Zeitschrift

TEC21 2010|40
Mülimatt
TEC21 2010|40
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Krustentier und Vogel

Ein imposantes Betonfaltwerk überspannt die Sportanlage Mülimatt in Brugg/Windisch von Vacchini Architekten und Fürst Laffranchi Bauingenieure. Die Falten changieren zwischen V- und -förmig und erzeugen ein optisches Paradox, eine Kippfigur. Der Bau hat die Leichtigkeit eines Origami und die Beweglichkeit eines Akkordeons. Er ändert seine Gestalt je nach Blickwinkel und Tiefenschärfe, sodass er oszilliert zwischen Monolith und Welle, zwischen Massivität und Leichtigkeit, zwischen Geschlossenheit und Transparenz.

1. Oktober 2010 - Rahel Hartmann Schweizer
Livio Vacchini und seine Tochter Eloisa gewannen 2005 den Wettbewerb um die beiden Dreifachturnhallen zusammen mit Fürst Laffranchi Bauingenieure. Nach dem Tod ihres Vaters 2007 hat Eloisa Vacchini das Projekt nun als ersten realisierten Baustein der «Vision Mitte»1 zu Ende geführt. Die Ausschreibung umfasste neben der Sporthalle auch einen Velo- und Fussgängersteg über die Aare, um die Hallen mit den Sportanlagen im «Schachen» zu verbinden. Da die Jury das Brückenprojekt der zweitrangierten Zulauf & Schmidlin und Conzett, Bronzini, Gartmann bevorzugte (vgl. «Spannband über die Aare», S. 27), wurde nur der Auftrag für die Halle dem Studio Vacchini und den Ingenieuren Fürst Laffranchi erteilt .

Römisches Legionslager und Forum Vindonissa

Den Bau der Dreifachturnhalle des Berufs- und Weiterbildungszentrums der Stadt Brugg und die Dreifachturnhalle für den Fachhochschulsport zwischen Aare und Bahndamm unter einem Dach zu vereinen, hat zunächst historische Referenzen: das Forum in Vindonissa einerseits und ein römisches Legionslager andererseits. Die von den Architekten im Wettbewerb zur Illustration dieser Bezugnahme gewählte Abbildung zeigte den Grundriss des Lagers Novaesium (Neuss). In Mülimatt umfasst die «Mauer» die durch bespielbare Trennwände unterteilbare Halle der Fachhochschule und die mit einer Tribüne ausgestatteten Hallen für die Stadt Brugg, die mittels PVC-«Vorhängen» voneinander separiert werden können. Und die kleinmassstäblichen, vom Foyer «umarmten» Räume unterhalb der Turnhallen – Gymnastiksäle für Judo und Tanz, Fitnessräume, Garderoben sowie Lehrer- und Sitzungszimmer – verweisen auf die Grundrissdisposition der einzelnen Gebäulichkeiten im Innern des Lagers.

Perret als Impulsgeber

Mit dem Bau knüpfte Vacchini auch an eine Recherche an, die zuletzt in der an einen Tempel gemahnenden Sporthalle von Losone (1994–1997) kulminierte: die Suche nach der optimalen Konstruktion eines Daches. Zeit seines Lebens hat sich Livio Vacchini intensiv mit dem Thema «Dach» auseinandergesetzt – verstanden im Sinne des von Auguste Perret (1874–1954) bezeichneten «abri souverain». Der Architekt, so Perret, sei derjenige, der «un portique, un vaisseau, un abri souverain» konzipiere.2 Dessen konstruktives Konzept des aussen liegenden «starren» Skeletts, das im Inneren freies Spiel lässt für die Anordnung der Organe, hatte der französische Architekt und Ingenieur Léonce Reynaud (1803–1880), unter anderem Direktor der «École des ponts et chaussées», auf den Ingenieur gemünzt: «[…] il y (a) progrès toutes les fois que les supports et le parties supportées seront disposés de manière à ce que le rapport du plein et du vide soit diminué, ou à ce qu’on puisse employer de plus petits matériaux.»3 Das Aussschöpfen der konstruktiven Möglichkeiten ist in Mülimatt ein Hauptthema (vgl. «Faltwerk aus Spannbeton», S. 23).

Stütze und mauer, Tragen und Lasten?

Schon in Losone trieb Vacchini ein Vexierspiel. Dort führte ihn die Recherche zu einer rund 56 × 31 m überspannenden Halle, die über dem Rasen zu schweben scheint. Ihre Umfas- sung besteht aus Pfeilern – 27 an den Stirnseiten, 49 an den Längsseiten –, auf denen die Kassettendecke lagert. An ihr hängt der Glasschrein, der wie ein Vorhang von der Decke zu fallen scheint und an der inneren Flucht der Stützen angeschlagen ist. Die Pfeiler sind aber nicht als Punkt-, sondern als Linienlager ausgebildet und wirken so als Mauer, in die grösstmögliche Öffnungen geschnitten sind, was der «machbaren Materialersparnis» entspricht.4 In Losone verwischte Vacchini ausserdem die Trennung zwischen Tragen und Lasten. Obwohl – durch eine Fuge akzentuiert – auf ein Kapitell anspielend, wurden die Kopfenden der Stützen in die Dachplatte integriert. Konstruktiv wird das Dach zwar von den Pfeilern gestützt, konzeptionell aber wird es zwischen ihnen «eingespannt».[5]

Wieder erinnert das an Perret, der, um beim «Musée des Travaux publics» (1936–1948) in Paris zwischen dem runden Querschnitt der Säule und dem rechteckigen des Trägers zu vermitteln, einen Pyramidenstumpf einsetzte, diesen aber nicht als Kapitell bezeichnet wissen wollte, sondern als Bindeglied: «[…] ce n’est pas un chapiteau, c’est un lien […].»6 Verschleiert wird auch die Tempelanalogie: Der Bau verjüngt sich nach oben durch die Pfeiler, deren Querschnitt sich von 43 × 70 cm am Stützenfuss auf 43 × 43 cm am Stützenkopf reduziert. Im Streiflicht setzt sich der repetitive Rhythmus der Stützen in eine endlose, tanzende Bewegung um – ein optisches Paradox, das an Constantin Brâncus¸is «Colonna infinita» (1938) erinnert.

Fünfte Fassade und Origami

Das Sportausbildungszentrum Mülimatt evoziert prima vista das Bild einer gotischen Kathedrale. Wieder ist die innere Hülle, welche die beiden Hallen umfasst, ein Glasbehältnis. Doch das Betonfaltwerk – ein einheitliches, in sich stabiles Tragwerk – überspannt das Feld der beiden Hallen von 79.9 m × 55.4 m in einer ausladenden Geste als eine kontinuierliche Dachfläche, wie ein Tunnel. Als aussenliegendes Skelett überfängt es den Innenraum wie die Schale eines Krustentiers.

Die Komposition aus 27 V-förmigen Rahmenmodulen – gleich vielen wie Stützen auf den Stirnseiten von Losone – erinnert an die Falten der St. John’s Abteikirche (1953–68), Collegeville, Minnesota (USA) von Marcel Breuer und Pier Luigi Nervi, die sich wie Gewölberippen ausnehmen und daher auch mit der rationalen konstruktiven Ästhetik der Gotik verglichen wurden (Abb. 12, 14).7 Die Rahmeneinheiten lassen sich aber auch in Beziehung setzen mit den Jochen, die Perret als die konstitutiven Elemente eines jeden die inneren Organe schützenden «abri» definierte – ohne Unterscheidung nach Art der Bauten, «qui pourraient tous ressembler à des basiliques faites de travées répétitives […].»8 Aber auch der Eindruck des Origami, der sich einem beim Anblick des Baus einprägt, täuscht nicht: Das Dach als fünfte Fassade zu etablieren, drängte sich den Architekten deshalb auf, weil der Bau unterhalb des Bahndamms steht und vom Zug aus Blickfang ist. Im Gegensatz zu Losone, wo das Dach begrünt ist, schien den Architekten dies in Mülimatt ausserdem unnötig zu sein, da sich der Bau inmitten einer stupenden Landschaft befindet. Den Ausblick auf die Flusslandschaft hingegen galt es zu inszenieren und mithin ein schwebendes, ein «‹fliegendes› Dach» (Eloisa Vacchini) zu entwerfen. Bereits im Wettbewerb stand denn auch der gefaltete Bogen Papier Modell. Das Fliegende bietet auch ein Vokabular für die Stützen, die an Federkiele gemahnen. Sie «flattern» in einem Rhythmus, der im Spiel von Licht und Schatten und je nach Perspektive variiert – eine kondensierte Bewegung wie in Brâncus¸is «L’oiseau dans l’espace» (Abb. 15).

Welle und Monolith

Wie in Losone interessierte aber immer noch das Thema der Mauer, obwohl nun also ein Dach kreiert wurde – eines, das gleichsam wie eine Welle über die Hallen schwappt und sich in das Faltwerk ergiesst. Gleichzeitig soll der Bau den Eindruck vermitteln, dass das «Geröll», das die Welle mitführt, bzw. dass der «Stein in der Strömung des Flusses den Fels auskratzt» (Eloisa Vacchini), Schluchten in ihn einfrisst. Das Bild korrespondiert mit der Konstruktion: Das Regenwasser läuft über die Dach- und Stützenfalten – weshalb das Dach ein Gefälle aufweist – und wird über Rinnen am Sockelfuss abgeleitet. Das erzeugt ambivalente Bilder, oszillierend zwischen überschwappender Welle und ausgewaschenem Monolith, zwischen Fliessendem und Statischem.

Auch in dem einstigen Sitzungstrakt des Rathauses in Marl, 1967 von Johannes van den Broek und Jacob Berend Bakema errichtet, laufen die Falten des Betontragwerks, das ebenfalls das Skelett für eine eingestellte Glaskiste bildet, fliessend in die vertikalen Schäfte über (Abb. 11). Sie werden über eine Gehrung verbunden, die das Motiv von Lasten und Tragen verunklären, sodass Dach und Wand als eine Einheit wirken. Ebenso sollte es in Mülimatt keinerlei optischen Unterbruch zwischen Stütze und Dach geben. Wurde in Losone verhindert, die Stützenenden als Kapitelle zu lesen, haben die Architekten hier die Assoziation mit einem Architrav vermieden, indem die Zugkraft in Hallenlängsrichtung «über eine Ortbetondiagonalscheibe über Dach im Gleichgewicht» gehalten wird (vgl. «Faltwerk aus Spannbeton », S. 23).9

Von der optischen Täuschung zum Kippbild

Die beeindruckendste Wirkung entfaltet die Ambivalenz der Sportanlage, wenn sie sich von der optischen Täuschung zum Vexierbild steigert: Die Diagonalen der Schäfte interferieren mit dem Raster der Fensterprofile, sodass die Geraden gekrümmt werden (Abb. 3). Die Transparenz, die der Bau im Innern offenbart, weil bis zu einer Höhe von rund zwei Metern die offenen Partien der Verglasung im Verhältnis zu den geschlossenen des Tragwerks grösser sind, lässt sich von aussen kaum erahnen. Denn von Weitem erweckt der Bau den Eindruck eines geschlossenen Schreins: aus einem seitlichen Blickwinkel bedingt durch die perspektivische Verkürzung, frontal gesehen durch die Tiefe des Skeletts sowie durch die Distanz zwischen diesem und der verschatteten Glasfassade.

Hier wird die Wahrnehmung denn auch multistabil: Man kann die Struktur, der Tragwerkskonzeption entsprechend, als V-oder aber als V-förmig lesen. Je nachdem, worauf man fokussiert, tritt das «Gerippe» oder die Glasmembran in den Vordergrund, wie bei einem Kippbild. Das gibt dem Bau jene bewegliche Anmutung, welche die Assoziation mit einem Akkordeon – sowohl mit dessen Falten und Rippen als auch mit den Stimmzungen – hervorbringt. Verstärkt wird das Bewegungsmoment durch die Zuspitzung der Federkiele, die Vacchini ins Werk setzt. Sie verweist wiederum auf Perret: Dieser verlieh im «Musée des Travaux publics» (1936–1948) in Paris den Säulenschäften an ihrer Basis einen kleineren Querschnitt als an ihrem oberen Ende. Und erneut auf die St. John’s Abteikirche: Anders als in Marl verlaufen dort die Falten der Wände im Inneren ebenfalls nicht vertikal, sondern sind zum Fusspunkt hin abgeschrägt. In der Mülimatt aber werden die Stützen bis auf ein Minimum verjüngt, sodass sie gerade noch auf einer Spitze zu stehen und den Boden nur punktuell zu berühren scheinen – eine Toccata, «gespielt» auf einem Akkordeon.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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