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TEC21 2009|47
Norm versus Innovation?
TEC21 2009|47
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Bauen im Kultur- und Klimawandel

Baukultur und Kulturgeschichte des Bauens gäbe es nicht, wenn nicht zahlreiche Gesellschaft en in allen Kulturregionen und Klimazonen seit je ihre Lebensweise und ihre Kulturtechniken dem ständigen kulturellen Wandel, den veränderten Umweltbedingungen und ökonomischen Möglichkeiten angepasst hätten. Nachhaltiges Verhalten angesichts der heute zunehmend komplexeren, extremeren und unberechenbareren Veränderungen kann nicht die Verfestigung des Gewohnten und Genormten bedeuten, sondern erfordert transkulturelles Lernen ebenso wie die Entwicklung mutiger Visionen.

20. November 2009 - Ulrich Pfammatter
Zuerst stellt sich eine Verständnis- bzw. Verständigungsfrage: Ist mit «Nachhaltigkeit» im Bauen die bauliche «Dauerhaftigkeit» gemeint? Ist die vitruvianische Forderung nach «firmitas» noch aktuell? Müssen oder sollen wir massiv bauen, um es dem Bestand gleichzutun, der mit 500- bis 1000-jährigen Gebäuden aufwarten kann? Mobilität, Flexibilität und Adaptabilität sind heute nicht nur Zeichen der Zeit, sondern konkrete (freiwillige oder erzwungene) Lebenshaltungen. Welche Gebäudetypen, Siedlungsmuster und urbanen Szenarien passen zu einem solchen Kulturwandel?

Wie leben wir in 10, 20, ... 50 Jahren?

Diese Frage stellt sich, wenn wir die übliche Definition von Nachhaltigkeit heranziehen. Chris Luebkeman von Arup hat zu den brennenden Problemfeldern in einem umfangreichen Katalog kritische Fragen gestellt und dazu Fakten über Entwicklungstendenzen zusammengetragen. Die Fragen sind nicht beantwortet, nur gestellt. Sie inspirieren zum Denken und Handeln. Einige der Fragestellungen treffen den Nerv im Bereich des Bauens (vgl. nebenstehenden Kasten).

Politische Formeln oder Ressourceneffizienz?

Für die politische Debatte ist es einfacher, mit einprägsamen Formeln zu operieren, beispielsweise mit «CO2», «Stromlücke», «Supergau», «Nullenergie», «Zero-Carbon», «Kioto» etc. Damit kann mobilisiert, Freund und Feind unterschieden und das Profil von Person, Partei und Staat geschärft werden. Im Gegensatz dazu erfordern Strategien, die der Sache und einer professionellen Behandlung der Probleme gerecht werden, differenziertere Muster und Modelle des Denkens und Handelns. So kann in einem Fall die Standortfrage im planerischen Szenario den Ausschlag für nachhaltige Wertschaffung geben, in einem anderen Fall der konstruktive Typus eines Gebäudes oder auch der soziokulturelle Nutzen, die langen Transportwege eines speziellen Baustoffes oder dessen Herstellungsverfahren, schliesslich die Lebensdauer einer industriellen Anlage oder deren Lebensverlängerung durch Umnutzung und Transformation. Ist es sinnvoll, alles über den Leisten «carbon neutral» zu schlagen? Wer hat schon die graue Energie eines AKW berechnet? Warum soll nicht alles daran gesetzt werden, die unendliche Verfügbarkeit von Sonnen-, Wind- und Erdwärmeenergie auszuschöpfen, wie dies im aktuellen, zweiten «Stern-Report»[1] im Hinblick auf die Uno-Klimakonferenz in Kopenhagen postuliert wird? Ist unsere Bautechnik gut beraten, mit immer dickeren Wärmedämmungen und dichteren Wänden Bauschadenpotenziale zu erzeugen, die man mit verkappten Klimaanlagen (kontrollierte Raumlüftung oder Komfortlüftung) auf Hightech-Niveau bekämpfen muss? Müsste die Forschung nicht fokussieren auf die Effizienz räumlich-funktioneller Szenarien, auf Raumklima-Zonierungskonzepte und ressourceneffiziente, hybride konstruktive Typo logien bezüglich Tragsystemen und schlanker Gebäudehüllen? Über die Wirksamkeit neuer Materialien, Composites und Technologien forscht beispielsweise die Empa vorbildlich.

Energieeffizienz - eine „nationale Frage“?

Die unterschiedlichen Lebensstandards und Instrumente zur Bewertung nachhaltiger Strategien in den verschiedenen Ländern verdeutlichen, dass je nach Kulturregion und klimatischer Betroffenheit auch andere Vorstellungen darüber existieren, was Nachhaltigkeit im Bauen bedeutet. Dazu kommen Faktoren wie historische Hintergründe, wirtschaftliche Entwicklung, Einflüsse von Denkschulen etc., welche die abweichenden Standards, Labels und Normen prägen. So gilt in den USA das LEED-System mit LEED Silber, Gold oder Platinum als «Gütesiegel» und nachhaltige Messlatten. In Deutschland wird das Gütesiegel DGNB als Hilfestellung, Bewertungsgrundlage und Planungsmethodik-Tool angewendet. In England wurde 1990 das BREEAM-Tool eingeführt (vgl. nebenstehenden Kasten). In der Schweiz kennt man Minergie, Minergie-P und Minergie-(P)-Eco (vgl. Kasten S. 54) diverse Einzel zertifizierungen etc.

Mit allen Instrumenten wird beabsichtigt, konkret bewertbare und kontrollierbare Aussagen zu einzelnen Gebäuden, Gebäudeteilen und Leistungen zu formulieren und «gute Noten» auch zu zertifizieren. Die Auslegeordnung[3] zeigt einerseits, dass die Standards, Zertifizierungen und Labels national festgelegt sind und unterschiedliche Schwerpunkte und Gewichtungen implizieren; andererseits verdeutlicht sie auch die offenkundige Unmöglichkeit einer «universellen Formel». Daher auch die verschiedenen Interpretationen, was denn «Nach haltigkeit» im Bauen bedeuten soll.

What's next?

Betrachtet man den Stand der Dinge heute, wie er hierzulande mit Minergie als höchster Zielstufe (statt als Ausgangspunkt für weitergehende Entwicklungen) verstanden und gehandhabt wird, fragt man sich, was nachher kommen wird.[4,5] Zero-Energy und Plus-Energie sind geschickte Kombinationen verfügbarer Techniken. Vielleicht wird man auch durch genaues Studium der Energieeffizienz natürlicher Phänomene Neuland beschreiten.[6] Das «Nächste» hingegen, das uns in 10, 20 oder 50 Jahren beschäftigen wird, kann oder muss «gedacht» werden.

Während das Hier und Jetzt («the now») von gewohnten multidisziplinären Teams und Instituten bearbeitet und das Neue («the new») durch interdisziplinäre Denkschulen entwickelt wird, erfordert die Vision von Kommendem («the next») transdisziplinäres Denken und «learning companies». Während die aktuell verfügbaren Kulturtechniken in der Architektur (ressourceneffiziente Konstruktionen, energieeffiziente Bauweisen, leistungsoptimierte Materialien und massgeschneiderte Technologien) vor 10, 20 Jahren als «new» entwickelt worden sind, drängt die Entwicklung nach Neuem, nicht nach Verfestigung des Gewohnten und Genormten. Jede Generation hat ihre Erfahrungen und Vorstellungen von Normen, wie z.B. das Erdbebenwisssen illustriert. Die Erneuerung dauert nochmals eine Generation – wir sind also immer zwei Generationen im Rückstand, wenn wir nicht laufend das aus Forschung und Experiment generierte Wissen umsetzen.

Die Institutionalisierung von Forschung und Entwicklung, deren Apparate und Agenturen sind geeignet, Neues zu erarbeiten. Die Finanzierungsinstrumente und Bewertungskriterien stehen jedoch oft auf Stufe «now». Deshalb zeigt das Studium der Baukultur- und Bautechnikgeschichte, dass epochenprägende und zukunftsweisende Erfindungen, Entwicklungen, Projektansätze und Experimente vielfach ausserhalb des institutionalisierten Geschehens generiert und später adaptiert worden sind, nachdem der soziale Nutzen gesellschaftliche Akzeptanz fand bis hin zur normativen Festsetzung. Die Beispiele im nebenstehenden Kasten sind Resultate mutiger Teams, Projektgemeinschaften und Denkschulen und stiessen anfänglich auf institutionalisierten Widerstand oder zumindest Skepsis, im besten Fall auf Interesse, bis sie den Beweis der Machbarkeit angetreten, die für den «state of the art» zuständigen Kommissionen überzeugt und schrittweise kulturelle Akzeptanz erreicht haben. Zum Zeitpunkt der Normsetzung sind dann meist schon weitergehende Ansätze im Experimentierstadium oder in der «Nullserie».[7]

An den Bauschulen müssten spezielle Experimentierangebote geschaffen werden, um innovative Arbeit an Zukunftsproblemen zu ermöglichen. Diese Workshops dürften nicht Teil des «Bologna-Systems» sein, da dieses solche Aktivitäten tendenziell einspart.[8] Wer solche Workshops, Seminarien und Studios erfolgreich besucht, erhält ein «supplement», eine qualitative Auszeichnung, die Auskunft gibt über Thema, Inhalt, Ziele, Standort und Team sowie Leistung und Erkenntnisse des Innovationsworkshops. Hier ginge es nicht um Produkt-, sondern Methodikentwicklung, Wissensgenerierung und Denkschulung.

„Huge Scale - High Speed“

Da wir es in Zukunft sowohl mit grossmassstäblichen Problemfeldern als auch schnellen Reaktionszeiten auf Kultur- und Klimawandel zu tun haben werden (z.B. urbane Wachstumsund Schrumpfungsszenarien, globale Einflüsse regionaler Umweltereignisse, Transformation der Energiequellen), scheint es angezeigt, die methodischen Prozesse zur Wissensgenerierung und die planerischen Umsetzungsstrategien den Erfordernissen der Zeit anzupassen: 1. Denken und Handeln in zukunftsfähigen Szenarien, ähnlich dem früheren Übergang vom «Städtebau zur Stadtentwicklung»; 2. Anpassung der Baukultur an die Bedürfnisse der «Risikogesellschaft» und der neuen «patterns of life in motion»;[9,10] 3. Transkulturelles Lernen von regional wirkungsvollen Kulturtechniken bezüglich Referenzumwelten, Risiken und Gefahren (auch «man-made»), soziokulturellen und ökonomischen Potenzialen, ressourceneffizienter Werteschaffung usw.[11] Dank finanziellen, personellen und Know-how-Ressourcen kann die Schweiz mit ihren Bauschulen, Forschungsinstitutionen, Entwicklungsabteilungen von Industrieunternehmungen sowie mit neuartigen innovativen Denk- und Experimentierlabors zur Modellbildung beitragen – für eine Kultur der Nachhaltigkeit im weitestmöglichen Sinne.


Anmerkungen:
[01] Nicholas Stern: Der Global Deal. Wie wir dem Klimawandel begegnen und ein neues Zeitalter von Wachstum und Wohlstand schaffen. München 2009
[02] Bsp. 26, in: Drivers of Change. London 2006 (Hg. Chris Luebkeman, Director for Global Foresight & Innovation, mit Jennifer Greitschus, Arup London); 2., erweiterte Auflage, London 2008
[03] Vgl. dazu DETAIL Green, Nr. 1/2009
[04] Vgl. «Architektur im Klimawandel», in: archplus Nr. 184 v. Okt. 2007
[05] Vgl. «Ökologisch bauen», in: archithese Nr. 4/2004
[06] Vgl. «Natur inspiriert Technik», in: TEC21, Nr. 37-38/2009
[07] Ausnahmen bilden Institutionen privater oder öffentlicher Art, die grosszügig grundlegende und zukunftsweisende Forschungen und Experimente dank üppigen Fundraising-Geldern (falls sie nicht spekulativ angelegt werden…) fördern
[08] Vgl. Beitrag «Abschied von Faust? Studieren in Bologna-Zeiten» von Bernd Roeck, Professor an der Uni Zürich, in: NZZ v. 6.10.09, S. 21
[09] Vgl. Ulrich Beck: Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit. Frankfurt a. M. 2007
[10] Vgl. Naomi Klein: Die Schock-Strategie. Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus. Frankfurt a. M. 2007
[11] Ulrich Pfammatter: In die Zukunft gebaut. Bautechnik- und Kulturgeschichte von der Industriellen Revolution bis heute / Building the Future. Building Technology and Cultural History from the Industrial Revolution until Today. Prestel Verlag München, Berlin, London, New York 2005/2008, Kap. 6
[12] Luscher Architectes SA, Lausanne, Airlight Ltd., Biasca, und Daniel Willi SA, Montreux (Ingenieure); vgl. TEC21 Nr. 26/2005, S. 4–7

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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