Zeitschrift

TEC21 2012|47
Vorbild Lausanne West
TEC21 2012|47
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Stadtraum als Herzstück

Die Gemeinden im Lausanner Westen besitzen fast keine eigenen Bauflächen. Ihre gemeinsame Planung konzentriert sich deshalb auf die Infrastruktur und den öffentlichen Raum. Dieser bildet das Herzstück des Planungsansatzes, der auf einer Landschaftsstudie basiert.

16. November 2012 - Lorette Coen, Ariane Widmer Pham
Vor der Vergabe des Wakkerpreises 2011 waren sich wenige bewusst, dass vor den Toren Lausannes ein grosses, ganz neuartiges städtebauliches Vorhaben im Gange ist. Die Tatsache, dass neun Waadtländer Gemeinden [acht Gemeinden plus Stadt Lausanne, d. Red.] sich zusammenschlossen, um gemeinsam die prognostizierten demografischen Veränderungen zu bewältigen, war lediglich Teil der lokalen Berichterstattung. Das Ganze wurde diskret in Angriff genommen und auch so weitergeführt. Diese Bescheidenheit, die auch mit der politischen Situation der Region zu tun hat, stellte eine erste Chance dar für den Westen von Lausanne. Die zweite hängt mit den wirtschaftlichen Problemen zusammen: Diese verlangten zwingend nach Veränderungen, und zwar schnell. Denn dieses Gebiet mit den Hochschulen, das als künftiger Entwicklungsschwerpunkt von mindestens europäischer Bedeutung erkannt wurde, war nie Gegenstand von stadtplanerischen Überlegungen gewesen, die diesen Namen verdient hätten. So wie es sich präsentierte, war es für die gehegten Ambitionen unbrauchbar.

Als Pierre Feddersen, Architekt, Stadt- und Landschaftsplaner sowie Urheber des Schéma directeur de l’Ouest lausannois (SDOL), des Masterplans Lausanne West, ungefähr im Jahr 2000 die betroffenen Gemeinden kontaktierte, war der Empfang ziemlich kühl. «Es fing schlecht an», erzählt er. «Zuerst musste ich die Behörden davon überzeugen, dass dieses Gebiet über ein riesiges Potenzial verfügt.» Damals neigte der Westen von Lausanne eher dazu, in Anbetracht der Schliessung zahlreicher Industriebetriebe in Trübsal zu versinken. Der Leerlauf war jedoch von kürzerer Dauer als befürchtet, die Region richtet sich im dritten Sektor neu aus und ist bereit für ein grosses Vorhaben. Die Umsetzung des Masterplans Lausanne West ab 2003 geschah zu einem entscheidenden Zeitpunkt.

Umfassende Landschaftsplanung

Die wichtigste Besonderheit und das Kapital dieses Raumplanungsprojekts besteht in der ausserordentlichen Tatsache, dass es auf einer Landschaftsstudie basiert, die 2001 im Rahmen der Revision des kantonalen Richtplans erstellt wurde. Die Autoren der Studie skizzieren in groben Zügen bereits die Philosophie, an der sich das Büro des SDOL bei seiner Arbeit bis heute orientiert. In der Studie steht die entscheidende Bemerkung: «Die Landschaft der Peripherie, die Schritt um Schritt vom Gebauten besetzt wurde, ‹die Masse›, verlangt nach einer Neugestaltung und Aufwertung durch den ‹Leerraum›. Der unbebaute, frei gebliebene ‹Leerraum› stellt das verletzlichste Element in der städtischen Komposition dar, denn diese Bereiche werden von der urbanen Entwicklung beansprucht. Das in dieser Studie empfohlene Vorgehen besteht in einer Herangehensweise an die Landschaft, die die soziokulturellen, ökologischen und wirtschaftlichen Werte mit einbezieht, denn sie sind entscheidende Komponenten für eine nachhaltige Entwicklung. Die fehlende Sensibilität, um nicht zu sagen Emotion, in der aktuellen Gestaltung zeigt, wie notwendig es ist, dem Lebensumfeld grössere Aufmerksamkeit zu schenken und sich auf die soziale Dimension, die die Umgebung im Alltag spielt, zurückzubesinnen. Die grösste Herausforderung besteht darin, eine verlorene Landschaft wiederherzustellen.»1 Das Team des SDOL-Büros übernimmt diese Zielsetzung und stellt den öffentlichen Bereich ins Zentrum seiner Stadtplanung: Den öffentlichen Räumen gebührt Respekt. Die Arbeit besteht darin, zu verbinden, wieder zusammenzunähen und den Unorten Qualität zu verleihen, indem man ihnen einen Sinn zuweist. Man interessiert sich für die Zwischenräume genauso wie für grossflächige Räume. Man räumt Hindernisse aus dem Gelände, um Fussgängerverbindungen oder auch grosse Verkehrsachsen zu fördern, man bietet Haltestellen an, Treffpunkte, Orte zum Verweilen. Im bestehenden Stadtgeflecht verbindet man die Stadtfragmente miteinander und versieht sie mit allen notwendigen Qualitäten.

Methodischer Pragmatismus

Sollen solche Vorhaben gelingen, braucht es die Fähigkeit, gleichzeitig auf allen Stufen mit Fantasie, Geschicklichkeit und Geduld aktiv zu sein. Sie verlangen auch nach Offenheit im Denken und Handeln: auf die Annehmlichkeiten der Spezialisierung verzichten zugunsten differenzierter Kenntnisse über das Gebiet. Die vom Büro des SDOL entwickelte Stadtplanung basiert natürlich auf einem Übersichtsplan, vermeidet jedoch übermässiges Vorbestimmen und gibt Erfinderischem den Vorzug. Sie konzentriert sich auf den Prozess, stellt Strukturen bereit, die das Projekt tragen können und ihm ermöglichen, sich auszubreiten. Der Stadtplaner gibt den Anstoss, setzt dann auf die Richtigkeit seiner Empfehlungen und zählt auf die Stärke der Personen, die sie umsetzen. Hierin liegt auch das Interesse des Vorhabens im Lausanner Westen: statt auferlegter Planung methodischer Pragmatismus. Dieser lässt der persönlichen Initiative grossen Freiraum. Er basiert auf dem Vorrang des Lokalen sowie auf systematischen Verhandlungen und auf einem Geflecht von unterschiedlichen, auf die Bedürfnisse abgestimmten Vereinbarungen. Mit anderen Worten: ein Planungsinstrument ganz im Sinne der politischen Gepflogenheiten in der Schweiz.

Im Gegensatz zu einer am Zeichentisch durchgeplanten Metropole am Genfersee sehen wir hier eine Region, bei deren Entstehung man auf die Wechselwirkungen zwischen Leitideen und der Arbeit vor Ort aufbaut. Zusätzlich bemerkenswert ist, dass das urbane Projekt des Bezirks Lausanne West nicht vom Zentrum Richtung Peripherie ausstrahlt, vom Grossen zum Kleinen, oder, anders ausgedrückt, von Lausanne zu den Nachbargemeinden. Es wird absichtlich und bewusst im Westen geleitet und konzipiert, für und durch ihn.

Aber diese schöne Autonomie kann zur Achillesferse des Vorhabens werden, das sich nun in der operativen Phase befindet. Die Region erlebt nämlich einen grossen Immobilienboom. Werden sich die Gemeinden von Lausanne West dem enormen Druck der Spekulation entziehen können? Was für eine Regelung braucht es, um sie davor zu schützen? Da sie in den seltensten Fällen über die Grundstücke verfügen, sind sie zur Realisierung der Ziele des Masterplans von den Eigentümern und Investoren abhängig. Dies zu einem Zeitpunkt, da sie sich anschicken, zig Millionen in die Finanzierung der Infrastrukturen zu stecken. Um ihr Raumplanungsprojekt zu schützen, das Gefahr läuft, auf Abwege zu geraten, werden sie ungleich grössere Verhandlungs- und Führungsmittel einsetzen müssen, als sie es gewohnt sind. Den Lockrufen der Bereicherung gilt es eine geschlossene Front sowie einen geeinten politischen Willen entgegenzusetzen. Es geht darum, das Verteidigen der rein kommunalen Interessen hinter sich zu lassen, um im Westen die Zukunft zu sehen.

Dieser – hier leicht gekürzte – Artikel erscheint demnächst unter dem Titel «Öffentlicher Raum, Herzstück der Stadtplanung» im Buch «Im Westen die Zukunft» (vgl. S. 11).

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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