Bauwerk

Elbphilharmonie Hamburg
Herzog & de Meuron - Hamburg (D) - 2016
Elbphilharmonie Hamburg, Foto: Markus Kaiser
Elbphilharmonie Hamburg, Foto: Markus Kaiser

Spinnen irren nicht

Die HafenCity Hamburg ist die größte Baustelle Europas. 15 lange Jahre werden Bagger und Kräne noch ihre Runden drehen, doch schon jetzt geht die Retortenstadt an der Elbe mit Beispiel voran.

20. September 2008 - Wojciech Czaja
Wenn es dunkel wird, macht sich Anja Nioduschewski auf den Weg. Gummihandschuhe, Einmachglas und Pinzette gehören zur Grundausstattung der gelernten Biologin. Lange muss sie nicht suchen. Nach wenigen Schritten beugt sie sich zum Brückengeländer, stülpt das Glas übers Spinnennetz und fängt den fetten Achtbeiner ein. „Das ist aber ein großes Weibchen“, stellt Nioduschewski mit Begeisterung fest - und ab ins Labor.

Die Brückenspinne, lateinisch Larinioides sclopetarius, ist wahrscheinlich das Allerletzte, an das die Projektentwickler und Investoren der HafenCity in Hamburg gedacht haben. Doch mittlerweile ist das neue Stadtviertel an der Elbe von Abermillionen Arachniden bevölkert, ja regelrecht in Besitz genommen. Sie wohnen zwischen Geländerstäben, in Mauernischen und Lüftungsrohren oder lauern in bester Lage im direkten Lichtkegel der Laternen.

Im Auftrag der Investoren sucht Nioduschewski nun nach physikalischen, chemischen und baulichen Maßnahmen, um die Spinnenplage einzudämmen. Ziel ihrer Untersuchungen ist es, einem möglichen Wertverlust der Grundstücke frühzeitig entgegenzuwirken. Aussichtsreichste Bekämpfungsstrategie ist der großflächige Einsatz von Natriumdampf-Lampen, deren warmes, gelboranges Licht sämtlichen Insekten und Spinnentieren ein Gräuel ist.

„Die Brückenspinnen sind ein marginales Thema“, beruhigt Jürgen Bruns-Berentelg, Vorsitzender der Geschäftsführung der HafenCity Hamburg GmbH, Spinnen habe es in der Hafengegend immer schon gegeben. „Natürlich versuchen wir, das Aufkommen der Tiere ein wenig einzudämmen, doch als Problem würde ich das nicht bezeichnen. Die einzige Herausforderung besteht darin, dass die Bewohner ihre Fenster wahrscheinlich öfter putzen müssen, als sie es anderswo gewohnt waren.“

Schon heute zählt die HafenCity Hamburg 1500 Einwohner. Nach Fertigstellung des neuen Stadtteils in den Jahren zwischen 2020 und 2025 wird es hier rund 5500 Wohnungen geben. Hinzu kommen 40.000 Arbeitsplätze, ein Schiffsterminal, zahlreiche Einkaufsmöglichkeiten und diverse Kultureinrichtungen wie das Science Center von Rem Koolhaas oder die Elbphilharmonie von Herzog & de Meuron (siehe BIld).

Damit ist die HafenCity die größte Baustelle Europas, geplant und ausgetüftelt von Städteplanern, Architekten, Soziologen, Designern und Immobilienmaklern. Die Gesamtinvestition beläuft sich, über Jahrzehnte verteilt, auf 5,5 Milliarden Euro.

Öffentliche Verantwortung

Eine völlig neue Stadt in der Stadt? Wer schon mal in Brasília oder in einer Retortenstadt heutiger Tage gestanden hat, der weiß, dass der Neubau ganzer Städte nichts Gutes zu verheißen mag. Schauderhafte Leere macht sich breit, der Mensch wird zum Handlanger der Utopisten, von städtischer Lebendigkeit keine Spur.

„Natürlich besteht wie in jedem neu gebauten Stadtviertel die Gefahr, dass eine sterile Urbanität entsteht“, erklärt Bruns-Berentelg auf Anfrage des Standard, „doch genau aus diesem Grund haben wir diesem Umstand auf breiter Basis vorgebeugt.“ Anders als in einer künstlichen Retorte schafft man hier einen Stadtteil, der an die bestehende Innenstadt angeknüpft ist. Zwei Stationen mit der neuen U-Bahn-Linie U4, an der gerade gebuddelt wird, und schon ist man mitten im Zentrum.

Die wichtigste Errungenschaft ist jedoch die Tatsache, dass Hamburg seiner ureigentlichen Aufgabe als Stadt in bester Manier nachgekommen ist. Sowohl Stadtregierung als auch die HafenCity Hamburg GmbH ließen bei den öffentlichen Gemeinschaftsplätzen und beim Gesamtbild der neuen Hafenstadt nicht locker. Projektentwickler und Investoren wurden vertraglich dazu verpflichtet, für jedes einzelne Gebäude einen eigenen Wettbewerb auszuschreiben.

Zeitgemäße Energiekonzepte dürfen dabei ebenso wenig fehlen wie hieb- und stichfeste Nutzungsvorschläge für die Erdgeschoßzone. „Wir haben darauf geachtet, dass im Erdgeschoß gemischte Nutzungen vorgesehen werden, die nicht nur dem Einzelhandel dienen“, so der HafenCity-Geschäftsführer. „Wir wollen keine Monostrukturen und auch keine Indoor-Shoppingflächen ohne jeden Bezug zum Außenraum.“

Damit die „Gentrification“, also die künstliche Aufwertung und Preissteigerung des Viertels, nicht schon beginnt, bevor die HafenCity überhaupt fertiggestellt ist, wird ein Teil des Mietwohnbaus für bestimmte Zeit eingefroren. Damit ist die Leistbarkeit mittelfristig sichergestellt.

„Wir bieten im Wohnsegment ein großes Spektrum und möchten damit unterschiedliche Bevölkerungsgruppen ansprechen“, sagt Jörn Walter von der Hamburger Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt. Natürlich seien die Vorgaben für Investoren sehr spekulativ. Sollte die Vermietung zu wünschen übrig lassen, werde die Stadtregierung in die Bresche springen und selbst Büroflächen anmieten. Das ist der Deal.

Die Resonanz auf die HafenCity ist zum großen Teil positiv. Der Spiegel und Die Welt, Arte und 3sat berichten regelmäßig von der Baustelle an der Elbe. Kritik bleibt freilich nicht aus. Zu teuer, zu leblos, zu durchkomponiert. Und dann auch noch die Spinnen.

Jürgen Brus-Berentelg bleibt gelassen: „Ein erstes repräsentatives Bild wird man sich erst im Sommer 2010 machen können, wenn der erste Bauteil fertig sein wird. Aber Sie brauchen nur an einem Wochenende durch die HafenCity spazieren gehen, und Sie werden sehen, was für ein Brückenschlag hier gelungen ist.“

Menschen sitzen auf den Stufen, tanzen argentinischen Tango und brettern mit Skateboards über die Brüstungen. Für ein Areal, über das sich noch für lange Zeit täglich neuer Baustellenstaub legen wird, ist das ein verblüffend gutes Zeugnis.

Zu verdanken ist das nicht zuletzt den sogenannten „weichen Faktoren“. Denn nicht nur an Häusern wird hier emsig gebaut, sondern auch an einer regen Nachbarschaft. Den Bewohnern wurde der Aufbau sozialer Organisationen angeboten. Mittlerweile gibt es in der Elb-Retorte Sportvereine, Kulturforen und Spielverbände. Die Grundschule, die kommendes Jahr eröffnet, wird in den Abendstunden als Community-Center dienen.

Lernen aus alten Fehlern

Gibt es Ängste, dass man eines fernen Tages über das Hamburger Projekt ähnlich denken wird wie heute über Astana, Brasília und Chandigarh? „Dass man in 50 oder 60 Jahren durch die HafenCity geht und mit Entsetzen an den Bau dieser Stadt zurückdenkt, schließe ich kategorisch aus. Wir sind auf einem völlig anderen Wissensstand als damals und sind sehr behutsam und interdisziplinär an die Bauaufgabe herangegangen.“

Eine Stadt kann niemals perfekt sein. Schon gar nicht, wenn sie innerhalb kürzester Zeit nach Plan wachsen muss. Mit großer Gewissheit kann man davon ausgehen, dass trotz allen Wissensfortschritts auch heute noch massive Fehler begangen werden. Erkennen wird man sie erst in Jahrzehnten.

Aber eines kann man jetzt schon sagen: Das Schlimmste wurde abgewehrt. Denn die Vorgehensweise der Stadtregierung und der Projektentwickler ist weltweit einzigartig. Viele Städte könnten sich daran ein Beispiel nehmen. So schlecht kann das Leben in der neuen HafenCity nicht sein. Der Großteil der Bevölkerung hängt schon längst in ihren Netzen und will nicht fort von hier.

Eine Baustelle erwacht zum Leben. Die neue HafenCity Hamburg ist zwar erst in Teilen besiedelt und bewohnt, doch ein netter Sonntagsspaziergang und eine argentinische Milonga sind schon drin. Fotos: HafenCity Hamburg GmbH, Elbe & Flut

Gibt es Ängste, dass man eines fernen Tages über das Hamburger Projekt ähnlich denken wird wie über Astana, Brasília oder Chandigarh? - Nein, das schließe ich kategorisch aus.

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