadratmeter Fläche waren bald vergeben, die Nachfrage blieb jedoch ungebrochen. Im August 2012 wurde nach knapp einjähriger Bauzeit mit demselben Architektenteam (CS-Architektur, Hobby A, LP Architekten, Strobl Architekten) die nächste Stufe des Gusswerks fertiggestellt. Rund 13 Millionen Euro nahm man dafür in die Hand, insgesamt 28.500 Quadratmeter vermietbare Nutzfläche stehen nun zur Verfügung. Die Einheiten umfassen 150 bis 800 Quadratmeter, die Mietpreise betragen je nach Lage und Ausstattung 10-15 Euro/ m², alternativ dazu gibt es eine Kaufoption, rund ein Viertel der Kunden hat davon Gebrauch gemacht.

„Es handelt sich vom Typ her nicht um eine Mall, sondern die einzelnen Firmen finden sich in ihren eigenen Bereichen wieder“, so Geschäftsführer Sillaber. „Jedes Objekt ist von außen erkennbar, nicht irgendwo versteckt. Jeder hat seinen eigenen Eingang. So wird für die Firmen eine Adresse geschaffen“.

Und da die Kreativindustrie nicht gut als Monokultur gedeiht, finden hier neben der Modebranche auch Gastronomie, Unternehmen aus der Werbebranche und eine „Hotel-Design-Werkstatt“ für Hoteliers und Architekten Platz. Daneben versucht man mit Events die Stadtbewohner ins Modeviertel zu locken.

Ein Jahr nach der Eröffnung des letzten Bauteils zeigen sich die Betreiber zufrieden - bis auf wenige Restflächen ist man auch hier ausgelastet. Raum für die nächste Stufe wäre vorhanden: „Wir haben noch etwa 7800 Kubikmeter gut auf dem Areal, das sind etwa 2200 Quadratmeter Nutzfläche“.

Mit dem Bau will man aber noch warten - schließlich haben die Gusswerk-Betreiber schon das nächste Industrieobjekt entdeckt: die ehemalige Panzerhalle der Struberkaserne in Salzburg-Maxglan, deren 10.000 Quadratmeter zurzeit in multifunktionale Industrielofts umgebaut werden.

28. September 2013 Der Standard

Bühne frei für das Familienstück!

Einfamilienhaus klingt einfach - doch eine Familie ist eine komplexe Sache. Wie man sie dennoch unter einen Hut bringt, zeigt ein täuschend einfaches Haus von FRANZ Architekten.

Eichgraben - Ein eigenes Haus baut man sich nur einmal, heißt es oft. Wie aber gelingt es, dass ein Haus alle möglichen Konstellationswechsel von Klein- zur Großfamilie und wieder zurück bewältigt, ohne teure, aber ungenutzte Kubikmeter zu produzieren? Erwin Stättner hat sich genau diese Gedanken gemacht, als er mit Frau und kleinem Kind von Wien aufs Land ins niederösterreichische Eichgraben zog. Da er praktischerweise selbst Architekt ist (Büro FRANZ, mit Sitz in Wien), hat er die Lösung gleich umgesetzt. „Wir haben ein kleines altes Haus gesucht, denn wenn ein Architekt sein eigenes Haus komplett selbst plant, braucht das Jahre, und wir wollten rasch einziehen.“

Nicht lange danach kam das zweite Kind, ein Jahr später das dritte. Die Bauherrenmutter bot sich zur Betreuung an und brauchte daher auch zumindest einen temporären Wohnraum. Ein Anbau musste her.

Nach eineinhalb Jahren Planen, Finanzieren und Bauen war es 2012 so weit: Eine knapp über der Grasnarbe schwebende, mit diagonalen Holzlamellen verkleidete Box hat sich dem simplen Satteldachhaus dazugesellt. Dafür war ein Stück Eigenleistung vonnöten: Die Holzfassade, die sich sogar über Dach und an der Unterseite um die Box wickelt, entstand mit tatkräftiger Hilfe der Kollegen. Insgesamt sechs Kilometer Holzlatten wurden ausgemessen, zugeschnitten und montiert.

Das sieht von außen einfach aus, birgt aber eine Flexibilität, die eine ganze Menge familiärer Zukunftsszenarien in sich aufnehmen kann. Szenario Gegenwart: drei Kinder, die in einem 90-Quadratmeter-Spielzimmer herumtollen, darunter eine Einliegerwohnung für die Großmutter.

„Das Erdgeschoß kann später in vier Zimmer geteilt werden“, erklärt Bauherr-Architekt Erwin Stättner, „es hat Anschlüsse für Hochbetten und Bäder, im Boden gibt es eine Sollbruchstelle für eine Stiege ins Untergeschoß und in der Wand für eine Tür in den Garten.“ Clevere Bautechnik im Dienste der Nestwärme: Schließlich soll den Kindern in allen Phasen des Aufwachsens der richtige Raum geboten werden.

„Der Altbau ist ein bescheidenes Haus, dafür sollten die Kinder im Zubau mehr Platz haben, damit sie vielleicht länger bei uns bleiben“, so Stättner. Zurzeit schlafen die Kinder, wenn sie des Spielens müde sind, noch im Altbau unterm Dach, Bauherr und Gattin in einer Nische im Stiegenhaus.

Für die nächsten Schritte ist die Bühne bereit - auch eine Praxis für die Frau des Bauherrn, von Beruf Ärztin, ist möglich. „Man kann die Zukunft nicht vorausplanen, also muss das Haus eben alle Stücke spielen können.“

Ein Jahr nach dem Einzug kündigt sich schon der nächste Akt im Familienstück an: Die älteste Tochter wird zum zehnten Geburtstag nächstes Jahr ihr eigenes Zimmer bekommen. Weitere Bewegungen auf der Bühne werden folgen. Irgendwann, so Erwin Stättner, gebe es dann vielleicht nur noch den Kühlschrank als verbindendes Element zwischen dem Altbau-Nest und der Box für den flügge werdenden Nachwuchs.

7. September 2013 Der Standard

Hinaufgeflogen aus Ruinen

Städte schrumpfen und wachsen, erfinden sich neu. Die Soziologin Anne Power erklärte beim Forum Alpbach, was „Phoenix Cities“ sind.

Wachsende und schrumpfende Städte waren das Thema der diesjährigen Baukulturgespräche beim Europäischen Forum Alpbach. Anhand des akuten Problemfalls Detroit und ausfransender Siedlungsteppiche in Mitteleuropa diskutierten die Fachleute zwei Tage lang darüber, wie man dieser gegenläufigen Trends Herr werden kann.

Die britische Professorin Anne Power forscht seit Jahrzehnten an der London School of Economics über Städte, Wohnungsnot und Armut. 2010 veröffentlichte sie das Buch Phoenix Cities über den Fall und Wiederaufstieg europäischer Industriestädte. Mit dem STANDARD sprach sie in Alpbach über Stadterneuerung, Supermaterialien und Martin Luther King.

STANDARD: Ihr Buch über europäische Industriemetropolen trägt den Titel „Phoenix Cities“. War der Begriff Ihre eigene Idee?

Power: Ja. Die Symbolik des Vogels, der nach Jahrhunderten zu Asche zerfällt und vorher ein goldenes Ei legt, hat mich sehr fasziniert. Ich habe die Mythologie recherchiert, von Ägypten bis Harry Potter. Es ist einfach ein schönes Bild für Städte. Es kommt auch besser an als „kämpfende Städte“ oder „Weak Market Cities“.

STANDARD: Was versteht man unter „Weak Market Cities“?

Power: Städte, die früher von einer bestimmten Industrie dominiert waren, die jetzt scheinbar verschwunden ist. Schiffswerften, Stahlwerke, Logistikzentren, Textilmanufakturen. Sie haben also ihre wesentliche Basis verloren.

STANDARD: Wie können diese Industriemetropolen zu selbsterneuernden Phönixstädten werden?

Power: Das kommt darauf an. Sheffield und Lille waren schon im 19. Jahrhundert industrialisiert, in italienischen Städten wie Turin zum Beispiel passierte das erst in den 1950er-Jahren. In Bilbao ist die Erneuerung am besten gelungen, weil die Stadt schon immer kleine Unternehmen hatte und dazu einen starken Finanzsektor. Städte, die eine solch vielfältige Wirtschaft haben, erholen sich schneller als die, die nur auf ein Pferd gesetzt haben.

STANDARD: Fällt das größeren Städten leichter?

Power: Man kann hier keine klare Grenze ziehen, aber im Großen und Ganzen tun sich Städte unter 100.000 Einwohnern schwerer als Großstädte. Am schwierigsten ist es bei diesen „hingeklotzten Orten“, wie ich sie nenne, also Gegenden, in denen die Regierung beschlossen hat, zusätzliche Wohngebiete hinzustellen. Diese Orte erneuern sich schwer, weil sie kein Evolutionsbewusstsein haben und sich nirgendwo zugehörig fühlen.

STANDARD: Wird sich die Geschichte von Niedergang und Erneuerung in den heute stark industrialisierten Ländern wie China wiederholen?

Power: Das passiert jetzt schon. In China gibt es heute Städte, die genau das sind, was unsere Industriestädte vor 30 Jahren waren, zum Teil ist ihre Infrastruktur jetzt schon veraltet. Städte im Pearl River Delta leiden unter Umweltverschmutzung und problematischen Arbeitsverhältnissen. Manche Industrien wandern schon nach Thailand, Bangladesch oder Malaysia ab. Also: Ja, der Wandel ist dort nur eine Frage der Zeit. Man kann mit Ausbeutung von Ressourcen auf lange Sicht keine Industrie erhalten.

STANDARD: Sind Umweltfragen für die Städte heute wichtiger als früher?

Power: Wir waren vor kurzem im Ruhrgebiet, wo die alten Stahlwerke von den Chinesen auseinandergebaut und nach China abtransportiert wurden. Die Ruhr war 150 Jahre lang biologisch tot - und wenn die Chinesen uns das nachmachen, wird es ihnen ökologisch genauso ergehen. Das ergibt aber wirtschaftlich keinen Sinn.

STANDARD: Warum?

Power: Es gibt im Englischen die schöne Redensart „Mit dem Vorschlaghammer eine Nuss knacken“. Das heißt, man benutzt ein viel zu schweres Werkzeug. Wir haben das in den Zeiten der industriellen Revolution genauso getan. Heute wissen wir es besser. Sheffield und Manchester sind heute Zentren des Advanced Manufacturing.

STANDARD: Was versteht man darunter?

Power: Das heißt, es wird immer noch Stahl hergestellt, aber er ist optimiert und hochtechnisiert, fast unzerstörbar! Man kann ihn präzise schneiden und braucht dadurch weniger Rohstoffe.

STANDARD: Haben Europas Städte also noch einen Vorsprung durch Technik?

Power: Ja. Viele unserer Städte haben sehr alte und einflussreiche Universitäten. Die haben einfach weiter Ingenieure produziert, auch als es keine Industrie mehr gab. Irgendwann hat man entdeckt, dass das ein Vorteil sein kann. Lille, Bilbao und Turin haben gesponserte Arbeitsstätten eingerichtet, um die klügsten Absolventen in der Stadt zu halten. Die Tradition hat sich also ungebrochen erhalten. Das Resultat sind Stadtverwaltungen und Universitäten, die mit der industriellen Vergangenheit verbunden sind und sie zukunftsfähig machen. So kam es, dass in Manchester das Supermaterial Graphen erfunden wurde.

STANDARD: Sind Europas Metropolen also geborene Phönixstädte, die sich selbst erneuern, oder wäre hier auch ein Schicksal möglich, wie es Detroit zurzeit erlebt?

Power: Dafür gäbe es hier gar keinen Platz! Ein Grund, warum Detroit so viele Einwohner verloren hat, ist, weil es drumherum so viel Raum gibt, in dem man sich ansiedeln kann. Und jedes Haus, das dort in den Suburbs gebaut wird, benötigt enorm viel Land, wenn man die Infrastruktur berücksichtigt! Deshalb gibt es in Großbritannien seit dem 19. Jahrhundert Grüngürtel, um die zusammenwachsenden Städte zu trennen. Wir sind eine dicht bevölkerte Insel und können uns keine Zersiedelung leisten. In Kontinentaleuropa ist das nicht viel anders.

STANDARD: Waren Städte und Wohnen schon immer Ihr Forschungsthema?

Power: Wenn man in Stadtvierteln mit niedrigem Einkommen wohnt, schreit einen die Armut geradezu an. In den 1960er-Jahren lebte ich in Chicago, und es war absolut furchtbar. Die Wohnung voller Küchenschaben, die Müllabfuhr streikte, vor dem Fenster sprangen die Ratten im Hof auf Bergen von Abfall herum.

STANDARD: Sie haben in Chicago auch mit Martin Luther King zusammengearbeitet.

Power: Ich studierte an der Universität von Wisconsin und bekam mit, wie schlimm es um die Slums und Ghettos in Chicago stand. Ich wollte nicht nach England zurückkehren, ohne diese Seite Amerikas zu verstehen. Das war 1966, auf dem Höhepunkt der Bürgerrechtsbewegung. Es gab Demonstrationen für besseren Wohnraum und Gleichberechtigung der Schwarzen. Martin Luther King begann seine Kampagne gegen Slums, als wir dort waren, also haben wir uns beteiligt. Die repressiven Kräfte und die Rassentrennung waren aber zu stark. Als ich nach Europa zurückkam, wollte ich verhindern, dass hier das Gleiche passiert.

STANDARD: In London forschen Sie über die Armut der Wohnbevölkerung. Wie gravierend sind dort die Probleme durch die enorm gestiegenen Wohnkosten im Stadtzentrum?

Power: Die Abwanderung an den Stadtrand ist nichts Neues. Im Osten Londons kostet das Wohnen auch nicht mehr als im nationalen Durchschnitt. Es geht eher um die Frage, wo die Leute leben wollen, und Familien mit Kindern ziehen eben gerne an den Stadtrand. Es gibt aber auch einen starken Trend in die andere Richtung, also den Zug zurück in die Stadt. Man sieht: Die Stadt hat auch hier die Kraft, sich zu erneuern.

Publikationen

2017

Willst du wirklich wohnen wie deine Mutter?

Willst du wirklich wohnen wie deine Mutter? Die Ausstellung ist ein Plädoyer für den Fortschritt in Architektur, Wohnungsbau und Städtebau. Wie wir wohnen ist nicht unseren Genen geschuldet, wie wir wohnen ist ein über Generationen an gelerntes Verhalten, dessen Weiterentwicklung von der Dauerhaftigkeit
Hrsg: Kristin Feireiss, Hans-Jürgen Commerell
Autor: Maik Novotny, Kristin Feireiss, Kaye Geipel, Anna Popelka, Georg Poduschka
Verlag: PPAG, Aedes Architekturforum

2014

PPAG: Speaking Architecture
Phenomenology / Phänomenologie

Ein Elefantenhaus, ein Wohnberg, ein Dorf am Dach. Eine offene Schullandschaft, ein barockes Parkhaus, ein silbern schimmernder Windkanal. Das Wiener Büro PPAG architects, 1995 von Anna Popelka und Georg Poduschka gegründet, denkt Architektur mit Scharfsinn, Lust und Erfindergeist immer wieder neu. Ihr
Hrsg: Maik Novotny
Autor: Anna Popelka, Georg Poduschka, PPAG
Verlag: Ambra Verlag

2007

Eastmodern
Architecture and Design of the 1960s and 1970s in Slovakia

Eastern modernist architecture of the 60’s and 70’s is moving away from the specialized focus of international architecture debates and becoming a subject of discussion within the broader context of general interest. The excellent photos in the book convey the flair of an era in which planning was obviously
Autor: Maik Novotny, Hertha Hurnaus, Benjamin Konrad
Verlag: SpringerWienNewYork