Akteur

Álvaro Siza Vieira
Porto (P)

Heran mit Feder und Bleistift!

Das beliebte Spiel aller selbsternannten Erneuerer: das Kind mit dem Bad auszuschütten, betrifft heute das Zeichnen von Hand. Weil es angeblich seit Einführung des computergestützten Entwerfens überflüssig geworden ist, wird es nicht mehr geübt. Ein Aufruf.

25. Januar 2003 - Walter Zschokke
Wenn der 1933 geborene portugiesische Architekt Alvaro Siza zum Stift greift, um den großartigen Innenraum des Pantheon zu zeichnen, sind auf dem Blatt nicht bloß die innere Fassade und die Kuppel bis und mit dem Okulus zu sehen, sondern auch der Block, die zeichnende Hand, ja selbst das Knie des Nachbars. Auf der kleinen Seite des viel genützten Skizzenbuchs (Nr. 66) kommt zusammen, was mit der Bewegung der Augen, ja des Kopfes eingefangen werden kann. Mit Leichtigkeit schafft Siza Raum und Tiefe und vermag deutlich mehr vom Wesen dieses sakralen Zentralraums zu erfassen, als die Bemühungen des Photographen einfangen, selbst wenn dieser den Lichteinfall durch die Deckenöffnung stellvertretend für die von der Linse nicht mehr erreichten Quelle ins Bild holt.

Das älteste erhaltene Skizzenbuch eines Baumeister-Architekten, jenes von Villard de Honnecourt aus dem 13. Jahrhundert, das Lern- und das Lehrbuch seiner Bauhütte, zeigt Skizzen, die ebenso zeitlos wirken wie viele Zeichnungen von Architekten seither, mit denen Bauwerke, Räume, Maße, Proportionen und Details festgehalten wurden. Es handelt sich dabei um ein Selbststudium am originalen Objekt, eine Intensivierung der Wahrnehmung und Systematisierung des Erkenntnisvorgangs über das Medium des Zeichnens mit der freien Hand. Dabei geht es um ein Einüben der Verbindung von Auge, Hirn und Hand. Denn was nicht gesehen, nicht erkannt wurde, läßt sich schwer zeichnen. Neben dem Führen des Stifts wird das genaue Hinsehen geübt, aber ebenso das Schauen, jener vorerst absichtslose Blick auf die Gesamtheit, der dem Wesen hinter den Oberflächen nachspürt, bei dem Erinnern und Vergleichen verständnis-bildend dazukommen.

Nicht alle Augenmenschen sind Zeichner. Seit Erfindung der Photographie bietet sich dieses Medium als Stütze der Erinnerung und Methode der Wahrnehmung an. Aber das genaue Hinsehen wurde damit keineswegs überflüssig. Wer nicht vorher überlegt hat, was er photographieren will, muß zu Hause zuerst feststellen, was er alles abzulichten vergessen hat. Immerhin lassen sich auf der Papier-kopie oftmals Dinge finden, die vorher nicht gesehen wurden. Das und anderes unterscheidet das Photographieren kategoriell vom Zeichnen und ersetzt dieses daher nicht. Es ist als Medium neu dazugekommen. Die Arbeit wurde reicher und anspruchsvoller.

Seit einigen Jahren macht die technische Entwicklung auch den Videofilm für die Archi-tekturwahrnehmung praktikabel. Hier kommen Vorteile wie Raumton und Bewegung - als Bewegung des „Auges“ im Raum sowie der Blick auf sich Bewegendes im Raum - dazu. Die Anforderungen zur Erstellung eines aussagekräftigen Kurzfilms sind jedoch hoch, weshalb das eigenständige, aber anspruchsvolle und aufwendige Medium nur ausnahmsweise zu den bisherigen dazukommt. Wie leicht und unkompliziert sind im Vergleich dazu Skizzenblock und Stift.

Immerhin, alle diese Mittel der medial gestützten Betrachtung dienen den Architekten dazu, Erfahrungen zu sammeln, das Gefühl und das Vorstellungsvermögen für Räume in ihrer wahren Größenordnung zu üben und zu schärfen, damit dann bei der Umkehrung, beim Projektieren, die gewählten Proportionen den Erwartungen entsprechen. Das ist wichtig, weil Gebautes niemals unabhängig vom Menschen, von seiner Gestalt als Bezugsgröße erlebt werden kann. Immer sind die Proportionen von Mensch zu Raum und Bauwerk zu bedenken.

Diese Überlegungen sind alt. Andrea Palladio (1508 bis 1580) schreibt in seinen „Quattro Libri dell'Architettura“: „Die Säulen einer jeden Ordnung sollen so geformt sein, daß der obere Teil dünner sei, und in der Mitte soll sie eine leichte Schwellung haben. Bei der Verjüngung ist zu beachten, daß sie um so geringer ist, je länger die Säule ist, da aus der Distanz betrachtet die Höhe von selbst den Effekt der Verjüngung bewirkt.“ In der Folge gibt Palladio dann die unterschiedlichen Verhältnisse von Säulenfuß- und Säulenhalsdurchmesser bei verschieden hohen Säulen an. Selbstverständlich bezieht er sich dabei auf Vitruv. Auch wenn wir heute nicht mehr unbedingt Säulen gestalten, bauen wir weiterhin für Menschen, deren Augenhöhe sich seit damals nicht wesentlich verändert hat. Eine nicht geringe Rolle spielt die Zeichnung als Unterstützung einer mündlichen Erläuterung. Oft wird in der Diskussion eine Idee geboren, die dann als schnell hingeworfene Skizze Form gewinnt und das Gesagte unterstützt.

Die Vieldeutigkeit einer ausschließlich textlichen Beschreibung ohne klärende Zeichnungen sind von historischen Beispielen her bekannt. So gelang es weder, die von Plinius in seinen Briefen beschriebene Villa glaubhaft zu rekonstruieren, noch, eine gesicherte Darstellung von Cäsars Rheinbrücke abzuleiten, obwohl dies seit der Renaissance immer wieder versucht wurde. Über zu viele Ecken, Kanten, Flächen, Räume und Verbindungen verfügt ein dreidimensionales räumliches und konstruktives Gebilde, als daß der lineare Faden eines Textes eine eindeutige Übertragung vom Betrachter und Schreibenden zum Leser sicherzustellen vermöchte.

Zu viel verliert sich zwischen den Zeilen, zu auf wendig ist die topologische Verortung jeder Angabe. Wieviel einfacher - und noch immer schwer genug - wird jedoch die Übermittlung, wenn sie von Skizzen gestützt wird. Aus der freien Hand zeichnen zu können wird daher weiterhin ein Wettbewerbsvorteil bleiben.

Seit Mitte der 1980er Jahre hat sich das Zeichnen am Computer, CAD genannt, durchgesetzt. Die enormen Vorteile sind offensichtlich, und wer sich überhaupt noch an den wiederkehrenden Ärger mit verstopften Tuschestiften erinnert, weint ihnen keine Träne nach. Doch auch hier muß festgehalten werden, daß das Neue nur Teile des Leistungsfeldes der bisherigen Medien abzudecken vermag. Es kommt eben neu dazu, und wie immer verspricht man sich davon wunder was, und mit der Zeit spielt sich ein neues Verhältnis ein.

Außerdem sind die Menschen, besonders die Architekten, verschieden. Der eine liebt dies, die andere das. Der sinnliche Umgang mit Papier und Stiften, ob Blei oder Farbe, hat seinen eigenen Reiz. Entwerfende werden selber herausfinden müssen, was ihnen am ehesten entspricht.

Verluste gibt es auch zu beklagen, etwa die der relativen Unschärfe im frühen Projektstadium. Bei der Eingabe müssen viele Fragen exakt beantwortet werden, die man früher auf eine spätere Projektstufe verschieben konnte. Vom Papierverbrauch gar nicht zu reden. Eine Hauptgefahr ist nicht im CAD zu sehen, sondern darin, daß die Referenzen für das Entwerfen nicht an Ort und Stelle zeichnerisch oder photographisch erarbeitete Gebäude- und Raumwahrnehmungen sind, sondern Abbildungen publizierter Projekte oder ausgesuchte Publikationsbilder der Schokoladenseiten von neuen Bauten. Damit verliert sich die geübte Beziehung: Objekt-Auge-Hand-Zeichnung und kann in der Umkehrung: Zeichnung-Hand-Auge-imaginiertes Objekt beim Entwurf nicht mehr zum Tragen kommen. Oft liegen dann Abbil-dungen von Gebäudeoberflächen vor, die über dessen architektonischen Charakter wenig aussagen. Aber Architektur war immer schon mehr als das Nachbauen dreidimensionaler Bilder.

Auch wenn es auf den ersten Blick als Generationenproblem erscheinen mag, wenn Architekt Gustav Peichl (Jahrgang 1928) im Titel der dieser Tage im Akademiehof eröffnenden Ausstellung seiner typischen Entwurfsskizzen ein Zurück zu Feder und Bleistift fordert, ist dies natürlich einerseits die subjektive Meinung eines Architekten, der den Zeichenstift beherrscht. Aber andererseits steht dahinter sein Wissen und die Erfahrung um die spezifische Rolle und die Bedeutung der Zeichnung. Für ihn ist die Skizze die Sprache der Architektur. Das mag vielleicht nicht für jeden stimmen. Der Umkehrschluß: daß dies deshalb nicht mehr geübt werden müsse, ist sicher falsch.

Allerdings ist die Architektenzeichnung nicht notwendigerweise selber „Kunstwerk“, auch wenn sie durchaus künstlerischen Ausdruck haben kann, sondern Mittel zum Zweck.
Sie kann Wahrnehmungsstütze, Ideenskizze, Erläuterungszeichnung sein. Dabei darf sie durchaus ungelenk scheinen, entscheidend ist, daß damit Inhalte schnell und effizient transportiert werden.

Denn die Kunst des Architekten beweist sich im Bauwerk. Es dürfte interessieren, daß an einer der besten technischen Hochschulen des Kontinents die angehenden Ingenieure heute CAD und das Zeichnen von Hand lernen. Jene, die das Lehrprogramm neu zusammengestellt haben, werden sich dabei sicher etwas gedacht haben.

Ein unbestrittener Meister der Architektur, Alvaro Siza, dessen Werke wohl kaum als unzeitgemäß gelten dürften, hat sich jedenfalls etwas gedacht und für uns aufgeschrieben: „Plötzlich fängt der Bleistift oder der Kuli an, Bilder festzuhalten. Gesichter im Vordergrund, flüchtige Profile oder klare Details, die Hände, die sie zeichnen. Linien, erst furchtsam, starr, ohne Präzision, später eigensinnig analytisch, in Momenten trügerisch endgültig, frei bis zur Trunkenheit; später müde und schließlich belanglos. Für die Dauer einer wirklichen Reise erlangen die Augen, mit ihnen der Geist, unerwartete Aufnahmefähigkeiten. Wir erfahren unmittelbar. Was wir gelernt haben, taucht wieder auf, gelöst in den Linien, die wir später zeichnen.“

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