Bauwerk

Rolex Learning Center
SANAA - Lausanne (CH) - 2009
Rolex Learning Center, Foto: Hisao Suzuki
Rolex Learning Center, Foto: Hisao Suzuki

Lernen im fliegenden Teppich

Ein Gebäude wie eine Dünenlandschaft, ein Innenraum, der nicht durch Wände gegliedert ist: das Rolex Learning Center in Lausanne. Eine Meisterleistung, in der die Benutzer zu Wanderern und Entdeckern werden.

17. April 2010 - Christian Kühn
Als Kazuo Sejima, die Direktorin der heurigen Architekturbiennale in Venedig, im Jänner das Thema dieser architektonischen Großveranstaltung bekannt gab, war die Architekturszene einigermaßen verdutzt. „People meet in architecture“ – ist das nicht das banalste Motto, unter dem die Biennale je gestanden hat? Jedenfalls besaßen frühere Biennalen eindeutig mehr Zug ins Utopische: Aaron Betskys „Out there – Architecture beyond building“ 2008, Kurt W. Forsters „Metamorph“ 2004, Deyan Sudjic' „Next“ 2002, Hans Holleins „Sensing the Future – The Architect as Seismograph“ 1996. Immer ging es um die Zukunft, um die Überform, um den nächsten Trend.

Und jetzt plötzlich dieser Aussagesatz: „People meet in architecture.“ Auch die Erklärung, die Sejima in ihrem Pressestatement zu ihrem Konzept liefert, klingt nicht gerade weltbewegend: „Die Idee ist, Menschen zu helfen, eine Beziehung zur Architektur aufzubauen, der Architektur zu helfen, sich auf Menschen zu beziehen, und Menschen zu helfen, Beziehungen untereinander aufzubauen.“

Sejima ist die erste Frau als Direktorin der Biennale und – nach einer Reihe von Theoretikern und Kritikern – wieder eine praktizierende Architektin. Dass sie mit ihrem Thema eine gezielte Herausforderung der männlichen Seismografen und Trendsetter beabsichtigt, darf man mit einigem Recht vermuten, hat sie doch alle früheren Direktoren der Biennale eingeladen, für je einen „Architektursamstag“ zur Verfügung zu stehen. Bei Vorträgen und Diskussionen werden die Herren dabei gewissermaßen selbst zu Ausstellungsstücken.

Dass man eine solche Einladung von Kazuo Sejima nicht ausschlagen kann, ist spätestens seit Ende März klar, als sie gemeinsam mit ihrem Partner Ryue Nishizawa, mit dem sie seit 1995 ein gemeinsames Büro unter dem Namen Sanaa (Sejima and Nishizawa and Associates) betreibt, den Pritzker-Preis zugesprochen bekam, quasi den Nobelpreis für Architektur. Die Jury begründete ihre Entscheidung unter anderem damit, Sejima und Nishizawa seien „cerebral architects“, also Architekten mit Hirn. Das ist auf den ersten Blick etwas überraschend, gibt es doch von den beiden Architekten so gut wie keine theoretischen Äußerungen. Dennoch widerlegen Sanaa die verbreitete Meinung, gute Architektur sei eine Sache des Bauchgefühls. Ihre Projekte sind – wiederum ein Zitat aus der Jurybegründung – „das Ergebnis strenger Recherche und starker, klar ausformulierter Konzepte“. Dass diese Konzepte nicht als Text entwickelt werden, sondern in Dutzenden von Modellstudien und Varianten, macht sie nicht weniger „cerebral“, sie folgen aber ihrer eigenen, jeweils aufs Projekt zugeschnittenen Logik.

In ihrer bisherigen Entwicklung hat Sejimaeinige erstaunliche Wendungen genommen. Noch Anfang der 1990er-Jahre konstatierte ihr Mentor Toyo Ito angesichts eines ihrer Projekte, des Frauenwohnheims in Kumamoto, ihre Architektur sei „ein Diagramm des Lebensstils unserer modernen Zeiten“. Das Wohnheim inszeniert die Widersprüche dieses Lebensstils: Japanische Dichte und der Mangel an individuellem Freiraum im Grundriss des Wohngeschoßes werden in Kontrast gesetzt zu einem luftigen „Überbau“, großzügig in der Vertikalen und differenziert im Raumzuschnitt. In späteren Projekten, etwa ihrem 1994 entworfenen Wohnbau in Gifu, dem Projekt, mit dem Sejima internationale Bekanntheit erlangte, verschwinden alle Polaritäten in einer Großform, deren Feingliederung jedoch durch die raffinierte Zusammenschaltung identischer Grundelemente eine enorme Bandbreite an Wohnformen anbietet.

Heute lässt sich die Architektur von Sejimaund Nishizawa nicht mehr als Diagramm vonLebensstilen interpretieren. Sie ist zu einem Medium geworden, das vieles offen lässt unddamit zu Experimenten herausfordert, an deren Ende vielleicht geänderte Lebensstile stehen. Ein exemplarisches Projekt in dieser Hinsicht ist das Anfang des Jahres eröffnete Rolex Learning Center der École Polytechnique im Schweizerischen Lausanne, für das Sanaa 2004 den Wettbewerb gewannen. Sie setzten sich dabei gegen Rem Koolhaas, ZahaHadid und Herzog & De Meuron durch, derenBeiträge ausnahmslos als Wahrzeichen konzipiert waren, als weithin sichtbare Großskulpturen mit komplexen Innenwelten für das geforderte Raumprogramm: eine Bibliothek mit Arbeitsplätzen für knapp 900 Studierende, ein Auditorium für 600 Personen, Café und Restaurant, Seminarräume, eine Buchhandlung und ein Forschungszentrum für neue Medien in der Lehre.

Statt in die Vertikale zu gehen, haben Sanaa alle diese Funktionen auf einer einzigen Fläche untergebracht, die das gesamt Grundstück überdeckt, ein Rechteck im Ausmaß von 166 mal 122 Metern, so groß wie drei Fußballfelder, durchbrochen von runden Lichthöfen. Allerdings ist diese Fläche nicht eben, sondern wie eine leicht gewellte Hügellandschaft angelegt, wodurch der Eindruck eines fliegenden Teppichs entsteht, in und unter dem sich die Nutzer des Gebäudes frei bewegen können. Wo der Teppich vom Boden abhebt, entstehen Durchgänge zu den Lichthöfen, von denen aus das Gebäude betreten wird.

Der Innenraum wird nicht durch Wände gegliedert, sondern durch die Topografie mit ihren Hoch- und Tiefpunkten. Selbst das Auditorium ist ein Teil dieser Dünenlandschaft, kann allerdings mit einer mobilen Trennwand geschlossen werden. Technisch ist das Bauwerk eine Meisterleistung, die sich nicht zuletzt dadurch auszeichnet, was es alles nicht gibt: keine Rasterdecke mit Leuchtstoffröhren, keine Brandschutzwände, keine Sprinkleranlage. Die Benutzer werden in diesem Bau zu Wanderern und Entdeckern. Wo der Hügel zu steil wird, gibt es Aufstiegshilfen, die alle Bereiche auch barrierefrei erschließen.

Der Eindruck dieser offenen Lernlandschaft wirkt wie ein Kommentar zu Sejimas Biennale-Thema „People meet in architecture“. Dieser Raum ist ein Katalysator für Beziehungen, ohne sie zu erzwingen. Er schafft eine gemeinsame Welt, die aber nichtvereinheitlicht, sondern zur Differenzierung geradezu einlädt. Vielleicht muss man Sejimas Satz nur ein wenig anders lesen, damit er an Sprengkraft gewinnt: „Wo Menschen sich begegnen, dort ist Architektur“ Man wird bei der Biennale diskutieren können, ob man mit dieser Definition weiter kommt als mit der Anbetung der spektakulären Form. Wenn sich diese Definition durchsetzt, ist Sanaa mit dem Rolex Learning Center jedenfalls ein Meilenstein in der Architektur der 21. Jahrhunderts gelungen.

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