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TEC21 2009|47
Norm versus Innovation?
TEC21 2009|47
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Vom Haus im Haus zur Stadt im Haus

Der Merker-Park in Baden von Zulauf & Schmidlin Architekten ist verdichtet und verwinkelt, verengt sich und dehnt sich aus wie eine mittelalterliche Stadt – gebändigt durch systematische Aneinanderreihung und Stapelung. Die Dichotomie erfasst den ganzen Bau bis hin zum Energiekonzept: Dieses erfüllt die Anforderungen an den Minergie-P-Standard beim Verbrauch, nicht aber bei der Hülle.

20. November 2009 - Rahel Hartmann Schweizer
Der Wohnungsbau «Merker-Park» ist nach dem «Gelben Viereck» der zweite Baustein der Neuplanung auf dem Gelände der ehemaligen Fabrikationsanlagen der Firma Merker in Baden (siehe TEC21, 23/2009, «Baden gehen»). Auf der Rückseite des Gelben Vierecks erstreckt sich das Gelände, das einst die Hallen des Email-Werks besetzten. Weil sie denkmalpflegerisch nicht als schützenswert eingestuft wurden – diverse Umbauten hatten ihre Integrität beeinträchtigt, und auch die Bausubstanz erwies sich als schlecht –, stand ihrem Abbruch nichts entgegen.

Planerisch lagen Zulauf & Schmidlin Architekten zwei Grundlagen vor: Der Entwicklungsrichtplan «Baden Nord» von Diener & Diener und der Gestaltungsplan aus dem Jahr 2003. Von Seiten des Bauherrn, der Merker Liegenschaften AG, gab es ebenfalls zwei vordringliche Prämissen: Es sollte ein energetisch sinnvolles Gebäude entstehen mit Eigentumswohnungen unterschiedlicher Grösse, von denen keine preislich die Millionengrenze überschreiten durfte. Es sollten also sowohl Alleinstehende und Familien als auch Alte und Junge die eigenen vier Wände erwerben können. Die städtebauliche Situation schliesslich war wiederum durch zwei Hauptfaktoren charakterisiert: Das Grundstück liegt mitten in der Stadt und in komfortabler Fussgängerdistanz zum Bahnhof sowie einerseits in unmittelbarer Nähe zum Alten Friedhof an der Bruggerstrasse, einem Grün- und Naherholungsraum, andererseits angrenzend an die rückwärtige Wohnsiedlung von Burkhard Meyer Architekten.

Planerisch

Der Entwicklungsrichtplan etablierte quasi de jure jene faktische Grenze, welche die Hangkante bildet, zwischen der Baustruktur am Hang des Martinsberges und der Ebene entlang der Bruggerstrasse: Am Hang findet sich ein kleinteiliges städtebauliches Muster, in der Ebene dominiert die Grossform. Daran orientierten sich Zulauf & Schmidlin, propagierten städtisches, verdichtetes Wohnen, definierten den Merker-Park entsprechend als der Stadt zugehörig und planten ihn als Grossform. Was den Gestaltungsplan aus dem Jahr 2003 betrifft, so reduzierte die Bauherrschaft den Druck auf die Nutzung, die 9000 m² BGF erlaubt hätte, auf deren 7000 m². Dadurch konnten die Architekten das ursprüngliche Projekt mit 64 Wohnungen auf eines mit 45 redimensionieren.

Energetisch und ökonomisch

Zu Beginn der Planung stand fest, dass der Neubau mit möglichst wenig Energie auskommen sollte. Den Architekten schwebten die Kriterien der 2000-Watt-Gesellschaft vor. Nach den positiven Erfahrungen beim Gelben Viereck zogen sie auch für den Neubau die Waldhauser Haustechnik AG bei, die ein differenziertes Konzept erarbeitete (vgl. Kasten S. 49). Um die Energiesparmassnahmen nicht durch den Aufwand an grauer Energie zu neutralisieren, luden die Architekten fast ausschliesslich lokale Unternehmer – mit wenigen Ausnahmen aus dem Kanton Aargau – zur Submission. Wie beim Gelben Viereck die Mietzinse limitierte der Bauherr hier die Verkaufspreise, und zwar auf unter 1 Million Franken. Erreicht haben die Architekten Preise von 415 000 bis 895 000 Franken (möglich ist dies auch, weil das Land nur im Baurecht abgegeben wird).

Städtebaulich: Struktur

Der Entscheid für die Grossform mündete in einem einzigen, 27 m tiefen und 70 m langen Baukörper mit fünf oberirdischen Geschossen und einem Untergeschoss mit Einstellhalle – die Bahnhofsnähe war mit ein Grund für den Verzicht auf mehr als einen Parkplatz pro Wohnung. Mit dieser Konzentration spielten die Architekten einen ausgedehnten rückwärtigen Grünraum frei. Diesen Park mit dem angrenzenden Alten Friedhof an der Bruggerstrasse zu verweben, war die landschaftsgestalterische Option. Der 1821 im noch unverbauten Haselfeld als katholischer Friedhof angelegte, ab 1875 auch von der reformierten Kirche zur Bestattung genutzte Gottesacker wurde Anfang der 1950er-Jahre aufgegeben – nicht zuletzt, weil die umgebende Industrie die Abgeschiedenheit vermissen liess, deren solche Stätten bedürfen. Dennoch zeigt die Anlage noch fast den originalen Zustand. Das Verwunschene der einzelnen, teilweise halb zerfallenen Grabsteine und Skulpturen, die als Überreste von Grabbepflanzungen wuchernden Sträucher und der alte Baumbestand werden kontrastiert von den streng aufgereihten, kegelförmig geschnittenen Eiben. Der Friedhof hat sich denn zum Naherholungsraum gemausert und ist ein wichtiges Puzzlestück im Grünraum- und Naherholungskonzept der Stadt geworden.[1] Um den städtischen Grünraum nicht abreissen zu lassen, drängte sich die Verknüpfung des Merker-Parks mit dem Alten Friedhof denn auch geradezu auf.

Städtebaulich: Materialisiserung

Optisch wird der Bau zwischen der Siedlung von Burkhard Meyer Architekten und dem Gelben Viereck eingebettet. Der an Mergel erinnernde warme Ton des Kalksteinbetons vermittelt zwischen dieser und dem «Gelben Viereck». Ausserdem ermöglichte er dem Credo nachzuleben, den bewussten Umgang mit Energie nicht mit langen Transportwegen zu torpedieren, stammt der Beton doch aus dem aargauischen Kleindöttingen.

Architektonisch: strikt und variabel

Das architektonische Konzept besticht durch seine Einfachheit – erzielt mit spielerischer Strenge, mit komplexer Konsequenz. Das Paradox wird sich auflösen: Orientiert man sich an der vertikalen Entwicklung des Baukörpers, ist er aus 5 zusammengeschobenen Häusern mit je 9 Einheiten konzipiert. Zwischen diesen Häusern liegen vier nahezu quadratische Atrien (7 × 6 m), die für natürliche Belichtung sorgen. Sie gaben aber auch das Maximum der Höhe von fünf Geschossen vor. Die horizontale Gliederung weist drei Schichten auf: Die Wohnzimmer sind nach Süden, zu Merker-Park und Martinsberg orientiert, die Schlafzimmer liegen auf der Nordseite und bieten die Aussicht auf das Gelbe Viereck. Dazwischen schiebt sich die Erschliessungs-, Sanitär- und Technikschicht. Sie umfasst die Treppenhäuser und Lifte, die Atrien, die Nasszellen, die Technikräume sowie Entrées und Studios. Der verglasten Fassade sowohl auf der Nord- als auch auf der Südseite vorgelagert ist eine 70 cm tiefe Balkonschicht, vor die sich eine Haut aus perforierten Aluminiumfaltläden ziehen lässt, die auch bei den Atrien als Sicht- und Blendschutz dienen. Die Perforierung nimmt sich wie ein Morse-Code aus und balanciert zwischen optimalem Sichtschutz und maximaler Lichtdurchlässigkeit.

Das Erdgeschoss beherbergt fünf 2 ½-Zimmer-Wohnungen, das 1. bis 4. Geschoss je eine 6-, eine 5-, zwei 5 ½-, vier 4 ½- und zwei 3 ½-Zimmer-Wohnungen – insgesamt eben 45 Wohnungen. Trotz unterschiedlicher Anzahl der Zimmer sind einige Grössen konstant: Mit Ausnahme der 2 ½-Zimmer-Wohnungen im Erdgeschoss sind Wohnen/Essen (36 m²), Küche (10 m²), Bad (9 m²) und Loggia (13 m²) sowie das Studio (14 m²) – ausser die an den Kopfenden liegenden 5- und 6-Zimmer-Wohnungen, die keinen Anschluss an ein Atrium haben – in allen Wohnungen gleich dimensioniert. Variabel gestalten liessen sich somit die Abmessungen der Gebäudeschicht auf der Nord-Ost-Seite, deren Gliederung in Schlafzimmer und mithin die Wohnungsgrössen. Bei grösserer Nachfrage nach 6-Zimmer- Wohnungen beispielsweise hätte eines der Schlafzimmer der 4 ½-Zimmer-Wohnung neben der 5-Zimmer-Randwohnung dieser zugeschlagen werden können. Im Modell präsentierte sich das Gebäude denn auch als ein Baukasten, dessen «Klötze» zu ganz unterschiedlichen Kombinationen gefügt werden konnten und erst mit den Ingenieurplänen definitiv komponiert werden mussten (Abb. 11). Gebändigt wird das Spiel durch das strikte Regime der Schottenbauweise, die bedingte, dass jeweils die gleichen Wohnungsgrössen übereinander zu liegen kamen, und eben die «Sturheit» des Kerns. Dessen ver steifende Funktion haben die Architekten kenntlich gemacht, indem sie Treppenhaus und Lifttüren mit einem anthrazitfarbenen Anstrich versahen.

Stadtstruktur

Die Aneinanderreihung von fünf Häusern machen den Bau zu einem Haus im Haus. Es ergibt sich eine Art Patchwork, ein Verweben der Räume sowohl in Nord-Süd- als auch in Ost-West- Richtung. Die Zimmer von jeweils verschiedenen Wohnungen, um ein gemeinsames Atrium gruppiert, und die spannungsreiche Abfolge der Zimmerfluchten innerhalb einer jeden Wohnung mit Verengungen und Ausdehnungen machen den Bau zu einer Stadt im Haus. (Dass eine der KäuferInnen das Bild vielleicht etwas arg wörtlich genommen und die Wände eines jeden Zimmers mit einem andern Farbton versehen liess, spricht nicht gegen die Konzeption.)

Sozial

Die nachbarliche Nähe ist gewissermassen eine «übereck» Geführte: Diejenigen Nachbarn, deren Wohnungen gleichsam Tür an Tür liegen, die sich also das Treppenhaus teilen und sich dort treffen, können einander nicht in die Wohnung sehen, weil sie kein gemeinsames Atrium haben. Umgekehrt begegnen sich die Bewohner, die über die Atrien visuellen Kontakt haben, nie im Treppenhaus.

Die Befürchtung, die Bauherrschaft könnte auf den Atriumwohnungen sitzenbleiben, weil sie den geringsten Sichtschutz gegenüber den Nachbarn bieten – im Gegensatz zu den Kopfwohnungen –, bewahrheitete sich nicht: Im Gegenteil, sie waren zuerst verkauft.

Analog zur Dichotomie auf der baulichen Ebene zwischen Verdichtung und «Entgrenzung»/ Auflockerung, zwischen Starrheit und Variabilität werden auch die nachbarschaftlichen Beziehungen in der Schwebe gehalten zwischen Intimität und Anonymität. Letztere «entlädt» sich dann eher in Kollektivität, wenn auch die Wohnungen im Erdgeschoss keinen direkten Zugang zum Park haben. Sie sind künstlich angehoben und bilden eine Art Hochparterre. Gleichsam als Schwelle, auf der der private Raum überschritten und in den gemeinsamen Raum getreten wird, sind sie über Stufen mit dem Park verbunden.

Hier lässt sich das Spiel zwischen dicht und transparent ebenfalls – in einer Variation – verfolgen. Die Architekten haben das Erdgeschoss nicht «ausgewrungen». Zu den 2 ½-Zimmer- Wohnungen gesellen sich die Velounterstände, die von einem «Gatter» ummantelt werden, bestehend aus Holzstäben, die zu einer Ziehharmonika ähnlichen Struktur gefügt und mit einem anthrazitfarbenen Anstrich «entmaterialisiert» wurden.

Vielfalt in der Einheit

Auch im Innern haben die Architekten das Konzept der Variabilität innerhalb eines Rasters durchsetzen können. Erreicht haben sie dies, indem sie etwa einheitliche Schrank- und Raumtrennelemente entwarfen, dann aber die Wahl zwischen verschiedenen Schliessmechanismen bzw. verschiedenen Kombinationen (Regale, Schubladen etc.) liessen. Ebenso offerierten sie die Möglichkeit, die Räume gänzlich offen zu lassen, sie mittels Raumtrennelementen partiell oder mit konventionellen bzw. Schiebetüren ganz zu schliessen. Einheitlichkeit erzielten sie ausserdem mit der gemeinsam mit dem Küchenbauer erarbeiteten Küche mit Kochinsel, Sideboard und grosszügiger Schrankwand, die alle Eigentümer übernahmen. Obwohl Manche zum Teil durchaus ins Auge fallende Modifikationen angebracht haben, erweist sich die Ausstattung als derart robust, dass sie diese «schluckt», ohne ihre Integrität einzubüssen.

Mit Ausnahme der erwähnten Wohnung, in der alle Räume verschiedene Farben tragen, und einer anderen, in der Le Corbusiers Farbpalette Einzug hielt, dominieren der Weissputz der Wände und die roh belassenen oder lasierten Betondecken. Auch das vorgeschlagene geölte Eichenparkett schwang obenauf – wenn auch zuweilen in der dunkleren Tönung des geräucherten Holzes. Urständ feiert die Individualität nur in den Badezimmern, wo das von den Architekten bevorzugte graue Steinzeugmosaik sich leider nicht gerade als Renner erwies. Wichtiger für den äusseren Ausdruck des Baus werden aber die Vorhänge sein. Auch das haben die Architekten nicht dem Zufall überlassen und frühzeitig mit verschiedenen Pastelltönen (Steinweiss, Kartäusergelb, Lindengrün, Muskatblüte, Tabakbraun) am Modell experimentiert. Die Chancen stehen gut, dass sich die Eigentümer auf die von den Architekten vorgeschlagene Farbpalette einlassen. Wenn die Wohnungen dann gleichsam ihr Inneres nach aussen kehren, wird sich die Einheit des Farbenspektrums in der Vielfalt seiner Rhythmisierung auflösen.

Dicht und locker, repetitiv und spielerisch

In der durch repetitive Aneinanderreihung und Stapelung gebändigten Struktur des Merker- Parks verbirgt sich die Verdichtung einer mittelalterlichen Stadt mit engen, verwinkelten Gassen, die sich unvermittelt auf Plätze öffnen. Analog funktioniert die Transparenz: Die Monotonie der Verglasung wird gebrochen durch die Komplexität der Sichtbeziehungen innerhalb der Wohnungen und der «Häuser».


Anmerkung: [01] Quelle: www.baden.ch/documents/Alter_Friedhof.pdf

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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