Bauwerk

Rolex Learning Center
SANAA - Lausanne (CH) - 2009
Rolex Learning Center, Foto: Hisao Suzuki
Rolex Learning Center, Foto: Hisao Suzuki

Nouvelle Vague

Seit Februar dieses Jahres ist das nach dem Hauptsponsor benannte Rolex Learning Center der Eidgenössischen Technischen Hochschulen auf dem Campus in Ecublens bei Lausanne in Betrieb. Die Architekten Kazuyo Sejima und Ryue Nishizawa (Sanaa) haben einen Bau realisiert, der in Bezug auf räumliche Innovation international seinesgleichen sucht. Das Publikum hat ihn mit grosser Selbstverständlichkeit angenommen.

25. Juni 2010 - Judit Solt
Das im Mai offiziell eingeweihte Learning Center der EPFL hat nicht nur eine gewellte Form, es schlägt seit dem 2004 durchgeführten internationalen Wettbewerb (vgl. TEC21 1-2/2005) auch sonst immer wieder Wellen. Nach Bekanntgabe des Siegerprojekts von Sanaa gab es Stimmen, die bedauerten, dass kein Schweizer Büro das Prestige-Objekt entwerfen solle. Als das Budget von 60 auf 110 Millionen Franken erhöht wurde – wobei Sponsoren aus der Privatwirtschaft die zusätzlichen Kosten übernahmen –, sprach man von Masslosigkeit und Amerikanisierung. Während der Realisierungsphase schliesslich sorgte die aufwendige Bauweise für Irritationen. Der Boden des 166.5 m × 121.5 m grossen, eingeschossigen Gebäudes wurde fugenlos betoniert, was ein kontinuierliches Giessen über zwei Wochen hinweg bedeutete. Er ist nicht eben, sondern wirft zwei grosse Blasen, die sich als flache Schalenkonstruktionen über den Baugrund erheben; die 70 vorgespannten Kabel, die zur Stabilisierung dieser Konstruktionen nötig sind, führen bei der Betondecke des Untergeschosses zu einer statischen Höhe bis zu 80 cm (vgl. «Bodenwellen» S. 23); trotz diesen Verstärkungen konnte auf zwei Stützen unter der grösseren Schale nicht verzichtet werden.

Weil der grossflächige Betonboden und die Stahl-Holz-Decke sich unter klimatischen Einflüssen ungleich bewegen, sind die raumhohen, teilweise gewölbten Glasfassaden unterschiedlichen Kräften ausgesetzt; daher musste jede Scheibe einzeln zugeschnitten werden und bewegt sich unabhängig von den anderen in einem gefugten Rahmen (vgl. S. 30).

Zahllose neue Details wurden entwickelt, um die architektonische Vision verwirklichen zu können. Der komplizierte Kräftefluss, der hohe Armierungsgrad des Betons und die vielen Speziallösungen lösen denn auch Diskussionen aus: Wie wird ein solcher Bau altern? Wie soll er unterhalten, saniert, bei Bedarf umgebaut werden? Hat sich der technische Kraftakt gelohnt?

Besteht man auf der Einheit des Werks als stringente Synthese seiner technischen, ökonomischen und kulturellen Aspekte, sind solche Fragen berechtigt. Doch Angesichts der wirklich ausserordentlichen räumlichen Qualitäten des Learning Center ist eine etwas angestrengte Tragstruktur durchaus zu rechtfertigen. Aus architektonischer Sicht – und, viel wichtiger, aus Sicht der Nutzerinnen und Nutzer – heiligt der Zweck in diesem Fall die Mittel.

Öffentlichkeit und informelle Treffpunkte

Auf Wunsch des Auftraggebers sollte das Learning Center zum Begegnungsort für die EPFL und die benachbarte Universität Lausanne werden. Aus diesem Grund entschieden sich Kazuyo Sejima und Ryue Nishizawa – als einzige unter den Architektenteams der Schlussrunde – für einen Bau, in dem alle Nutzungen auf der gleichen Ebene untergebracht sind. Ein weiteres wichtiges Anliegen war, unterschiedliche Nutzungen und verschiedene Grade an Öffentlichkeit zu ermöglichen. Der Bau dient nicht nur Angehörigen der beiden Hochschulen, sondern auch Ehemaligen und Interessierten; neben der Bibliothek mit 500 000 Bänden enthält er unter anderem auch Arbeitsplätze für 860 Studierende, eine Sammlung wertvoller Bücher, eine Café-Bar, ein Restaurant, Büros und einen Mehrzwecksaal mit 600 Sitzplätzen. All diese Bereiche galt es zu differenzieren, ohne den offenen Charakter des Gebäudes zu relativieren.Mit einer ähnlich komplexen Aufgabenstellung – einerseits klar definierte und teilweise sensible Nutzungen, andererseits die Möglichkeit zwangloser Begegnungen innerhalb des gleichen Gebäudes – waren Sanaa beim 2005 eröffneten 21st Century Museum of Contemporary Art in Kanazawa konfrontiert. In Japan wird der städtische Aussenraum traditionell nicht als Aufenthaltsort genutzt, Strassencafés gibt es nicht; öffentliche Räume im europäischen Sinn, wo man zwanglos länger bleiben kann, sind auch in modernen Städten kaum zu finden.

Entsprechend frequentiert sind halböffentliche Innenräume wie Malls, die sich am ehesten als informelle Treffpunkte anbieten. Die Schaffung von öffentlich zugänglichen Innenräumen mit hoher Aufenthaltsqualität ist deshalb ein wiederkehrendes Entwurfsthema von Sejima und Nishizawa, das sie im Museum in Kanazawa eindrücklich umgesetzt haben: Der kreisrunde, rundum verglaste und von Innenhöfen durchlöcherte Bau weist vielfältige Innenund Aussenbereiche auf, in denen sich nicht nur Museumsbesucher dankbar niederlassen. An der EPFL war die Situation insofern vergleichbar, als der bestehende Campus kaum attraktive Aufenthaltsräume bietet und das Learning Center dieses Manko kompensieren sollte. In Ecublens gingen die Architekten jedoch konzeptuell weiter als in Kanazawa. Während die allseitige Zugänglichkeit beim Museum durch vier periphere Eingänge gelöst wurde, hat das Learning Center einen einzigen, im Herzen des Gebäudes angeordneten Eingang, und auch die Idee eines offen fliessenden Raums konnte hier radikaler umgesetzt werden. Ermöglicht wurde dies durch das Wellen und partielle Anheben des Gebäudes: Unter den Schalen stösst man bis zum Eingang vor, im Inneren gliedert die künstliche Topografie den Raum und macht Wände weitgehend überflüssig.

Einladendes Raumkontinuum

Der im Modell spektakuläre Bau wirkt, wenn man sich ihm in der Realität nähert, eher zurückhaltend. Er ist deutlich niedriger als seine Nachbarbauten. Dass er sich teilweise vom Boden erhebt, erlebt man als Besucher nicht als ingenieurtechnische Parforceleistung, sondern als höfliches Ausweichen – als ob jemand den Eingang eines Zeltes hochheben und mit einladender Geste zurücktreten würde. Unter den Schalen öffnet sich ein gefasster Raum, der von allen Seiten zum Eingang führt. Es ist aber auch möglich, weiterzugehen und dasGebäude zu unterqueren; dies ist ein Grund, warum es trotz seiner beachtlichen Grundfläche nicht als Barriere in Erscheinung tritt.

Auch im Inneren ist die Bewegungsfreiheit kaum eingeschränkt. Man spaziert über Hügel und Täler, nimmt bei Bedarf schräg fahrende Aufzugsplattformen und lässt sich nieder, wo es einem gefällt. Wände gibt es keine – einzig die Büros, Besprechungszimmer und Infrastrukturräume sind als geschlossene «Bubbles» ausgebildet. Weil Boden und Decke sich parallel heben und senken, entstehen mehr optische und akustische Schranken als in einer natürlichen Landschaft: Obwohl die durchgehenden Flächen das ungehinderte Fliessen des Raumes andeuten, sieht man zum Beispiel nicht von einem Hügel auf den nächsten und hört kaum, was in der Ebene vor sich geht. Dies trägt zusammen mit den 14 unterschiedlich grossen Patios, die für Orientierung und natürliches Licht sorgen, entscheidend dazu bei, verschiedenen Zonen die notwendige Abgeschiedenheit zu verschaffen. Um ein angenehmes Raumklima zu gewährleisten, kamen zusätzliche Massnahmen zum Einsatz. So fungiert die Decke im ganzen Gebäude als grossflächiges Akustikelement, an den höchsten Stellen über der Bibliothek und dem Restaurant wurde sie zusätzlich als Kühldecke ausgebildet (vgl. «Technik nach Mass» S. 28). Ansonsten wird der Bau, der den Minergiestandard erfüllt, natürlich belüftet und durch aussen liegende Rafflamellenstoren verschattet. Das funktioniert verblüffend gut: Die Bibliothek beispielsweise mag sich auf einem Hügel befinden, doch selbst mittags ist nichts von den Gerüchen und Gesprächen der unten befindlichen Café-Bar wahrnehmbar.

Wenige Wochen nach der Eröffnung haben die Menschen den Bau vollständig in Besitz genommen. Die künstliche Topografie, die das Raumkontinuum von der zweiten in die dritte Dimension hebt, ist ein architektonisches Ereignis – aber ein harmonisches, leise anregendes. Das sanfte Wogen generiert Räume, die weltweit einzigartig sind und jedoch ganz natürlich wirken. Genau so nehmen sie die Nutzerinnen und Nutzer wahr: Überall sitzen und liegen sie, an Tischen und auf Kissen, lesend, diskutierend, arbeitend, schlafend. Ein besseres Aushängeschild für eine erfolgreiche Schule kann es nicht geben.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

Akteure

Architektur

Bauherrschaft
École Polytechnique Fédérales de Lausanne

Tragwerksplanung

Fotografie