Akteur

Álvaro Siza Vieira
Porto (P)

Vom Aschenbrödel zum Weltstar

Zeitgenössische Kunst und Architektur in Porto

Seit Jahrhunderten lebt Porto im Schatten Lissabons: Doch in den letzten fünfzehn Jahren hat sich die Hafenstadt am Douro nicht nur als wirtschaftliches Zentrum Nordportugals einen Namen gemacht. Rund um den Ende 1996 von der Unesco zum Weltkulturerbe ernannten mittelalterlichen Stadtkörper, der zurzeit durch einige gezielt eingepflanzte Neubauten wiederbelebt wird, erblühte eine dem Regionalismus verpflichtete Architektur. Ihr neustes Renommierstück ist das von Alvaro Siza errichtete Museum für zeitgenössische Kunst im Park der Villa Serralves.

14. Juni 1999 - Roman Hollenstein
Als sich nach dem Chiado-Brand im August 1988 die Stadtväter Lissabons Gedanken zum Wiederaufbau des historisch bedeutenden Scharniers zwischen der unter Pombal nach dem Erdbeben von 1755 angelegten Baixa und dem höher gelegenen Bairro Alto machten, wandten sie sich nicht an die lokale Architektenschaft: Sie suchten vielmehr Hilfe bei Alvaro Siza, dem mit allen grossen Architekturpreisen geehrten Meister aus Porto, der international als eine moralische Instanz der Baukunst gilt. Schon wenig später konnte Siza ein Projekt vorlegen, das 1990 bewilligt wurde und gegenwärtig realisiert wird. Spätestens damit musste die selbstverliebte Metropole am Tejo zur Kenntnis nehmen, dass sie zumindest in Sachen Architektur längst von der «Provinz» überholt worden war. Nun erhält die Hauptstadt auf einem weiteren Gebiet der Gegenwartskultur Konkurrenz: Es handelt sich dabei um Sizas Museum für zeitgenössische Kunst im Parque Serralves, das auch einen neuen Höhepunkt der Architektur in Porto darstellt.


Porto als Architekturhochburg

Dabei macht Porto auf den ersten Blick keinen besonders zukunftsorientierten Eindruck. Die vor gut zwei Jahren zum Weltkulturerbe ernannte Altstadt mit ihren bizarren Kirchtürmen und den pittoresk zum Douro abfallenden Häuserkaskaden zeugt vielmehr von der verwelkten Pracht der einstigen Seefahrerstadt. Rund um die zentral gelegene Praça da Liberdade spürt man allerdings das Selbstbewusstsein des durch Textilindustrie und Portweinexport wohlhabend gewordenen Bürgertums, das sich mit Bauten aus dem frühen 20. Jahrhundert, dem Art déco und der klassischen Moderne ein Denkmal setzte: Noch original erhalten ist der revolutionärste Bau der portugiesischen Moderne: das 1928-32 von Rogério de Azevedo für die Zeitung «O Comércio do Porto» errichtete Garagen- und Bürogebäude. Bereits in restauriertem Glanz erstrahlen die zeitgleich von Julio de Brito in Art-déco-Formen konzipierte Fassade des Rivoli-Theaters und das durch den kriegsbedingten Wirtschaftsboom ermöglichte, mit seinen Bullaugen, der Kommandobrücke und dem Fahnenmast auf nautische Vorbilder verweisende Coliseu von Cassiano Branco.

Eine sorgsame Auffrischung möchte man auch dem Cine da Batalha wünschen. Das 1947 von Artur de Andrade vollendete Gebäude mit der eigenwillig gekurvten Glasfassade ist nicht nur ein frühes Beispiel der heute in Porto gepflegten kontextualistischen Architektur. In ihm kulminierte damals auch der Streit zwischen den Modernisten aus dem Norden und den staatstreuen Traditionalisten aus Lissabon. Schon als dort der italienisch inspirierte Monumentalstil zur nationalen Formensprache erhoben wurde, hatten sich Branco und Carlos Ramos nach Porto zurückgezogen. Ramos wurde als Verfechter eines kritischen Regionalismus zum Begründer der «Schule von Porto». Diese führte im Grunde nur weiter, was Baukünstler wie Azevedo bereits erfolgreich versucht hatten: die Überprüfung internationaler Positionen und deren Übersetzung in ein lokales Idiom. Der wirtschaftliche Niedergang nach dem Zweiten Weltkrieg hatte zur Folge, dass nur vereinzelt so bedeutende Grossbauten wie das Anfang der fünfziger Jahre von Arménio Losa und Cassiano Barbosa errichtete Soares-Irmão-Bürohaus realisiert werden konnten. Allerdings entstanden damals auch die heute in Architektenkreisen als Kultobjekte verehrten frühen Arbeiten von Fernando Távora und Siza, allen voran das in die Klippen von Boa Nova gesetzte Teehaus in der Vorstadt Matosinhos.


Neues Leben blüht aus den Ruinen

Parallel zur wachsenden Bedeutung der Architekturszene von Porto ging der bauliche Niedergang der historischen Stadt. Schon in den fünfziger Jahren liebäugelte die Stadtverwaltung mit radikalen Sanierungsplänen, die nach der Nelkenrevolution von 1974 in den basisdemokratischen SAAL-Wohnbauprojekten nachklangen. Damals wurden baufällige Quartiere niedergewalzt und im besten Fall durch architektonisch interessante, urbanistisch aber nicht unproblematische Reihenhaussiedlungen ersetzt, mitunter jedoch bis heute als Parkplätze belassen. Die Rückbesinnung auf die städtebaulichen Qualitäten der eng verwinkelten Altstadt fand erst in den achtziger Jahren statt. Völlig verlotterte Häuserzeilen am Cais de Ribeira genannten Douro-Ufer wurden daraufhin im traditionellen Stil rekonstruiert. 1993 konnte dank EU-Hilfe ein vom Kommissariat für Stadterneuerung begleitetes und mit rund 700 Millionen Franken dotiertes Renovationsprojekt in Angriff genommen werden.

Inzwischen sind unterhalb der hoch gelegenen Kathedrale auch ganz zeitgenössisch anmutende Häuser entstanden, die allerdings die bestehende Typologie streng respektieren. Als historisches Vorbild konnte dabei ein Meisterwerk der frühen kontextuellen Moderne dienen: das Anfang der dreissiger Jahre von Francisco Keil do Amaral nahe der barocken Clérigos-Kirche als Neuinterpretation des schmalen herkömmlichen Stadthauses in eine Bauzeile eingepasste Instituto Pasteur. Bereits Ende der achtziger Jahre hatte Paula Araújo da Silva rund um einen von ihr rehabilitierten Waschbrunnen Ruinen durch diskrete Neubauten ersetzt. Mittlerweile wagt man sogar noch mehr: So ist jüngst am Largo do Colegio bei der spätmanieristischen Grilos-Kirche ein minimalistisch angehauchtes Café derart sensibel in den Fels gebaut worden, dass drinnen aus den feuchten Mauern weiterhin Pflanzen spriessen. Einige enge Strässchen tiefer hat man - ähnlich wie in Barcelona - einen Platz ganz neu geschaffen und mit drei stelenartigen Leuchten möbliert. Hier scheint sich das Weltkulturerbe in eine raffinierte Kulisse für Modeaufnahmen zu wandeln. Um das Wohnen an den steilen Treppengassen den autoverrückten Portugiesen schmackhafter zu machen, werden neuerdings sogar Tiefgaragen angelegt, in die man beispielsweise durch das Erdgeschoss alter Geschäftshäuser gelangt. Auch wenn das neue Einkaufszentrum Santa Catarina an der gleichnamigen Flaniermeile Porto als Disneyland zitiert, will man eine Musealisierung der Altstadt vermeiden, indem man sie mit präzisen architektonischen Eingriffen dem heutigen Leben dienstbar zu machen sucht.


Meisterarchitekten

Zwar ist jüngst hoch über dem Largo de Miragaia mit seiner Barockkirche, dem kleinen Stadtpalast und den dahinter schamhaft sich verbergenden Wellblechhütten eine von Siza beeinflusste Schulanlage entstanden. Dennoch fehlt in der Altstadt bis jetzt eine Intervention von internationalem Format. Neubauten der Spitzenklasse findet man bis heute erst in den Aussenquartieren: etwa die von Siza wie eine mediterrane Stadt hoch über dem Douro angelegte Architekturfakultät, deren prächtige Fernwirkung aber bald schon durch den Bau spekulativer Wohnungen am Steilhang beeinträchtigt werden dürfte. Vor solch baulichen Immissionen geschützt ist dagegen der Carlos-Ramos-Pavillon, den Siza vor über zehn Jahren für die Architekturschule im kleinen Park der benachbarten Quinta do Póvoa errichtet hat. Ein vergleichbares Meisterwerk ist das Kulturzentrum, das Souto de Moura mit viel Gespür so in den kostbaren Garten einer Villa der Jahrhundertwende integrierte, dass von ihm kaum mehr als ein Vorsprung der Umfassungsmauer sichtbar ist. Wenn dieser die Strenge von Mies mit der granitenen Tradition des Nordens vereinigende Pavillon auch einem anderen Idiom verpflichtet ist, so darf er doch als Vorstufe zum Museu de Arte Contemporânea, dem seit Jahrzehnten ersten grossen Kulturbau der Stadt, gelten.


Ein eindrücklicher Musentempel von Alvaro Siza

Das von der Fundação Serralves, einer von Stadt und Privatwirtschaft getragenen Stiftung, verwaltete und mit staatlichen Geldern betriebene Museum für zeitgenössische Kunst, die erste Institution dieser Art in Portugal, wurde 1989 eröffnet, und zwar in der herrschaftlichen Villa Serralves. Sie zählt zusammen mit der unten am Douro langsam verrottenden Fischhalle von Januário Godinho zu den Höhepunkten des lusitanischen Art déco. In Auftrag gegeben wurde das perfekt erhaltene Gesamtkunstwerk in den dreissiger Jahren vom Grafen von Vizela. Dieser betraute zunächst den Pariser Architekten Charles Siclis mit dem Umbau des Anwesens. Vollendet wurde die von Ruhlmann und Brandt luxuriös ausgestattete Villa aber von José Marques da Silva, von dem in Porto der alte Hauptbahnhof und das São-João-Theater stammen. Grossartiger noch als das pinkfarbene Gebäude aber ist der vom Pariser Landschaftsarchitekten Jacques Gréber konzipierte, bald streng formale, bald waldartige, von maurisch anmutenden Wasserspielen und schattigen Teichen belebte Park, der zu den bedeutendsten Schöpfungen der Epoche überhaupt zählt. Da sich jedoch in diesem einzigartigen Rahmen Kunst der letzten dreissig Jahre nur bedingt präsentieren lässt - die zum Teil intimen Räume der Villa eignen sich kaum für sperrige Arbeiten, und der formale Garten duldet keine künstlerischen Eingriffe -, regte sich bald der Wunsch nach einem eigenen Museumsbau.


Von der Art-déco-Villa zum Museum

Doch wie sollte ein Neubau in die kostbare Art-déco-Anlage integriert werden? Mit dieser Frage wandte sich die Fundação 1991 an Alvaro Siza. Der schlug den von der Avenida Gomes da Costa aus zugänglichen, etwas versteckt am Rand des Parks gelegenen Küchengarten und den daran anschliessenden Orangenhain als Bauplatz vor - im vollen Bewusstsein, dass damit zwar ein nicht unbedeutender Teil der 18 Hektar grossen Parkanlage, aber wenigstens keine alten Bäume angetastet wurden. Wie immer ging Siza auch bei diesem Projekt von der Stimmung und den sichtbaren und unsichtbaren Kraftlinien des Ortes aus. Entlang einer vom alten Wegsystem vorgegebenen Nord-Süd-Achse gruppierte er ein zwar noch nicht ganz vollendetes, aber bereits mit funktionierendem Bühnenturm ausgestattetes Auditorium für 270 Personen und einen U-förmigen Museumstrakt, der neben Tiefgarage, Depots, Werkstätten und Büros eine Bibliothek und ein Café sowie Ausstellungsflächen von 4500 m² in rund 20 Hallen, Kojen und Korridoren aufweist.

Auf den ersten Blick erscheint das weiss verputzte, nur von wenigen Fenstern durchbrochene kubische Konglomerat abstrakt. Erst bei genauerem Hinschauen erkennt man, dass dieser gleichermassen sinnliche wie asketische Bau mit Elementen der Moderne und des regionalistischen Erbes spielt. Hier war ein Architekt am Werk, der - wie nicht zuletzt das Zufällige der Winkel und Volumen, der Öffnungen und Terrassen zeigt - ganz seiner Intuition vertraut. Der gut 50 Millionen Franken teure Kulturkomplex, den Siza als «plastischen Widerhall» des Parks versteht, wahrt dank Brechungen und Drehungen ein menschliches Mass und wirkt daher von aussen nie monumental. Die architektonische Auseinandersetzung mit Licht, Natur und Topographie im Sinne Alvar Aaltos führte schliesslich dazu, dass der Bau - typisch für Siza - mehrere Gesichter besitzt. Einzig das blendende Weiss und die dunklen Fenstereinschnitte sind dem ganzen Gebäude eigen. Sonst aber erinnert es bald an kubistische, bald an klassisch moderne Architekturen, während das Auditorium mit seinem leicht geschwungenen Dach heutigen Fabrikhallen gleicht. Das Ganze hat Siza mit einer Prise postmodernem Kitsch gewürzt: einer sich vom Garten zum Auditorium hinüberschwingenden Brücke, die mit ihrer Granitverkleidung den Bezug herstellen will zu Portos historischer Architektur.

Siza erweist aber auch der Art-déco-Villa seine Reverenz. Nähert man sich von Süden durch den Kastanien- und Eukalyptuswald dem Museum, so erscheint es - über einer barockisierenden Treppe sich erhebend - mit seinen puristischen Flügelbauten und den im Licht spielenden Kuben wie eine zeitgenössische Neuinterpretation der Villa. Der Geist der doppelstöckigen, Le Corbusiers Maison Schwob verwandten Halle des Serralves- Hauses wiederum lebt im grossen Eingangsfoyer des Museums weiter. Von hier aus entwickelt sich das Raumgefüge - im Widerspruch zur klassischen Promenade architecturale - geradezu labyrinthartig. Man ist deshalb geneigt, ähnlich wie bei Sizas Museum für zeitgenössische Kunst in Santiago de Compostela, dessen museographische Errungenschaften in Porto noch verbessert wurden, von einer wunderbaren Raumvermehrung zu sprechen. Obwohl Siza mit seinen klar definierten, bald natürlich, bald künstlich erhellten, aber niemals neutralen Ausstellungsräumen ein Gegenstück zu den von Kuratoren geliebten Fabrikhallen geschaffen hat, überzeugen sie durch ihre Flexibilität. Einzig die etwas allzu plastische Durchformung der Decken mit den Oberlichtverkleidungen in Form umgekehrter Tische und die betörenden Ausblicke treten mit den Exponaten bisweilen in Konkurrenz. Dafür macht sich niemals Schwere breit; und man kann sich im komplexen Raumgefüge stets zurechtfinden.


Sammlungsräume - Sammlungsträume

Die vielfältige Verwendbarkeit dieses Musentempels veranschaulicht die von einem Star der iberischen Kunstszene, dem 41jährigen Direktor des Hauses, Vincente Todolí, organisierte Eröffnungsausstellung mit dem programmatischen Titel «Circa 1968» aufs schönste. Mit ihren nahezu 500 Exponaten - Malerei, Skulptur, Environment, Installation, Video und Film - von über 100 Künstlern markiert die Schau zudem den Anspruch dieses Hauses, das nicht nur im Sinne einer Kunsthalle ganz auf die Gegenwart bezogene Statements präsentieren, sondern durchaus auch historische Prämissen zur Diskussion stellen will. Die Schau verbindet auf eigenwillige Weise Positionen der Pop- und der Land-art (nicht aber der Minimal art), der Arte Povera oder des Düsseldorfer Kreises rund um Beuys mit portugiesischen, spanischen und iberoamerikanischen Ansätzen. Knapp zur Hälfte aus eigenen Beständen alimentiert und um käufliche Leihgaben von Künstlern und Galeristen ergänzt, soll sie den angestrebten Idealzustand des frühsten Segments der Sammlung skizzieren. Dass darin Highlights eher selten sind, wird wettgemacht durch eine Haltung, die - ganz im Sinne der «Schule von Porto» - die internationalen Strömungen von einer lokalen Warte aus befragt.

Anschliessend an die noch bis zum 29. August dauernde Eröffnungsschau, die gegenüber der Architektur des Neubaus und der alten Villa einen schweren Stand hat, sind ausser Präsentationen zeitgenössischer portugiesischer und internationaler Künstler eine multimediale Schau rund um den Choreographen Merce Cunningham und eine den Photographien und dem Bühnendesign von El Lissitzky gewidmete Ausstellung zu sehen (16. September bis 7. November). Danach sollen jährlich zwölf Ausstellungen gezeigt werden, acht davon mit internationalem Anspruch. Zu hoffen ist, dass das vom Museu Serralves seit nunmehr zehn Jahren an den Tag gelegte Engagement auch im neuen Haus weitergeführt werden kann, damit es nicht wie das Museum in Santiago auf Grund provinzieller Querelen zur Bedeutungslosigkeit absteigt. Doch gegenwärtig ist die Stadt am Douro mit der Kombination von Weltarchitektur und zeitgenössischer Kunst auf dem besten Weg dazu, sich von einem Aschenbrödel in einen Weltstar zu verwandeln, ohne dabei auf Showeffekte setzen zu müssen wie etwa Bilbao mit Gehrys Guggenheim-Museum.

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