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TEC21 2011|31-32
Umgenutzt
TEC21 2011|31-32
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Wohnen Im Silo

Die Obermühle in Baar ist die älteste urkundlich erwähnte Mühle im Kanton Zug (vgl. Kasten). Nachdem der Betrieb 2001 ausgelagert worden war, entwickelten die Architekten von NRS-Team aus Baar einen Gestaltungsplan für das gesamte Areal. Dabei erhielt das 35 m hohe Silo eine neue Nutzung: Wo früher Mehl und Getreide lagerten, befinden sich nach dem zusammen mit Berchtold Eicher Bauingenieure ausgeführten Umbau seit Mitte 2010 Wohnungen und Ateliers. Die Spuren der ursprünglichen Nutzung bleiben erkennbar. Neben dem markanten Siloturm und dem historischen Mühlengebäude besteht das Ensemble aus einem Kleinkraftwerk am Mühlebach, das in die Energieversorgung des neu genutzten Silos mit einbezogen wurde, sowie aus zwei Fabrikantenvillen von 1910. Ausser dem Silo sind alle Gebäude im Inventar der schützenswerten Bauten des Kantons Zug aufgeführt. Dennoch sollte auch dieser Bau erhalten bleiben, als Landmark und um den Ort als historischen Industriestandort aufzuwerten.

29. Juli 2011 - Tina Cieslik
Die bestehenden Bauten auf dem Areal zu Wohn- und Büroflächen umzunutzen, lag zwar vor dem Hintergrund des angespannten Wohnungsmarktes im Grossraum Zug auf der Hand, drängte sich jedoch beim Silo aufgrund der vorhandenen Bausubstanz nicht unbedingt auf. Zwar befand sich dieses in gutem Zustand, aber mit seiner vertikalen Ausrichtung, den fensterlosen Fassaden und seinen vergleichsweise kleinräumigen Schächten bietet es auf den ersten Blick nicht die optimale Grundstruktur für zeitgenössisches Wohnen. In einem von der kantonalen Denkmalpflege und dem Zuger Bauingenieurbüro Berchtold Eicher begleiteten Prozess konnte schliesslich mit einer Kombination aus Erhalt des Bestands, Um- und Neubau eine Lösung gefunden werden, die den heutigen Bedürfnissen für Wohnungsbau gerecht wird, aber die ursprüngliche Nutzung erkennbar lässt. Der L-förmige Silobau wurde dafür nordseitig auf einen Rechteckgrundriss zurückgebaut und das im Westen an den Turm anschliessende Mühlengebäude um einen fünfgeschossigen Neubau ergänzt. Westseitig diesem ursprünglichen Kern vorgelagert ist eine 2.20 bis 3 m breite neue Schicht, die sich auch visuell durch die Verwendung von Zinkblech als Fassadenbekleidung von der bestehenden Bausubstanz abhebt (Abb. 1). Diese Erweiterung ermöglichte eine Vergrösserung der Wohnfläche sowie den Einbau von Loggien, die teilweise als vertikale Gärten mit Bäumen bepflanzt sind. Deren versetzte Anordnung bildet eine Art Riss in der Fassade, während sich die im Sichtbeton belassenen und nur durch die notwendigen Fenster ergänzten Nord-, Süd- und Ostfassaden eher verschlossen präsentieren.

Nur für Schwindelfreie

Das Raster der Getreideschächte innerhalb des Silos bestimmte massgeblich die Grundrisse der Wohnungen. Im Nord- und im Südteil lösten die Architekten die Zellenstruktur des 9.60 m × 35.70 m grossen Bestands auf, hier sind jetzt vom 2. bis 9. Obergeschoss jeweils eine Dreieinhalb- und eine Viereinhalbzimmerwohnung untergebracht (Abb. 13). Im Erdgeschoss und im 1. OG befinden sich Atelier,- Gewerbe- und Wohnflächen; Geschoss 10 und 11 verfügen über eine Fünfeinhalbzimmerwohnung sowie drei Viereinhalbzimmerwohnungen (Abb. 14). Der Mittelteil des Silos fungiert bis zum 9. OG als Erschliessungszone, hier liessen die Architekten 12 der ehemals 45 Getreideschächte stehen. Sie erstrecken sich über die Höhe von 25 m und dienen der Vertikalerschliessung mit Lift- und Treppenkernen sowie als Luftraum, der Ausblicke nach draussen erlaubt und die Vertikalität des Baus spüren lässt: Die belassenen Schüttspuren des Getreides entwickeln fast eine Sogwirkung (Abb. S. 15). Darüber hinaus bilden die Schächte eine nicht isolierte Vorzone vor jeder Wohnung und können als Lagerraum genutzt werden, analog zur ursprünglichen Nutzung (Abb. 12).

Tragstruktur genutzt, ersetzt, durchbrochen

Um den Anforderungen an den Komfort und den Ansprüchen des Minergiestandards zu genügen, sind die 23 Wohneinheiten rundherum jeweils mit einer 20 cm starken Innendämmung versehen. Die restlichen Bereiche sind kalt. Die Siloaussenwand umfasst also als kalte Haut zusammen mit dem kalt belassenen, mittleren Siloteil die beiden warmen Wohnbereiche (Abb. 15). Zwischen diesen Kalt- und Warmbereichen ist der Bau konsequent dilatiert, um Zwängungen zu minimieren und Wärmeausdehnungen aufzufangen. Nur punktuell sind die beiden Bereiche mit Chromstahlstäben miteinander verbunden (Abb. 10). Weil in diesen Bereichen mit Kondensatbildung gerechnet werden muss, sind Verbindungselemente mit höherer Korrosionsbeständigkeit nötig. Rechnerisch wirken die beiden Teile nicht zusammen, doch tatsächlich trägt die sehr steife Wabenstruktur des Erschliessungsbereiches zur Aussteifung des gesamten Gebäudes bei.

Getrennt von der mehr als 85 Jahre alten Silotragkonstruktion, trägt das neue Betonskelett aus einzelnen Schotten, Geschossdecken und vorfabrizierten Stützen alle vertikalen und horizontalen Lasten aus dem Wohnbereich in den Baugrund. Die bestehende 80 cm dicke Bodenplatte musste nicht verstärkt werden, da die neuen Tragelemente auf das alte Raster ausgerichtet sind und die Lastbilanz zeigte, dass die neue Nutzung leichter ist als die ursprüngliche.

Die westseitige, jeweils monolithisch mit der bestehenden Tragkonstruktion verbundene Erweiterung für die Loggien erhielt hingegen ein neues Fundament. Um differenzielle Setzungen zu vermeiden, wurde sie gepfählt.

Der Rückbau der filigranen Wabenstruktur im Innern des Silos mit Zellwänden von nur 15 cm Stärke erfolgte etappenweise und nach einem von den Bauingenieuren präzis geplanten und vorbestimmten Schema: Deckenabbruch, Spriessarbeiten, Anbringen von provisorischen Aussteifungen und Abbruch von Zellwänden wechselten sich ab. Zuerst begannen die Arbeiten im nördlichen, dann im mittigen und schliesslich im südlichen Siloteil. Dabei durften die Arbeiten im Silo Nord gegenüber jenen im Silo Mitte aus Stabilitätsgründen nicht mehr als zwei Geschosse Vorlauf haben. Die Betonarbeiten für die Neubaukonstruktionen erfolgten, sobald die Rückbauarbeiten in den betreffenden Schächten abgeschlossen waren.

Für den Brandfall ertüchtigt

Um die Wabenstruktur im Erschliessungskern bewahren und vor allem auch sichtbar belassen zu können, musste sie aufgrund der Nutzungsänderung den Anforderungen des Brandschutzes genügen. Der Treppenkern und das gesamte UG mussten in der neuen Nutzung die Feuerwiderstandsklasse R90 erfüllen und die restlichen Bereiche im EG bis zum 11. OG die Klasse R60. Die Bauingenieure überprüften deshalb die bestehende Betonkonstruktion auf ihren Brandwiderstand. Sie ermittelten die Wandstärken und die Bewehrungsüberdeckungen, indem sie im UG mit einem Profometer und im EG bis zum 4. OG in den Bereichen, wo Türen oder Fenster in die Zellwände gefräst worden waren, mit dem Massstab arbeiteten. Die Wände des Treppenhauses erfüllten die Anforderung R90 nicht – die Bauteilabmessungen und die Bewehrungsüberdeckungen waren kleiner als die erforderlichen 145 mm bzw. 20 mm. Deshalb wurde das Treppenhaus mit einer Vormauerung oder mit einer Betonaufdoppelung ertüchtigt. Die Wände und Stützen im Untergeschoss erfüllten zwar die Anforderung R90 bezüglich der Abmessungen – die Wände waren mindestens 300 mm und die Stützen mindestens 600 mm stark –, die Bewehrungsüberdeckungen waren jedoch geringer als die erforderlichen 19 mm. Die betroffenen Wandbereiche wurden mit Vormauerungen aus Kalksteinmauerwerk, Vorbeton oder mit Brandschutzverkleidungen ertüchtigt. Für die Wände im Erdgeschoss und in allen Obergeschossen mussten hingegen keine Massnahmen getroffen werden, da sie die Anforderung R60 an die Bauteilabmessung mit mindestens 145 mm und an die Bewehrungsüberdeckungen mit minimal 20 mm erfüllen – der gesamte Erschliessungskern darf sich deshalb unbearbeitet und unabgedeckt zeigen.

Für 30 Jahre, für 100 Jahre

Die roh belassenen Betonwände der drei Fassaden und des Erschliessungskerns bewahren den Silocharakter. In den Wohnungen ist es neben der kalten Vorzone vor allem die unverbaute Aussicht, die das ehemalige Silo spüren lässt. Die Innenräume sind unprätentiös mit weiss verputzten Wänden, weiss lasierten Betondecken und industriellem Eichenparkett ausgestattet. Die deutliche Unterscheidung zwischen der Rohheit der Tragstruktur und dem Innenausbau betont die verschiedenen Zeitachsen der Elemente: die Wohneinheiten, die zwar nicht gerade temporär, aber doch reversibel eingebaut sind, und das 85-jährige Tragwerk, das lange Zeit als Silo diente, jetzt Wohnungen beherbergt und in 30 Jahren vielleicht wieder einer ganz neuen Nutzung übergeben wird.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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