Zeitschrift

TEC21 2012|47
Vorbild Lausanne West
TEC21 2012|47
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Aus Chaos geboren

Der Lausanner Westen ist ein Paradebeispiel ungeplanter Suburbanisierung. Acht Gemeinden sind jedoch entschlossen, zusammen ihre Zukunft in den Qualitäten der europäischen Stadt zu suchen. Was bisher fehlte, soll nun geschaffen werden: öffentlicher Raum und sanfte Mobilität, Nutzungsvielfalt und öffentlicher Verkehr – eine neue Stadt im Westen von Lausanne.

16. November 2012 - Ruedi Weidmann
In und um Lausanne sind die Standorte klar verteilt: Im Osten Villen und stille Gärten, hier verstreicht die Zeit langsam. Im Westen dagegen Lärm und Dynamik: Fabrikareale und Arbeiterquartiere, Güterbahnhöfe und Autobahnen, Verteilzentren und Hochschulen, Einfamilienhäuser und Lagerhallen, Einkaufszentren und Tankstellen, Parkplätze, Garagen und Wohnblöcke bilden ein gewaltiges Durcheinander. Das Gebiet umfasst die westlichen Quartiere der Stadt Lausanne und die acht Gemeinden Renens, Prilly, Ecublens, Bussigny, Chavannes-près-Renens, Crissier, Saint-Sulpice, Villars-Sainte-Croix. Auf der sanft gegen den See abfallenden Geländeschulter wurde 1877 der Güterbahnhof Renens angelegt. In der Folge wurden zwischen den Bauerndörfern Fabriken errichtet – allmählich entstand der heutige Flickenteppich.

Mit dem Bau der Autobahn 1964 zogen weitere Industrieunternehmen und 1970 die beiden Hochschulen aus der Enge der Stadt Lausanne hierher. In den 1990er-Jahren begann die Industrie zu serbeln und ins Ausland abzuwandern, dafür schossen nun Einkaufs- und Logistikzentren aus dem Boden. Mit 65 000 Einwohnern und 46 000 Arbeitsplätzen wäre Lausanne West die zweitgrösste Stadt in der Waadt – aber es ist eben keine Stadt. Die Gegend ist stark fragmentiert, ohne Zentrum, zu Fuss kaum zu bewältigen, fast ohne öffentlichen Verkehr und ohne öffentlichen Raum, der diesen Namen verdiente – ein typisches Agglomerationschaos. Doch die acht Gemeinden unterscheiden sich stark. So ist etwa das am Seeufer gelegene St-Sulpice wohlhabend, Renens dagegen ist arm und hat einen Ausländeranteil von über 50 %.

Stopp dem Wildwuchs

Seit 1991 führt eine Metrolinie vom Lausanner Stadtzentrum über Uni und EPFL zum Bahnhof Renens. Trotzdem fuhren im Jahr 2000 in den acht Gemeinden zwischen 67 und 94 % der Pendler mit dem Auto zur Arbeit. In jenem Jahr waren die Luftqualität so besorgniserregend, die Verkehrsüberlastung und die räumliche Desorganisation so unhaltbar geworden, dass die Kantonsregierung für Vorhaben wie Einkaufszentren und Einfamilienhauszonen, die viel Verkehr verursachen, einen Baustopp verhängte. Ein ausserordentlich hartes Vorgehen, das aber den Weg zur Zusammenarbeit ebnen sollte: Den Gemeinden wurde eine Vereinbarung vorgeschlagen, wonach sie ihre weitere Entwicklung unter der Leitung des Kantons gemeinsam koordinieren sollten.

Zunächst ging es aber darum, die vom industriellen Niedergang verursachte Mutlosigkeit zu überwinden und bewusst zu machen, über welche Trümpfe das Gebiet verfügt: eine wunderbare Lage über dem Genfersee mit Blick in die Alpen, gute Erschliessung durch Bahn und Autobahn, intakte Ortskerne, zwei Hochschulen, Baulandreserven und Verdichtungspotenzial auf Industriebrachen. Doch wegen der planlosen Überbauung war die Gegend zu unattraktiv geworden, um dieses Potenzial nutzen zu können. Nach vielen Diskussionen, vor allem mit den Gemeindepräsidenten, setzte sich die Einsicht durch, dass eine überkommunale Planung wünschenswert sei.

Überkommunale Planung

Instrument dazu ist das Schéma directeur de l’Ouest lausannois (SDOL), ein Masterplan für das ganze Gebiet, der 2003/2004 von den Gemeinden, der Stadt Lausanne und vom Kanton unterzeichnet wurde und Bestandteil des Agglomerationsprogramms Lausanne-Morges und des kantonalen Richtplans ist. Der SDOL basiert auf der Raumplanungsstudie eines interdisziplinären Teams unter der Leitung des Stadtplaners Pierre Feddersen. Dieses schlug ein prinzipielles Schema für die raumplanerische Gestaltung vor und schuf ein dreidimensionales Modell, die bis heute als Referenzen dienen.[1] Feddersen setzte viel Vertrauen in die Zusammenarbeit der Gemeinden und machte daraus eine Methode: Die vier territorialen und drei thematischen «Baustellen» sind gemeindeübergreifend angelegt. Aus dem Nebenund Gegeneinander der Dörfer soll Stadt werden, Verantwortungsgefühl für das Ganze soll kommunale Partikularinteressen ablösen (vgl. S. 24).

Der SDOL strebt eine rationelle Nutzung des Baulands an. Er krempelt Lausanne West aber nicht komplett um, sondern stützt sich auf vorhandene Infrastruktur und Siedlungskerne ab, nutzt vorhandene Situationen und Ressourcen. Die neue Stadt soll eine starke Identität bekommen, zugleich sollen Autonomie und Charakter der Gemeinden erhalten bleiben. Nebst den sieben «Baustellen» ist der SDOL richtungsweisend für den Ausbau von Bahnhöfen, S-Bahn-Stationen, Bus- und Tramlinien, die Aufwertung öffentlicher Räume und die Erhaltung des industriellen Erbes. Ausserdem legt er Bedingungen für Bauvorhaben bezüglich Dichte und funktionaler Durchmischung fest.

Organisation und Werkzeuge

2003 wurde das Büro des SDOL eingerichtet. Unter der Leitung von Ariane Widmer koordiniert es mit vier Vollzeitstellen die Planungen. Es erarbeitet selbst keine Projekte, sondern beauftragt spezialisierte Firmen mit Studien und wertet die Ergebnisse aus. Die Leitung eines Planungsvorhabens liegt stets bei einer Gemeindeverwaltung. Daneben gibt es zwei koordinierende Gremien: Die «Pilotgruppe» besteht aus den Gemeindepräsidenten, zwei Regierungsräten und den Leitern der involvierten kantonalen Ämter; sie trifft alle Entscheide und trägt die politische Verantwortung. Im «Stab für die technische Leitung» treffen sich monatlich die Leiter der zuständigen Gemeindeämter und Vertreter der kantonalen Departemente, sie betreuen die einzelnen Studien, evaluieren alle wichtigen Bauprojekte im Gebiet (vgl. Kasten unten) und bereiten die Entscheide der Pilotgruppe vor.

Als Planungswerkzeuge dienen Expertenberichte, Wettbewerbe und Teststudien. Letztere erweisen sich bei komplexen Aufgaben als besonders fruchtbar: Resultate mehrerer interdisziplinärer Teams werden öffentlich verglichen und diskutiert; Fachleute und Bevölkerung erarbeiten so gemeinsam eine Vision. Jeder Eingriff verlangt nach einer sensiblen Bestandsaufnahme, muss auf einer strategischen Vision basieren und braucht Zeit für Verhandlungen, damit Gelegenheiten genutzt und Partnerschaften geschaffen werden können. Zentrales Anliegen aller Massnahmen ist die Qualität des öffentlichen Raums (vgl. S. 22).

Mit öffentlichen Räumen Bruchstücke verbinden

Der Lausanner Westen besteht aus untereinander nicht verbundenen Teilstücken – eine Folge grosser Bahn- und Strassenbauten, aber auch von vielen ohne Blick auf das Gesamte errichteten Einzelgebäuden. Die für den Transitverkehr ausgelegten Strassen führen strahlenförmig von Lausanne weg und trennen die Agglomerationsteile, statt sie zu verbinden. Da sie nur für Autos konzipiert sind, eignen sie sich für die heutigen Bedürfnisse nicht. Heute wird jedes Bauvorhaben als Chance gesehen, Räume zu schaffen, mit denen sich die Bevölkerung identifizieren kann. Öffentliche Räume – Plätze, Parks, Wege, Brücken, Strassen und Vorgärten – schaffen Durchlässigkeit und verknüpfen, was zusammengehört, wenn eine Siedlung eine hohe Lebensqualität aufweisen soll. Die grosse Aufgabe besteht also darin, eine Stadt mit urbanen Qualitäten zu schaffen. Im suburbanen Kontext heisst das: den Autoverkehr reduzieren und kanalisieren, den öffentlichen Verkehr fördern, Wege für die sanfte Mobilität öffnen, öffentliche Räume schaffen, die Bebauung verdichten, die Funktionen sinnvoll mischen und die Zersiedelung stoppen. Dabei helfen Bundesgelder aus dem Agglomerationsprogramm.

Die neue Stadt, die in den nächsten zehn Jahren etwa 30 000 neue Einwohner aufnehmen soll, wächst nicht vom historischen Zentrum Lausanne aus, sondern soll im Westen geboren werden und ihre Gestalt aus eigenen Qualitäten entwickeln. Die Studienphase ist abgeschlossen. Die Ausgaben von Gemeinden, Kanton und Bund werden auf mehrere hundert Millionen Franken geschätzt; dazu dürften private Investitionen von mehreren Milliarden kommen.

Sieben Baustellen – viele Projekte

Der SDOL hat sieben sogenannte «Baustellen» festgelegt. Vier davon sind strategische Teilgebiete (Karte S. 17), drei weitere betreffen übergreifende Aufgaben im gesamten Planungsgebiet. Jede Baustelle ist in Teilgebiete unterteilt, die Gegenstand spezifischer Analysen sind, und enthält zahlreiche, unterschiedlich weit gediehene Projekte – insgesamt sind es bisher rund 70, viele weitere werden aber in den nächsten Jahren hinzukommen. Die wichtigsten Baustellen und Projekte werden auf den folgenden Seiten vorgestellt.[2]


Anmerkungen:
[01] Schéma directeur de l’Ouest lausannois, verfasst von Feddersen & Klostermann, Plarel S.A., CEAT, Transitec, Metron, Joël Christin, Renens 2003. Bezug beim SDOL-Büro, www.ouest-lausannois.ch
[02) Weitere Informationen finden sich im Buch «Im Westen die Zukunft» (vgl. S. 11), in der Ausstellung «Pièces à Conviction» (vgl. S. 38) und auf der Internetseite des SDOL: www.ouest-lausannois.ch

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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