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29. Mai 2021 Spectrum

Das „Leiner-Haus“ bekommt ein grünes Dach

Alle Jahre kehrt er wieder, der Sommer, und mit ihm steigt die Temperatur in der Stadt. Nun soll das Dach des ehemaligen Leiner-Hauses in der Mariahilfer Straße mit einem öffentlich zugänglichen Garten begrünt werden. Dieser wird Wiens Hitzeproblem nicht lösen – doch zeigt sich ein Weg in eine mögliche neue Richtung.

Angesichts der derzeitigen Witterung kann man es sich zwar noch nicht vorstellen, doch ein nächster Sommer steht bevor und damit die Hitze, die sich über die Städte legen wird. Wo die Sonne auf Beton und Ziegel knallt, wird Wärme gespeichert, und die darunter schmachtende Bevölkerung dreht alle zur Verfügung stehenden Ventilatoren und Klimaanlagen auf. Neben anderen Maßnahmen soll dem eine Begrünung der Städte entgegenwirken, und in unterschiedlichen Ausformungen rückt das Thema Stadtgrün spätestens dann wieder ins Zentrum des Interesses, wenn sich die Stadtbewohner nächtens bei über 30 Grad schlaflos in ihren Betten wälzen.

Große Städte sind absolute Hitzepole, die sogar lokale Klimabedingungen spürbar verändern können. Die aus den Beton- und Glasschluchten aufsteigenden Massen erhitzter Luft entwickeln gelegentlich einen derart mächtigen Sog, dass die feuchten Luftschichten nahe gelegener Meere angesaugt werden, wie etwa im Fall von São Paulo. Die Stadt, könnte man sagen, ruft auf diese Weise Unwetter und Überschwemmungen herbei. Die Begrünung der Städte soll diesen Effekten entgegenwirken, und da man sich bereits seit einigen Jahrzehnten wissenschaftlich mit der Thematik auseinandersetzt, darf man mittlerweile davon ausgehen, dass insbesondere die Entsiegelung zugepflasterter Flächen unten sowie die Begrünung von Dächern oben die nachhaltigsten Effekte aufweisen, wenn es um die Nachrüstung mit Grün geht.

Die Studienergebnisse divergieren, die pessimistischsten sprechen von einer Temperaturminderung von etwa sieben Grad Celsius, wenn – eine idealistische Annahme – die Hälfte der Dächer einer Stadt begrünt sind. Das Rathaus von Chicago hat bereits eine dieser Grünzonen unter dem Himmel, der Flughafen in Peking ebenso, und auf dem Dach der Technischen Universität von Singapur liegen die Studierenden im Grünen in der Sonne. Als man in der japanischen Stadt Fukuoka nach einem Baugrund für ein dringend erforderliches neues Verwaltungsgebäude suchte und lediglich der Stadtpark im Zentrum zur Verfügung stand, baute man eine Art Terrassengarten, der sich nun wie eine Hügellandschaft satt überwuchert durchwandeln lässt.

Dachgarten soll Mangel an Grünflächen kompensieren

Die Stadt Wien ist mit relativ vielen Park- und Grünflächen gesegnet, doch sind diese ungleich verteilt. Die Mariahilfer Straße hat zwar einen zauberhaften Alleebewuchs, doch die Gegend ist eine der dichtest verbauten der Hauptstadt, und für Grün ist kaum Platz. Nicht nur aus diesem Grund, aber doch auch als Pilotprojekt wird das soeben im Abriss befindliche ehemalige Leiner-Haus, eine Art Entrée an Österreichs meistfrequentierter Einkaufsstraße, einen öffentlich zugänglichen Dachgarten erhalten. Wie berichtet, wird dort bis Herbst 2024 ein Kaufhaus nach dem Vorbild des KaDeWe errichtet, sowie ein Hotel im anschließenden Baublock. Das Projekt ging aus einem internationalen, geladenen Wettbewerb hervor, beteiligt waren schwere Kaliber wie Snohetta aus Oslo, Hadi Teherani aus Hamburg und BIG Bjarke Ingels Group aus Kopenhagen. Den Zuschlag bekam das Projekt des renommierten holländischen Architekturbüros O.M.A., dessen Gründer und Galionsfigur Rem Koolhaas ist. Bauherrin und Wettbewerbsausloberin ist die Signa Gruppe, die 2018 die Kika-Leiner-Kette übernommen hat.

Ein Dachgarten über der Mariahilfer Straße wird Wiens Hitzeproblem nicht lösen, doch zeigt es den Weg in eine mögliche neue Richtung. Für die Betreiber soll die Parkanlage später Anziehungspunkt und Frequenzbringerin sein und als Alleinstellungsmerkmal wirken. Für die Landschaftsplanung über Dach zeichnet das Büro DnD, Anna Detzlhofer und Sabine Dessovic, verantwortlich. Worauf es wirklich ankommt, sagt Dessovic, seien die präzise Abstimmung und Zusammenarbeit aller Gewerke. Architektur, Statik, Haustechnik und Bauphysik müssen zusammenspielen, ohne „ein intensives Miteinander“ würde das nicht funktionieren. Hitze, Wind, Trockenheit würden den Pflanzen zu schaffen machen, wenn nicht für alle Eventualitäten vorgesorgt ist.

Tatsächlich stellt man sich das alles wesentlich einfacher vor, als es ist. Dessovic berichtet allgemein von steigender Begehrlichkeit, was begrünte Gebäude anlangt: „Doch dann legen die Auftraggeber Fotos von Projekten in Asien vor und müssen wieder in die Realität unserer Klimazone zurückgeholt werden.“ Auf dem Kaufhaus in der Mariahilfer Straße wird es jedenfalls eine sanfte Hügellandschaft geben, mit allem, was dazugehört: Wegen, Bäumen, mit Gräsern bepflanzte Zonen, dazwischen blühenden Stauden. Der Park ist etwa 1000 Quadratmeter groß. Er verfügt über einen eigenen Eingang, ist ohne Konsumzwang zu den üblichen Öffnungszeiten der Wiener Parks frei zugänglich und wird von einer fast doppelt so großen, ebenfalls begrünten, jedoch nicht betretbaren Dachfläche ergänzt.

Pflanzenvorhänge und echte Bäume

Die Landschaftsplanerinnen haben das gesamte Gebäude mit ihrem stimmigen Grünkonzept sozusagen durchzogen. So wird es im Galeriegarten im Bereich zwischen den Baublöcken Kaufhaus und Hotel einen Pflanzenvorhang geben, der Hotelinnenhof bekommt eine Seilkonstruktion für Kletterpflanzen, Hotel- und Restaurantterrassen werden ebenfalls begrünt. „Das alles allerdings in einer durchgängig gleichen Typologie“, sagt Dessovic, „also ruhig und ohne Firlefanz.“ Kurz noch zu den Bäumen: Flaumeichen, Rotkiefern, Tulpenmagnolien und die prachtvoll herbstgefärbten Persischen Eisenholzbäume geben das lichte Wäldchen über den Dächern von Wien.

Ein Dachgarten kostet Platz, erfordert hohe Aufbauhöhen, stellt hohe Anforderungen an Statik und Haustechnik. Plant man ihn von Beginn an als „Intensivbegrünung“ mit, wird die Sache realistisch. Will man jedoch ein Bestandsdach begrünen, wird man meist auf die „extensive Begrünung“ mit viel geringeren Flächenlasten und minimalem Pflegebedarf zurückgreifen. Die Begrünung von Fassaden hingegen bleibt eine fragwürdige Variante, denn dabei handelt es sich um einen hoch technischen Vorgang, der von Außenstehenden gewöhnlich krass unterschätzt wird.

Es reicht nicht, ein Klettergerüst an der Fassade zu montieren und ein paar Kletterpflanzen einzugraben. Dessovic: „Der Aufwand wird vielfach völlig unterschätzt, und es wird vieles falsch gemacht, bis hin zur ungeeigneten Maschenbreite der Klettergerüste und den verwendeten Pflanzen.“ Für die Landschaftsplanerinnen war somit neben den technischen Voraussetzungen die Wahl der richtigen Gewächse maßgeblich. Der Park auf dem Dach soll ein ausgeklügeltes Puzzle sein, in dem es je nach Jahreszeit unterschiedliche Blühstimmungen sowie Wind- und Lichtspiele in Gräsern und Bäumen geben soll. Nach seiner Eröffnung wird er von Fachpersonal zu betreuen sein – ein Aspekt, der auch gerne vergessen wird.

5. April 2021 Spectrum

Stadtflucht mit Tiny Houses: So putzig ist die Zukunft

Die diversen Lockdowns haben eine neue Sehnsucht nach dem Häuschen in der grünen Freiheit entfacht – eine teure Angelegenheit, nicht nur in der Anschaffung. Das Tiny House hingegen stellt die flexible Minimalvariante der vorübergehenden Stadtflucht dar.

Nach einem Jahr unter der lähmenden Glocke der Pandemie bestehen kaum Zweifel daran, dass die Welt nur verändert aus dieser Krise hervorgehen kann. Möglicherweise wird der Wandel langfristig sogar markanter ausfallen, als wir uns dieser Tage auszumalen imstande sind. Denn der Fermentationsprozess hat erst eingesetzt, und jetzt schon gärt es in den unterschiedlichsten Lebensbereichen quer über den Globus. Das Virus besetzt Verhalten und Denken, es entzweit Familien und spaltet Gesellschaften entlang vorhandener, doch nie verhandelter Haarrisse. Andererseits bündelt es die Kräfte, etwa die der Wissenschaften. Es spaltet und vereint, lähmt und beschleunigt zugleich, und es wird selbstverständlich auch die Gestaltung unserer Arbeits- und Lebenswelten beeinflussen, und damit unmittelbar die Architektur.

Was bedeutet es etwa, wenn wir künftig einen Teil der Büroarbeit zu Hause erledigen und das fraktale Arbeiten zum Alltag wird? Die endlich aufgeworfene Frage ist viel größer als die nach hastig daheim aufgestellten Schreibtischen und novellierten Gesetzestexten, denn sie umfasst ebenso veränderte Mobilität, optimierte vernetzte Technologie und führt letztlich zu adaptiertem Städtebau, vielleicht sogar zu einer veränderten Sicht der Raumordnung. Wer den Optimismus noch nicht verloren hat, könnte in der sogenannten Krise also auch die viel gepriesene Chance sehen, denn wann, wenn nicht jetzt kann, ja sollte manches hinterfragt und vielleicht sogar niedergerissen werden, was bisher als in Beton gegossen galt?

Apropos: Die Annahme, als Haus gelte prinzipiell nur, was auf Fundamenten ruhe, war schon vor der Pandemie falsch. Vor allem in den USA ist das Bewohnen mobiler Kleinhäuser seit Jahrzehnten Usus. Wer umziehen will, nimmt sein Häuschen Huckepack, stellt es auf Räder und sucht das Weite. Für eine erhebliche Beschleunigung und Neubewertung dieser zuvor typisch amerikanischen Wohn- oder besser Lebensform sorgte ab 2007 übrigens die Finanzkrise. Die Idee des sogenannten Tiny House erreichte schließlich auch Europa. Der Unterschied: In der in vielen Bereichen hoffnungslos überregulierten Alten Welt ist alles verboten, was nicht erlaubt ist, während es in den USA genau umgekehrt ist.

Vorübergehende Stadtflucht

Doch die diversen Lockdowns haben vor allem in den Städten begreiflicherweise eine neue Sehnsucht nach dem Häuschen da draußen in der grünen Freiheit entfacht. Diese Stimmungslage schlägt sich auch in der Entwicklung des Immobilienmarktes nieder. Stadtwohnungspreise stagnieren, während im städtischen Umland Grundstücks- und Hauspreise steigen. Doch so ein Haus ist eine teure Angelegenheit, nicht nur in der Anschaffung. Es muss gepflegt und betreut, beheizt und an die versorgenden Stränge der Gemeinden angeschlossen werden. Das Tiny House hingegen stellt die flexible Minimalvariante der vorübergehenden Stadtflucht dar. Im Idealfall ist es eine autarke Wohneinheit auf Rädern, ein millimetergenau konzipiertes, optimiertes Häuschen, das im Hintergrund noch dazu mit perfektionierter Haustechnik, diversen Nutz- und Frischwasserkreisen und einer ausgeklügelten Toilettenanlage ausgestattet ist und von Solarenergie gespeist wird. Kurzum, eine zwar sehr kleine, doch funktionstüchtige Wohneinheit ohne Baugenehmigung und ohne Fundamente.

Mittlerweile sind auch hierzulande die unterschiedlichsten Produzenten auf den mobilen Haus-Tross aufgesprungen und bieten fixfertig assemblierte Tiny Houses unterschiedlichen Formats und Charakters an. Ab etwa 40.000 Euro sind die billigsten schon zu haben. Das Minihaus liegt voll im Trend und beflügelt etwa zuvor eingefleischte Stadtmenschen dazu, abgelegene Grundstücke zu pachten, die Kinder einzupacken und Wald und Wiese den Sommer über zum Wohnzimmer zu erklären. Doch noch steht, wer mit einem dieser mobilen Wochenendhäuschen liebäugelt, vor einem Dickicht bürokratischer Hürden, die noch dazu je nach Bundesland ganz unterschiedlich gestaffelt sind. Und das ist nicht das einzige Problem, das nun – von allen Instanzen klug durchdacht – zu lösen wäre.

Der zweite Schwachpunkt liegt in der Architektur selbst. Denn die gestalterischen Vorbilder der neuen Tiny Häuser scheinen Almhütten einerseits, reduzierte Fertigteilkisten andererseits gewesen zu sein, wobei gegen keines der beiden im Normalformat auch nur das Geringste einzuwenden ist. Doch die Idee des mobilen Hauses führt sich ad absurdum, wenn es letztlich nur eine vereinfachte Verkleinerung des Großen darstellt und zudem Sondergenehmigungen für den Transport eingeholt werden müssen. Architektur und Kreativität wären hier gefragt, auf dass eine Hochzeit von Technologie und Design, Funktion und Gestalt auf höchstem Niveau stattfinde.

Unerreichtes Vorbild

Tatsächlich gibt es ein bis dato unerreichtes Vorbild, sozusagen den Rolls Royce unter den Tiny-House-Ahnen, und das entsprang in einer völlig anderen Zeit und unter anderen Voraussetzungen dem Erfindergeist eines gewissen Wallace „Wally“ Merle Byam. Der Amerikaner Jahrgang 1886 baute in den 1920er-Jahren eigenhändig eine aerodynamisch geformte Wohnzelle und setzte sie auf das Fahrgestell eines alten Ford. Der Grund: Seine Frau hatte das Campen im Zelt satt. Sogleich entwickelten Wallys Nachbarn Begehrlichkeiten und fragten an, ob er ihnen nicht auch so ein mobiles Miniheim bauen könne. Da ihn die Nachfrage zu überrollen begann, verkaufte er eine Zeitlang kurzerhand die Baupläne.

Doch Wally war ein geschäftstüchtiger Charakter, der die Zeichen der Zeit deutete. Er tat sich mit einem Luftfahrtingenieur und damit mit einem Profi für Leichtbauweise und optimale Raumausnutzung zusammen. Gemeinsam konstruierten sie in Anlehnung an einen Flugzeugrumpf einen extrem leichten, stromlinienförmigen Wohnwagen aus Aluminiumrippen und -platten, den sie aufgrund der schnittigen aerodynamischen Erscheinung „Airstream“ nannten. Das metallisch glänzende Konstrukt wurde bis dato über acht Jahrzehnte laufend optimiert, besser gedämmt, mit noch feinerer Technologie ausgestattet und wintertauglich gemacht. Es wurde in verschiedene Modelle und Größen gegossen – und es ist immer noch der qualitativ unerreichte Industriedesignklassiker unter den mobilen Behausungen.

Vielleicht liegt es daran, dass der leichte, wendige Alu-Zeppelin letztlich eine eigene Spezies darstellt und gar nie versucht hat, ein Haus zu sein. Er ist, was er von Beginn an sein wollte, eine autarke, durchaus luxuriöse Unterkunft, die sich ohne großen Aufwand bewegt. Die Evolution der Tiny Häuser hat gerade erst begonnen, als Wochenenddomizil, als temporär ver- oder mietbare Unterkunft und dergleichen mehr, jedenfalls aber als ein kleines Element des Wandels, den wir gerade erleben.

28. Dezember 2020 Spectrum

Wie Denkmalschutz Entlastung sein könnte

Weihnachten – da wird man sich schon etwas wünschen dürfen. Von der Politik zum Beispiel, den Besitzern denkmalgeschützter Gebäude das Leben zu erleichtern und zugleich das geschützter Häuser in Würde zu verlängern. Drei Maßnahmen, wie eine Unterschutzstellung nicht mehr Last, sondern Entlastung sein könnte.

Im Eingangsbereich der alten Bösendorfer Manufaktur im vierten Wiener Gemeindebezirk hing bis zum Verkauf des Traditionsunternehmens im Jahr 2007 ein schlicht gerahmter Aushang. Er war mit 1902 datiert, von Ludwig Bösendorfer formuliert und folgenden Inhalts: „An meine Herren Mitarbeiter! Da die eingehendste und längste Hausordnung immer lückenhaft sein wird, beschränke ich mich auf Folgendes: 1. Ich beanspruche von meinen Mitarbeitern möglichst gute Arbeit und Anständigkeit. 2. Dagegen haben meine Mitarbeiter selbstverständlich das Recht, von mir ebenfalls Anständigkeit und möglichst hohe Bezahlung zu beanspruchen.“

Das wäre ein beglückend einfacher Verhaltenskodex mit hoher Wirkkraft, wenn sich jeder an die Spielregeln hielte. Er ließe sich auch heute noch in vielerlei Hinsicht übertragen, doch geht unser aller Handeln zwischenzeitlich in einer Flut von Paragrafen und Normen unter, die das Leben bis zur Form der Türklinken bestimmen. Der lateinische Begriff für Anstand lautete Decorum. Er war nicht nur für Rhetorik und Benehmen jedes Einzelnen Maßstab, sondern zog sich quer durch die Gesellschaft, bis hin zur Architektur, und um den anständigen Umgang mit Letzterer soll es hier gehen.

Österreich ist eine mit historischer Bausubstanz gesegnete Nation, und damit sind nicht nur Schlösser, Burgen und andere herrschaftliche Gebäude gemeint. Tatsächlich sind diese Repräsentationsgebäude in der Minderheit. Allerorten finden sich historische Gebäude, oft über Generationen gepflegt, viele von ihnen uralt, etliche jedoch auch Meilensteine der jüngeren Architekturgeschichte, allesamt Dokumente ihrer Zeit, die schützens- und erhaltenswert sind. Doch die Rahmenbedingungen für alte Gemäuer stehen unter einem schlechten Stern. Das sollte sich ändern. Heute ist Weihnachten, da darf man sich was wünschen, und dieser Wunsch richtet sich an die Politik, denn sie hätte es in der Hand, den Besitzern das Leben zu erleichtern und zugleich das ihrer geschützten Häuser in Würde zu verlängern. Zu diesem Zweck bedürfte es dreier Maßnahmen, wie sie in anderen europäischen Nationen übrigens längst Usus sind und zur Folge hätten, dass eine Unterschutzstellung nicht mehr wie bisher Bürde, sondern Erleichterung wäre.

Erstens: Es braucht dringend eine steuerliche Entlastung. Die Kulturnation Österreich regelt den Umgang mit historisch wichtigen Gebäuden über ein recht strenges Denkmalschutzgesetz, was sinnvoll und begrüßenswert ist, und verfügt über ein Team von Denkmalschützern, deren Einsatz zu preisen ist. Doch für Hausbesitzer stellt der Status des Denkmalschutzes eine Belastung dar. Außer dem Bewusstsein, ein kulturhistorisch bedeutendes Haus zu besitzen, erwachsen daraus keinerlei Vorteile, sondern lediglich Auflagen und Verpflichtungen. Kurzum: Das Gesetz verlangt viel, unterstützt jedoch nichts. Zwar gibt es Förderungen, doch die sind minimal und decken niemals die Mehrausgaben ab, die sich ergeben, wenn etwa klapprige Holzkastenfenster eben nicht durch Kunststoff-Einheitsware ersetzt, sondern restauriert oder erneuert werden müssen. Zumindest die Differenz, also die erforderlichen Mehrausgaben, darüber ist sich die Fachwelt einig, sollte steuerlich abschreibbar sein. Das würde sowohl dem Bestand als auch dem Denkmalamt entgegenkommen und den Denkmalschutz nicht mehr nur zur Belastung deklarieren. Derzeit befinden sich etwa 36.000 Objekte unter Schutz, doch es könnten, ja sollten viel mehr sein.

Zweitens: Befreiungsschlag gegen die Mühsal der Normen und Haftungen. Wie eingangs erwähnt, regelt ein dichter Filz aus Direktiven und Paragrafen unser aller Dasein. Hielte man bei einer Restaurierung alle Vorschriften ein, die auch bei Neubauten die Architekturwelt zunehmend quälen und das Bauen jüngst extrem verteuert haben, würde das den Untergang jedes Baudenkmals bedeuten.

Beispiele: Zu niedrige Steinbrüstungen, über die jahrhundertelang zwar niemand gestürzt ist, die jedoch nicht mehr der Sicherheitsnorm entsprechen und erhöht werden müssen, da andernfalls der Besitzer für Unfälle haftet. Gotische Portale, die unvorschriftsmäßig eng und niedrig sind und nach heute geltender Norm vergrößert werden müssten, damit sich keiner den Kopf anstößt und zum Schadenersatzanwalt marschiert. Prachtvolle Stiegengeländer, deren Sprossenabstände nicht zeitgemäß, weil zu breit sind und durch läppische Zusatzmaßnahmen gesichert werden müssen. Fassaden, die nur unter Zerstörung des Gebäudes thermisch saniert werden können, und dergleichen tausendfach mehr.

Gleichzeitig vernichtet eine Sanierungs- und Verwertungswut die nicht geschützte historische Substanz. So riss man, bis dem endlich ein Riegel vorgeschoben wurde, prächtige Jahrhundertwendehäuser in der Hauptstadt ab, weil die Immobilienindustrie offenbar von einer maßlosen Gier beseelt ist. Kleiner Exkurs: Wenn heute ein Immobilienmakler mit dem Verkauf eines Gebäudes mehr an Provision kassiert, als der Architekt wenige Jahre davor an der gesamten Planung desselben Hauses verdient hat, ist ein System auf das Absurdeste in Schieflage geraten. Auch das ist ein Teil der Misere.

Drittens: Sinnvoller und behutsamer Ensemble- und Umgebungsschutz, vor allem im dörflichen Bereich. Das ist ein heikles, doch wichtiges Thema, das sich keinesfalls gegen die zeitgenössische Architektur wendet, sondern lediglich eine Beachtung des Ensembles verlangt. Dass sich neben einem Biedermeierhaus ein Wolkenkratzer selten gut macht, leuchtet wahrscheinlich ein. Doch die Nation verfügt nicht nur über besagten Schatz an Altem, sondern auch über eine Architektenschaft, die spielend damit umgehen könnte, so man sie ließe.

Als Ludwig Bösendorfer in seiner Halle sein Credo an die Wand nagelte, war der Architekt Adolf Loos bereits von seinem USA-Aufenthalt zurückgekehrt und in Wien sesshaft geworden. 1908 eröffnete seine American Bar, heute Loosbar genannt, im Kärntner Durchgang in der Innenstadt. Ein winziges Lokal und ein Schmuckstück seiner Zeit. Was hätte hier im Laufe des Jahrhunderts alles zerstört werden können. Doch man hat sich gut um das 25 Quadratmeter kleine Juwel gekümmert und nur behutsam eingegriffen. Seit 1959 steht die Bar unter Denkmalschutz, 1989 wurde sie von Burkhardt Rukschcio restauriert, und Hermann Czech rekonstruierte in der ihm üblichen Sorgfalt die verloren gegangene Originalfassade. Anlässlich des 150. Geburtstags von Adolf Loos schrubbten versierte Fachleute heuer im Frühjahr die Patina von der prächtigen marmornen Kassettendecke, allerdings nicht unter der Obhut des Denkmalamtes, denn das wäre, nebst der Begutachtung, unleistbar gewesen.

8. November 2020 Spectrum

Hof, streck dich!

Abenteuer Restaurierung: Die Wiederbelebung von Altbestand in Dorflage muss nicht teurer sein als ein Neubau. Ein Architekt zeigt vor, wie man die traditionellen Streckhöfe retten kann. Besuch im Burgenland.

Manche Bilder bleiben erinnerlich, auch wenn sie nur im Kopf entstehen. Ein solches zeichnete Axel Corti vor langer Zeit allein mit seiner Stimme und seiner Sprache: In einem seiner legendären „Schalldämpfer“ betrauerte er das Verschwinden eines schmalen alten Hauses, das ihm von seinen Spaziergängen lieb und vertraut gewesen war. Es war abgerissen worden, und an seiner Stelle klaffte nun ein Loch in der Häuserzeile. Im zuvor tadellosen Gebiss des Dorfes sei eine Zahnlücke entstanden, ein unnötiger Verlust.

Tatsächlich haben viele über Jahrhunderte gewachsene und gepflegte Dörfer seit Cortis Zeiten nicht dazugewonnen, im Gegenteil. Die Wegwerfgesellschaft radiert ein altes Haus nach dem anderen aus, die Zentren verkommen, dafür rahmt das Passepartout der hässlichen Speckgürtel und Einfamilienhaus-Schachbrettmuster das vormals stimmige Bild ein. Zugleich ist Österreich trauriger Europameister, was den Bodenverbrauch anlangt. Die jährlich hierzulande verbaute Fläche entspricht der Größe Eisenstadts. Der dort ansässige Architekt Klaus-Jürgen Bauer verbrachte den ersten Lockdown im März damit, nachzudenken und ein optimistischeres, möglicherweise revolutionäres Bild zu malen. Ihm geht es um die leistbare und ökologisch sinnvolle Rettung der traditionellen Streckhöfe, die lange Zeit die Landschaft Pannoniens bis nach Rumänien prägten: „Unendliche Abfolgen von geschlossenen Häuserzeilen, bestehend aus weiß gekalkten, meistens nur zweifenstrigen, übergiebelten Hausfronten und großen Toreinfahrten bildeten hierzulande einmal Dorflandschaften von unfassbarer Schönheit und Harmonie.“

Viele dieser Landschaften sind verschwunden oder zumindest löchrig geworden, vieles wurde abgerissen oder steht heute leer und verfällt. Bauer ruft potenzielle Häuslbauer dazu auf, Mut zu fassen und die noch vorhandene Substanz zu retten und aufzuwerten. Vor allem will er den Leuten die Angst vor der Sanierung vermeintlicher Halbruinen nehmen, denn bei geschickter Planung und mit dem richtigen Know-how sei die Wiederbelebung eines solchen Objekts keinesfalls teurer als ein Neubau. Zu diesem Zweck arbeitete er im Frühjahr das Konzept eines Streckhof-Instituts aus. In den vergangenen Jahren hatte er sich an die zwei Dutzend dieser alten, schlichten Häuser angenommen. Er analysierte verwahrloste, teils einsturzgefährdete Gebäude, restaurierte sie mit traditionellem Können und entsprechenden Materialien und veredelte sie zu außergewöhnlichen Wohnhäusern. Mittels Streckhof-Instituts will er das gewonnene Wissen weitergeben, denn, so Bauer: „Obwohl die Höfe mitunter auf den ersten Blick schrecklich ausschauen, kann man jedes Haus retten und in einen zeitgenössischen Standard überführen.“

Zugleich soll jedoch erhalten bleiben, was man an alten Häusern so schätzt. Etwa ihre Unregelmäßigkeiten, die schönen Details, das besondere Flair einer Geschichte, die nicht unter dicken Wärmedämmschichten und anderen erdölbasierten Materialien erstickt werden darf. Wer nach zeitgenössischen Kriterien des Bauens und Sanierens an die Sache herangeht, ist Bauer überzeugt, wird teuer und ungesund bauen. Sein Interesse bestehe vielmehr darin, die teils an die 200 Jahre alte Baustruktur mit architektonischem Geschick, aber unter Verwendung jener traditionellen Mittel wiederzubeleben, die sie so lange Zeit gesund erhielten: „Ich will diese Welten wieder miteinander versöhnen.“ Die Häuser seien von einfachen Leuten auf simple, doch erprobte Weise gebaut, gepflegt und erhalten worden, sie zeichnen sich durch eine ausgesprochen robuste Substanz aus, wie die im Vergleich zu vielem Zeitgenössischen methusalemisch lange Lebensdauer untermauere.

Tatsächlich regt sich zunehmend Interesse an den alten Gemäuern, was unter anderem, doch nicht nur der herrschenden Pandemie geschuldet ist, in der das Haus auf dem Land verstärkt wieder zum Sehnsuchtsobjekt wurde. Bauer registriert auch bei der jüngeren Bauherrschaft eine Trendumkehr, die Hoffnung nach einer „Alternative zur ewig gleichen Schuhschachtelwelt“ der Einfamilienhauszonen. Die traditionellen Streckhöfe des Ostens passen ausgezeichnet in dieses Bild. Die langen schmalen Gebäude zeichnen sich meist durch eine straßenseitig gelegene Wohnzone aus, die in adaptierbare und erfreulich großzügige Wirtschaftsgebäude übergeht, Hof und eingefasster Garten inklusive. Wer Glück hat, findet auch Keller mit großartigen Gewölben vor, Dachstühle, die freigelegt und in die Wohnlandschaft integriert werden können. Man müsse, so der Architekt, diese Objekte als „Rohbauten in optimaler Dorflage“ betrachten, die „mit Fingerspitzengefühl wieder aktiviert werden können“.

Das Burgenland hat dazugelernt und eine Streckhof-Förderung erwirkt, doch nützt diese nichts, wenn die leer stehenden Wohngebäude von ihren Besitzern zurückgehalten werden und weiter verfallen. Deshalb wird zurzeit eine Novelle der Raumordnung erarbeitet, die über diverse Regulierungen darauf abzielt, Grundstückspreise zu deckeln und den Bestand an historischer Bausubstanz insbesondere in den verkommenden Ortszentren zu aktivieren und verfügbar zu machen. Die Höfe sind von überschaubarer Dimension und derzeit noch halbwegs preiswert.

Das Streckhof-Institut versteht sich als Ratgeber für alle Fragen, die bei der Sanierung auftauchen: von der Trockenlegung feuchter Fundamente über die Planung der Raumfolgen bis zum Erhalt schöner Kastenfenster und anderer Elemente wie des Katzensteigs auf dem Dach, des gemauerten Spions neben dem Portal und dergleichen. „In den Städten“, so der Architekt, „etablieren sich zunehmend Repair-Cafés, in denen Bastler sitzen und Verschiedenes für ein paar Euro reparieren. Genau so eine Kultur brauchen wir auch beim Bauen, und das insbesondere auf dem Land.“ Wer überlegt, sich in ein solches Abenteuer zu begeben, könnte einen Blick in das Streckhöfe-Lookbook werfen und sich vom Reiz dieser einfachen, doch in dörflicher Summe so raffinierten Bauform überzeugen.

Fest steht, dass die Nachfrage steigt. Mehrere Anfragen pro Woche, so Bauer, belegen das, wobei die potenziellen Streckhof-Interessenten aus dem gesamten Bundesgebiet stammten, sogar aus Vorarlberg. Man habe die Schönheit des Burgenlandes wiederentdeckt und auch die Lust, scheinbar wertlos Gewordenes liebevoll und mit den richtig gesetzten Handgriffen aufzuwerten und wieder mit Leben zu befüllen.

15. August 2020 Spectrum

50 Jahre Kleines Café: „Heast, ist das ein schönes Lokal!“

Anno 1970 gelang es Hermann Czech, in einen verwinkelten historischen Bestand eine kleine – nomen est omen – Besonderheit zu setzen: das Kleine Café am Franziskanerplatz. Wiederbegegnung mit einer Institution.

Der Architekt Hermann Czech und der vormalige Schauspieler und lebenslange Gastronom Hanno Pöschl müssen da jetzt einfach durch. Sie müssen es sich gefallen lassen, ein wenig gefeiert zu werden, auch wenn der eine nicht schon wieder als Kaffeehausarchitekt bezeichnet werden will und der andere keine Lust mehr auf Öffentlichkeit hat. Doch es wird ein runder Geburtstag begangen: Ein gemeinsames Kind, wenn man so will, feiert heute den 50er, und dieses Jubiläum des Kleinen Cafés am Wiener Franziskanerplatz bejubeln nicht nur die Stammgäste, sondern es darf auch zum Anlass genommen werden, über Qualität und Funktionalität, über Raffinesse und Zeitlosigkeit wirklich gelungener Architektur nachzudenken.

„Seit 50 Jahren“, sagt Hanno Pöschl, seinerzeit der Bauherr des winzig kleinen Cafés und immer noch sein Betreiber, „geh ich dort rein und denk mir jedes Mal: Heast, ist das ein schönes Lokal!“ Mit dieser Empfindung ist er nicht allein, doch wenn es von Beginn an nur schön und nicht auch klug durchdacht gewesen wäre, das süße Kind in der Wiener Innenstadt, hätte es die Jahrzehnte wohl nicht so unverwelkt überstanden. Tatsächlich ist es Hermann Czech gelungen, in einen verwinkelten, 400 Jahre alten Bestand ein, er möge den Ausdruck bitte verzeihen, Schmuckkästchen zu integrieren. Jedes Detail, jeder Einbau, jedes Material und jede Farbe steht sowohl im Dienst der Funktionalität für diejenigen, die die Kaffeehausmaschinerie bedienen und am Laufen halten, als auch für die Gäste, deren Rücken etwa von exakt kalkulierten Lederpolsterschwüngen gehalten, deren Blicke von Wandspiegeln in die Weite gelenkt werden.

Dabei entstand das Lokal, das heute in seiner Dichte wie in das alte Bestandsgemäuer hineingegossen wirkt, in mehreren Etappen. 1970 übernahm Hanno Pöschl als 20-Jähriger den ersten, ursprünglichen Gastraum. Der war lediglich 27 Quadratmeter klein, von zwei ungleichen Kreuzgewölben höhlenartig überspannt und hatte vormals einen Branntweiner, dann vorübergehend ein Nachtlokal beherbergt. Czech beließ die alten Holzlamperien der Sitznischen, verpasste ihnen einen glänzenden Anstrich, entwarf eine funktionale, kleine Schank und stattete den Raum mit einem umlaufenden Gesimsprofil aus, auf dem die Gäste ihre Gläser abstellen konnten.

Drei Jahre später ergab sich die Möglichkeit einer Erweiterung, als auf der Seite des Franziskanerplatzes die ebenfalls winzig kleine Räumlichkeit einer ehemaligen Fleischhauerei verfügbar wurde und an das Café angeschlossen werden konnte. Die Deckengewölbe beider Räume verlaufen auf demselben Niveau, der Fußboden des neu zu bespielenden Raumes liegt jedoch um 60 Zentimeter höher. Czech nutzte den architektonischen Geländesprung, den andere möglicherweise als Hindernis betrachtet und eliminiert hätten, perfekt aus. Er konzipierte den oberen Bereich des Kleinen Cafés für sitzende Gäste. Sie befinden sich auf Augenhöhe mit den stehenden Besuchern des unteren Bereichs und auch des Barpersonals, was einen eigenartigen Reiz entfaltet und das Gefühl verstärkt, man sitze oder blicke in ein Schatzkästchen aus undefinierbarer Zeit. Entlang beider Seiten befinden sich ledergepolsterte Sitzbänke mit bequem geschwungenen Rückenlehnen, deren Vorbild Czech in den Polstersitzen von Kutschen in der Schönbrunner Wagenburg fand. Zum Raffiniertesten in diesem Raum zählt Czechs Spiel mit den nicht sehr tiefen, bereits vorhandenen Nischen in den unter dem Gewölbe zurückversetzten Wänden. Mit scheinbar massiven, tatsächlich aus Abbruchsteinen auf Gehrung geschnittenen Marmorpfeilern unterschiedlicher Färbung werden die über den Sitzbänken mit Spiegeln ausgestatteten Wände in der Vertikalen zu Nischen unterteilt, für die horizontale Teilung sorgt der darüber befindliche Einbau des hölzernen Stauraums.

Nur wer genau hinschaut, bemerkt, dass jeder Sturz dieser vermeintlichen Mauerung einen leichten Schwung aufweist, eine flache Parabel, deren Kante mit einer Zierleiste ausgestattet ist, die wie ein Seil aussieht. Wer nicht genau schaut, spürt den Schwung zumindest. Auch das Spiel der Spiegel darunter wird erst verständlich, wenn man schließlich Platz nimmt: Die Pfeiler erscheinen nun dreifach, denn Czech setzte jeweils einen quadratischen vor, einen halben direkt an die Spiegel. Auch die beiden Glühbirnen jeweils unter der Leibung erscheinen auf diese Weise vervierfacht.

Scheinbare Kleinigkeiten wie die alten Bodenkacheln, teils Bestand, teils ergänzt, Farben, die einander ideal aufwerten und in der gesamten Komposition gar nicht mehr bewusst im Einzelnen wahrgenommen werden, und dazwischen alles, was ein Kaffeehausbetrieb erfordert, auf kleinstem Raum untergebracht: „Hermann Czech ist einer dieser wunderbaren Architekten, die auch die Größe und die Gabe haben, auf die Funktionalität und auf die Bedürfnisse des Betreibers einzugehen. Man bespricht mit ihm, wie viele Gläser verstaut werden müssen und wie viele Flaschen, oder wo die Kaffeemaschine stehen soll – da lässt er sich dreinreden“, sagt Hanno Pöschl. „Und das Optische macht dann er.“

Pöschl und Czech verbindet eine lange Zusammenarbeit, aus der mehrere legendäre Wiener Lokale hervorgingen, etwa auch das Salzamt und die Wunderbar. Im Falle des Kleinen Cafés, sagt Pöschl, empfinde er sich mittlerweile weniger als Besitzer denn als „Museumsverwalter“: „Ich bringe keinen Pinselstrich an, den der Hermann nicht abgesegnet hat.“ Hermann Czech, einer der wohl intellektuellsten und gebildetsten Architekten nicht nur seiner Generation, formulierte bereits 1970 in seiner Filmdokumentation über Adolf Loos sein Credo: „Eine Architektur, die nicht auf Verzierungen, sondern auf Raumwirkungen beruht, veraltet nicht. Sie bleibt Ausdruck und Hintergrund für die widersprechenden Neigungen des modernen Menschen: Bequemlichkeit, Repräsentation, Ironie.“

Das Zitat ist in der erst unlängst publizierten, bewundernswert genauen Werkbiografie von Eva Kuß nachzulesen: „Hermann Czech, Architekt in Wien“ (Park Books) analysiert das raumgreifende Universum seiner Architekturen in ausgewählten Projekten. Die heutige Situation schätzt der 1936 in Wien geborene Architekt ähnlich, doch der Zeit gemäß ein: „Eine informelle, heterogene und undoktrinäre Architektur ist nicht mehr die Ausnahme. Es ist ein intellektueller Fortschritt, dass ein neues Weltbild nicht mehr durch formale Trends, neue ,Stile‘ und dergleichen simuliert werden kann, sondern dass Änderungen sich durch neue Bedingungen wie Digitalisierung und Klimawandel begründen oder erzwingen. Viele wollen das noch immer nicht wahrhaben, schaffen aber Rülpser und triviale Ornamentik statt Sprache.“

Apropos Änderungen: Die ewigen Gerüchte, das Kleine Café werde verkauft oder zugesperrt, versetzt Stammgäste regelmäßig in Unruhe, ja fast in Panik. Nichts da, sagt Pöschl, er höre das seit 49 Jahren, und auch diesmal sei nichts dran an dem Gerede.

13. Juni 2020 Spectrum

Ein Stall, der wandern kann: Architektur für Hühner

Artgerechte Hühnerhaltung auf der Wiese: Der Mobei-Hühnerstall bietet ausgeklügelte Technik und den Tieren alles, was sie brauchen – inklusive Aufenthaltsraum. Zu Besuch in Rohrbach bei Ternitz.

Bereits im Jahr 1977 stellte der britische Schriftsteller und Kunstkritiker John Berger eine betrübliche Entwicklung in den Mittelpunkt seines berühmten und eindringlichen Essays „Why Look at Animals?“: „Überall verschwinden die Tiere.“ Seine Betrachtungen über den Umgang des modernen Menschen mit dem Tier, zumal mit dem Nutztier, lesen sich heute aktueller denn je, und die Ursache ist bekannt: „In Westeuropa und Nordamerika setzte im 19. Jahrhundert ein Prozess ein – an dessen Ende heute der korporierte Kapitalismus des 20. Jahrhunderts steht –, durch den alle Traditionen, die bisher zwischen dem Menschen und der Natur vermittelt hatten, zerbrachen.“ Der moderne Mensch verhätschelt zwar ein Haustier, doch Kuh und Schwein begegnen ihm nur noch im Kühlregal, portioniert und zerlegt, säuberlich und ohne Fell und Borsten, abgepackt und zur Ware degradiert. Ihr Leben haben diese Tiere meist dicht gepackt in Ställen verbracht, ohne je die Sonne gesehen zu haben.

Auch die Hühner, die bis in die 1970er-Jahre in ländlichen Gegenden ein allgegenwärtiger Anblick waren, sind aus dem Blickfeld Richtung Legebatterie verschwunden. Doch das ändert sich da und dort gerade, und die Wiederkehr des Huhnes im Freien ist nicht zuletzt der formidablen Erfindung des mobilen Hühnerstalls zu verdanken. Diese charmante Konstruktion verknüpft artgerechte Tierhaltung mit moderner Technologie, und alle haben was davon. Die Hühner, weil sie damit wieder ihren Lieblingsbeschäftigungen nachgehen, Gras und Käfer picken und Gruben ausscharren können, in denen sie so gerne sandbaden und ihr Gefieder reinigen. Die Kunden, weil sie die besten aller Wieseneier geliefert bekommen. Die Landwirte, weil ihnen die kleine Stallmaschine enorm viel Arbeit abnimmt und sie mit Fug und Recht behaupten können, glückliche Hühner zu beherbergen.

Aber zuerst zum Huhn. Man kann es zwar einsperren, doch benötigt es für sein Wohlbefinden viel Platz. Es fühlt sich an der frischen Luft am wohlsten, idealerweise in einer Wiese, durch die es scharrend und pickend schreiten kann. Es braucht sehr viel Trinkwasser und eine eiweißreiche Nahrung – schließlich legt es fast jeden Tag ein Ei. Zu alledem benötigt es Sicherheit in Form eines abgeschlossenen, zugfreien Raums, in dem es nächtens auf einer Stange aufsitzt, und in dem ihm Marder und Fuchs nichts anhaben können. Das klingt einfacher, als es ist. Denn Hühner pflegen den Wiesenboden binnen kürzester Zeit mit erstaunlich kräftigen Krallen zu einer Art Wüstenei zu zerscharren – eines der Hauptprobleme der Freilandhaltung. Nackten Boden mögen Hühner nicht, sie vertragen ihn auch schlecht und werden darauf krank.

Die beiden Jungbauern Magdalena und David Posch aus Rohrbach bei Ternitz waren die längste Zeit ein Geheimtipp als Lieferanten frischer Wieseneier, doch ihre drei Dutzend Hühner, bis dahin beheimatet im Stall samt Auslauf, waren der Nachfrage nicht gewachsen. Die Lösung dieses Problems steht nun seit Februar in Form eines sogenannten Mobei-Hühnerstalls auf einer großen Wiese. Der mit ausgeklügelter Technologie bestückte Container von einem deutschen Start-up-Unternehmen beherbergt 280 Legehennen und versorgt sie mit allem, was sie brauchen.

Im oberen Geschoß befinden sich der Länge nach die Sitzstangen und die mit weichem Material ausgekleideten Legenester. Letztere sind so konstruiert, dass die Eier sanft in eine vertiefte Rinne kollern, wo sie eingesammelt werden können. Der Kot fällt durch ein Gitter auf eine auf Rollen gelagerte Plane, die das Ausmisten vergleichsweise zum Vergnügen macht. Auf Knopfdruck setzt sich der Mechanismus in Bewegung, und der Hendldreck kann an der Schmalseite des Stalls einfach aufgefangen werden. Die untere, bodennahe Etage ist mit der oberen durch eine kleine Treppe verbunden und dient als Aufenthaltsraum für die Vogelschar. Morgens öffnen sich automatisch die Klappen, sodass die Damen ins Freie schreiten können. Abends schließen sie sich ebenso automatisch wieder, wenn die Sonne untergegangen und das letzte Huhn nach Hause gegangen ist.

Für die Stromversorgung des Hühnerheims ist eine Fotovoltaikanlage verantwortlich, als Speicher dienen zwei Batterien. Notfalls kann der Stall an das Stromnetz angeschlossen werden, doch das war bisher nie der Fall. Auch das Füttern und Tränken erfolgt automatisiert. Ein Förderband transportiert das Futter in einer Rinne durch die gesamte Länge des Stalls, sodass die Hühner genug Platz haben, um zu speisen und nicht um das Futter raufen müssen. Parallel dazu verläuft die Tränke, die dank eines Ausgleichsgefäßes auch in leichter Schräglage immer Wasser spendet. Das ist unbedingt notwendig, da der mobile Stall alle paar Wochen seinen Standort auf der Wiese wechselt, damit auch sie gesund bleibt. Zu diesem Zweck erhebt sich der Container hydraulisch auf seine Räder und wird mit dem Traktor ein paar Hundert Meter ins frische Gras weitergezogen und abgestellt. Dann muss nur noch der elektrische Hühnerzaun versetzt werden, und die Damen verfügen wieder über saftig frisches Wiesengrün.

Die Eier gibt es gleich nebenan im 24-Stunden-Shop, sieben Tage die Woche. Denn was sich mit Gemüse und Obst aus eigener Produktion bereits seit einigen Jahren bewährt, funktioniert auch mit den Eiern. Magdalena Posch: „Durch die immer längeren Öffnungszeiten von Betrieben und Firmen ist es manchen nicht mehr möglich, in Ruhe Einkäufe zu erledigen. Daher wollten wir jedem die Möglichkeit bieten, rund um die Uhr frisches, saisonales Gemüse zu erwerben.“ Das Selbstbedienungsprinzip wird so gut angenommen, dass die Eier schon wieder ständig ausverkauft sind. Deshalb wird es demnächst ein paar Wiesen weiter noch einen mobilen Hühnerstall geben.

John Berger, der in seinem französischen Bergexil nur dann Besucher empfing, wenn keine agrarische Beschäftigung ihn davon abhielt, hätte das Mobei bestimmt gefallen. Noch bleibt die Ausnahme die Regel, noch hat der große alte Mann recht: „Überall verschwinden die Tiere. In den Zoos sind sie das lebende Monument ihres eigenen Untergangs geworden.“ Doch was die Zukunft der Landwirtschaft anlangt, irrt er hoffentlich, denn gerade die klugen Nahversorger, also sowohl unternehmerisch als auch mit dem Herzen denkende Leute wie die Familie Posch, könnten den Beginn einer Veränderung markieren. Möge Berger also wenigstens in diesem Detail fehlgehen, wenn er sonst schon in allem recht hat: „Der Verdrängung der Tiere folgen heute die Verdrängung und die Abschaffung der einzigen Klasse, die in der Geschichte immer mit Tieren vertraut war und sich jene Weisheit bewahrt hat, die eine solche Vertrautheit mit sich bringt: der mittlere und der kleine Bauer. Diese Weisheit besteht im Akzeptieren des Dualismus, der der Beziehung zwischen Mensch und Tier zugrunde liegt. Wahrscheinlich ist die Ablehnung dieses Dualismus ein wichtiger Faktor, dem modernen Totalitarismus den Weg zu ebnen.“

25. April 2020 Spectrum

„Das Land“ – was ist das genau?

Stadtluft macht frei? Das war einmal. Derzeit wird Freiheit vor allem auf dem Land gesucht. Über die Zukunft eines lange Zeit vernachlässigten Raums – und Rem Koolhaas' Ideen zur „Countryside“.

Als ob er es gewusst hätte: Ausgerechnet heuer im Februar, als sich unverhofft eine Pandemie über den Globus zu verbreiten begann, die nur Momente später die Bewohner vieler Städte für Wochen in ihre vier Wände zurückwerfen, die sich als Schockstarre über die Menschheit legen und selbst Straßenzüge in Millionenstädten leerfegen sollte, eröffnete Rem Koolhaas im New Yorker Guggenheim Museum eine Ausstellung mit dem Titel „Countryside: The Future“. Bereits vor zehn Jahren angedacht und in den vergangenen fünf Jahren von einem interdisziplinären Team erarbeitet, stellt der holländische Architekt darin jene 98 Prozent der Erdoberfläche, die Nicht-Stadt sind, ins Zentrum seiner Überlegungen. Denn was anderes als keine Stadt ist „das Land“ heutzutage? Wie kann man definieren oder benennen, was vielfältiger und unterschiedlicher nicht sein könnte?

Insbesondere in den vergangenen Wochen der erzwungenen Eremitage durften sich viele Bewohner des sogenannten Landes deutlich bevorzugt fühlen. Der Wald ums Eck, der Garten vor der Haustüre, die Landstraße noch leerer als zuvor, die eingekochte Ernte des Vorjahrs in der Speisekammer. So die idyllisch überhöhte Vereinfachung einer Situation, die dennoch vielerorts beschauliche Realität ist. Die österreichische Schriftstellerin Tanja Paar brachte die Gefühlslage der Städter auf Twitter während der Quarantäne so auf den Punkt: „Das eigentlich Spannende für mich an Covid-19 ist, dass es in der Stadt nun weniger Freiheiten gibt als auf dem Land. Dafür sind wir nicht in die Stadt gezogen.“

Rem Koolhaas, der jahrzehntelang vor allem das Getriebe der großen, dynamischen Menschenagglomerationen aus allen Perspektiven betrachtete und die Architektur immer wieder mit erfrischendem Querdenken bereicherte, etwa wenn er Themen wie „Shopping“ und wenig beachtete Elemente der Architektur eingehenden Studien unterzog, kam auf die Idee zur Ausstellung, als er über ein paar Jahre hinweg das Verschwinden der Kühe von den Bergweiden seines Urlaubsdomizils in der Schweiz beobachtete. Die Milchkühe verschwanden ebenso wie viele der ursprünglichen Dorfbewohner, dafür kamen neue Zuzügler, viele von ihnen aus der Stadt. Die strikten Regeln des Denkmalschutzes behüteten zwar die vermeintliche Ursprünglichkeit des Dorfes und seiner alten Bauernhäuser, doch, so meint Koolhaas: „Wenn man heute zwischen die Vorhänge blickt, sieht man den typischen zeitgenössischen Konsumstil: Minimalismus.“ Der sei jedoch „mit einer exzeptionellen Menge von Kissen“ ausgestattet.

Als er sich bei einem Bauern über diese Entwicklungen erkundigen wollte, etwa wohin die Kühe verschwunden waren, musste er feststellen, dass er mit einem vormaligen Atomphysiker aus Frankfurt sprach. Der Traktorfahrer auf einer Weide stammte aus Sri Lanka, und die drei Frauen auf dem Stadtplatz waren Asiatinnen, die sich um Haushalt und Kinder der Zugezogenen oder Wochenendbewohner kümmerten. Er entdeckte zudem eine Schriftstellerin, einen Steuerberater, einen Musiker im Dorf.

Die Bauern hingegen findet man längst anderswo. Aus der kleinteiligen Landwirtschaft haben sich, insbesondere in den USA, aber auch in Europa, Megabetriebe entwickelt, die computergesteuert quasi vom Tablet aus bewirtschaftet werden. Wer die Vorstellung des zeitgenössischen Bauern mit der Mistgabel in der Hand pflegt, liegt völlig daneben. Gerade noch zwei bis acht Prozent der Bevölkerung arbeiten in der Landwirtschaft. Heute produzieren vielmehr riesige Anlagen mit minimalem bis gar keinem Personalstand einen Gutteil der Sonntagsbraten für die Menschheit. Mehr als die Hälfte davon lebt in den Städten, eine rasante Entwicklung, auf die sich in der jüngeren Vergangenheit denn auch die überwältigende Mehrzahl aller Studien konzentrierte.

Doch was, will Koolhaas in seiner mittlerweile natürlich dank Corona längst geschlossenen Guggenheim-Schau fragen, ist eigentlich mit der anderen Hälfte? Das sogenannte Land könne man, so der Architekt, mit den Landkarten zu Beginn des 18. Jahrhunderts vergleichen, auf denen weite Flächen weiß und als Terra incognita ausgewiesen waren. Das Phänomen des sich leerenden Landes, verkündet er, hat wesentlich drastischere Auswirkungen als die Verdichtung der Städte, und diese intelligent zu steuern sei das Gebot der Stunde. Denn das Land sei im Begriff, sich in etwas Neues, nie Dagewesenes zu transformieren, schreibt Koolhaas im Katalog zur Ausstellung, und zwar: „In eine Arena für Genexperimente, industrialisierte Nostalgie, neue Muster saisonaler Migration, massiver Subventionen, steuerlichen Anreiz, digitale Information, von Maschinen beherrschte Landwirtschaft, Homogenisierung von Arten. Es wäre schwierig, eine ähnlich radikale Bestandsaufnahme für die Stadt niederzuschreiben.“

Im Schatten der Corona-Krise haben zahllose Architekturkritiker und Städteplaner ihre Gedanken darüber zu Papier gebracht, ob die in den vergangenen Jahrzehnten gepriesene Verdichtung der Stadt nicht eine Fehlentwicklung gewesen und rasch zu überdenken sei. Die Antwort darauf wird nicht zu finden sein, bezieht man nicht die bislang völlig vernachlässigte Umwelt der Stadt, das Land, in all diese Überlegungen ein. Koolhaas: „Unsere momentane ausschließliche Obsession mit der Stadt ist in höchstem Grad unverantwortlich, denn die Stadt lässt sich nicht verstehen, versteht man das Land nicht.“ Von dort komme Nahrung, dort liege die Industrie, dort formiere sich dank digitaler Vernetzung, Highspeed-Internet und dergleichen eine neue, natürlich völlig disperse Gesellschaft.

Nicht einzelne besonders gelungene, von vermögenden Bauherren irgendwo in die Landschaft gepflanzte Architekturen, sondern intelligente, gesetzlich verankerte Raumplanung und sinnvolle Vernetzung von Stadt und Land könnten, ja sollten den künftigen Umgang mit diesen 98 Prozent Erdoberfläche prägen. Die Vernachlässigung des ländlichen Raumes in Österreich etwa hat unterschiedliche Ursachen, ökonomische wie ideologische. So lässt sie sich in einem aus den Nöten der Nachkriegszeit geborenen, entsprechend veralteten und das Land nach wie vor diskriminierenden Finanzausgleichssystem ablesen. Die Missachtung des ländlichen Raumes könnte nach dem Schock der Krise als weit größere Herausforderung erkannt werden als die letztlich vernünftige Verdichtung der Stadt.

Es dürfte auf jeden Fall spannend werden. Möglicherweise sind wir lernfähig und stellen in einer künftigen Welt der städtischen Bevölkerung vermehrt Architekturen mit klug durchdachten Freiräumen zur Verfügung. Möglicherweise erkennen wir, dass wir erst am Anfang einer vor allem von den Möglichkeiten der digitalen Medien befeuerten Entwicklung stehen, die sinnloses Hin- und Herfahren reduziert. Möglicherweise findet die Architektur dank dieser Krise aus ihrer momentanen Belanglosigkeit und bringt sich mit ihrem chronisch unterschätzten, kostbaren Know-how in dieses weite Feld ein.

26. Februar 2020 Spectrum

Gotik statt Gehry? Wenn Politiker Architekt spielen

Mit seinem Dekret „Making Federal Buildings Beautiful Again“ ist Donald Trump nur einer von vielen politischen Architekturberserkern, die sich berufen fühlten, Baustilvorgaben zu formulieren.

Donald Trump ist angetreten, um Amerika wieder großartig zu machen. Jetzt greift er in politisch bewegten Zeiten zu einem beliebten Werkzeug der Macht und dreht an den Knöpfen der Architektur. Die öffentlichen Gebäude der Nation, so ist in einer jüngst an die Öffentlichkeit gelangten „Executive Order“ nachzulesen, sollen, wenn schon nicht großartig, so zumindest wieder „schön“ werden. Das sieben Seiten umfassende Dokument enthält Direktiven, in welche Richtung es künftig zu gehen hat, wenn neue Postämter, Gerichtsgebäude und dergleichen mehr gebaut werden, wenn Bestehendes vor Sanierung oder Erweiterung steht. Trump fordert für die etwa 300.000 öffentlichen Gebäude einen „traditionellen Architekturstil“ ein. Dazu zählen: „Klassischer Architekturstil und historisch humanistische Stile wie Gotik, Romanik und der Spanische Kolonialstil sowie andere mediterrane Stile, wie man sie in Florida und im amerikanischen Südwesten findet.“

Die gesamte Architektur- und Kulturwelt rund um den Globus reagierte, wie zu erwarten war: Sie spie Gift und Galle. Das Amerikanische Institut für Architektur zeigte sich „geschockt“, The Architecture Lobby erinnerte daran, dass die Verordnung bestimmter Architekturstile ein „Markenzeichen autoritärer Regime“ sei. Selbst die Denkmalpfleger des National Trust gaben sich bedenklich, die Vorgaben seien mit der tatsächlichen Bewahrung historischer Werte nicht in Einklang zu bringen. Kommentatoren landauf, landab warnten vor einem „rassistischen“ Architekturkodex, der eine weiße, männliche Elite symbolisiere und aus Zeiten stamme, in denen Frauen kein Wahlrecht hatten und Afroamerikanern keine Bürgerrechte zugestanden waren.

Dass die Architektur seit Menschengedenken ein Spielball der Macht ist, wird niemand anzweifeln, auch nicht, dass sich die Bauwut in totalitären Regimen naturgemäß am deutlichsten äußert. Doch kommt es stets auf die Perspektive an. Hillary Clinton bemühte in ihrer Abschiedsrede als scheidende US-Außenministerin 2013 ebenfalls die Metapher der Architektur, doch sie tat es, um ein künftiges politisches Weltgebilde zu besingen: „Wir brauchen eine neue Architektur für diese neue Welt; mehr Gehry als antikes Griechenland. Während in früheren Zeiten einige starke Säulen das Gewicht der Welt zu tragen imstande waren, so brauchen wir heute einen dynamischen Mix aus Materialien und Strukturen.“

Gegen „hässliche“ Architekturen

Trump hat aus seiner Ablehnung dekonstruktivistischer und brutalistischer Gebäude nie ein Hehl gemacht; die, wie er meint, „hässlichen“ Architekturen Frank Gehrys scheinen ihm besonders zu missfallen. Doch bei aller Aufregung und berechtigter Geißelung der Verschönerungspläne als absurd und reaktionär reiht sich der US-Präsident mit seinem Dekret in eine lange Reihe politischer Architekturberserker ein, wie sie auch im guten alten und jüngeren Europa zu finden waren. Schon Jean-Baptiste Colbert, Finanzminister unter Ludwig XIV., sprach Regenten aus der Seele, als er vor rund 300 Jahren meinte, nichts beweise, „in Ermangelung glänzender Kriegstaten, Größe und Geist in höherem Maße als die Errichtung von Baudenkmälern“. Als Jacques Chirac, damals Bürgermeister von Paris, den Architekten Ricardo Bofill aus dem Projekt Les Halles expedierte, nicht zuletzt, weil der Spanier als Günstling seines politischen Rivalen Valéry Giscard d'Estaing galt, verkündete er vor der Presse: „Der Architekt? Das bin ich!“ Giscard d'Estaings Nachfolger Francois Mitterrand erwies sich ebenfalls als Bauherr gigantomanischen Formats, was ihm den Spitznamen Mitterramses eintrug, obwohl er beteuerte, „nicht aus persönlichem Ehrgeiz“ zu bauen, sondern „aus Ambition für Frankreich“, und weil es eine „direkte Verbindung zwischen der Größe der Architektur, ihren ästhetischen Qualitäten und der Größe eines Volkes“ gäbe.

Es geht jedoch auch demokratischer. In den vergangenen Jahrzehnten entstanden – nicht nur in Europa – in vielen Nationen staatliche Leitfäden zur Hebung der Baukultur und Architektur, von denen der 1998 vom finnischen Parlament verabschiedete Sieben-Punkte-Beschluss „zum Schutz unseres architektonischen Erbes und zum Erhalt und zur Wertsteigerung des vorhandenen Baubestandes“ hervorzuheben ist. Er ist an Klarheit bisher unübertroffen. Jeder Bürger habe ein Grundrecht auf eine intakte Umwelt. Der Staat trägt als wichtigstes Vorbild für Nachhaltigkeit und optimiertes Bauen Verantwortung, und Architektur wurde als zentrale und sinnlich wahrnehmbare Form von Kultur honoriert.

Im Vergleich dazu nimmt sich der europäische „Leitfaden zur Architekturpolitik der Kommission“ aus dem Jahr 2009 eher kraftlos aus, greift dafür in seiner Aussage zur ästhetischen Gestaltung EU-eigener Gebäude nach Höherem. Die Kommission achte darauf, „dass das Bild, das die Fassaden und der Umfang ihrer Gebäude abgeben, unter anderem durch die Integration gekrümmter und gerader in die Höhe gerichteter Linien, die Kühnheit, Transparenz und Dynamik des europäischen Einigungswerks zum Ausdruck bringt“.

Eher Handbuch für Anfänger

Weniger kühn, eher wie ein Handbuch für Anfänger liest sich der Passus, der sich mit der Umsetzung der Projekte befasst: „Die angestrebte architektonische Qualität lässt sich leichter erreichen, wenn man auf solide, im Vorfeld ausgearbeitete Programme, auf eine präzise Verfolgung der Projektabläufe und eine systematische Nutzung der verschiedenen Instrumente zur Konfrontation der Ideen zurückgreifen kann.“ Ja wie denn sonst?

Auch wenn die vom US-Präsidenten angeordneten Architekturverrenkungen umgesetzt werden, auch wenn in öffentlichen Wettbewerben über Jurys, in denen explizit weder Künstler, Architekten, Ingenieure noch Kunst- oder Architekturkritiker und auch keine Mitglieder der Bauindustrie vertreten sein dürfen, die Bürgernähe gesucht wird: Amerikas reiche Architekturgeschichte wird damit kein Ende nehmen.

Die tatsächlichen Hindernisse auf dem Weg zu gut Gebautem sind da wie dort vielmehr alltägliche Barrieren wie überzogene Normen, steigende Baukosten- und Baupreisindizes und schwache, nicht paktfähige Bauherrschaften. Frank Lloyd Wright, Säulenheiliger der amerikanischen Architektur des 20. Jahrhunderts, bekannt für sein aus der strammen Reihe historischer Bauten tanzendes Guggenheim Museum in New York und ein Vorläufer für Gehry und Co., war nur einer der vielen Vertreter amerikanischer Baukultur, die nicht auf dem sicheren Boden des Vergangenen wandelten, sondern sich immer wieder in Richtung einer neuen Architektur für eine neue Welt aufmachten. Der Architekt, meinte er, müsse nichts weniger als ein Prophet sein, vorurteilsfrei bleiben und den Blick in die Zukunft richten. Wer nicht zehn Jahre vorausschauen könne, den solle man keinen Architekten nennen. Möglicherweise gilt das Gleiche für die Vertreter politischer Macht.

28. Dezember 2019 Spectrum

Ein Haus auf Abwegen

Da war doch so eine Disco, in Neunkirchen, in einem Haus, wo wir uns die Nächte um die Ohren schlugen. Jahre später fand ich heraus, dass es sich dabei um das einzige von Günther Domenig konzipierte Einfamilienhaus handelte – das nie als solches diente. Nachschau in Niederösterreich.

Wer in den 1980er-Jahren im südlichen Niederösterreich jung und unternehmungslustig war und die Abende weder auf Garagenpartys verbringen noch vor der Glotze mit J. R. Ewing verplempern wollte, hatte bedauernswert wenige Alternativen. Entweder kannte man jemanden, der über die Gnade eines Automobils verfügte und den weiten Weg nach Wiesen ins Jazzpub auf sich nahm. Oder man setzte sich in die Bahn nach Wien und verbrachte die Nacht bis zum ersten Zug heim im U4. Lediglich eine einzige Disco mit ordentlicher Musik lag in Moped-Distanz: Das sogenannte „Top Dancing“ in Neunkirchen war das Jugendmekka der weiteren Umgebung, bis es irgendwann in den späten 1990ern zumachte.

Der Tanzschuppen war in einem Solitärgebäude untergebracht und lag inmitten eines ruhigen Wohngebiets. Da man sich der Lokalität prinzipiell nur in abendlicher Finsternis näherte und sie höchstens in der Morgendämmerung wieder verließ, konnte man für die äußeren, zudem hinter einer Mauer versteckten Kubaturen des Gebäudes kein Gefühl entwickeln. Auch dem groß dimensionierten skulpturalen Betonkamin am Rand der Tanzfläche schenkte kaum jemand Beachtung, obwohl man sich doch hätte fragen können: Was macht der da?

Heute, Jahrzehnte später, steht das Gebäude leer und ist straßenseitig betrachtet so unscheinbar wie eh und je. Zwei kubische Baukörper mit Flachdach und übermaltem Sichtbeton, ein schmaler Einschnitt wie eine Schlucht dazwischen, der zum Eingang leitet. Wohl niemandem von uns, die wir Hunderte Male hier aus und ein spaziert sind, wäre es je in den Sinn gekommen, in diesem Gebäude ein architektonisches Schmuckstück zu vermuten. Das ändert sich jedoch in der Sekunde, wenn man die Angelegenheit heute bei Tageslicht von außen und von seiner Hauptseite, dem Garten, aus betrachtet. Kubisch zu einer L-Form verschachtelte Betonkörper bilden ein stattliches Einfamilienhaus. Bekrönt wird das fein austarierte Gebäude von einer mächtigen Sichtbetonattika. Unter den Betonrippen, die sich auch nach außen in die Vordächer ziehen, liegt ein zweiseitig vollverglaster Raum mit ebendiesem großen Kamin. Tatsächlich befinden wir uns vor dem – wahrscheinlich – einzigen Einfamilienhaus, das Günther Domenigs Handschrift trägt, entstanden aus dem Geist des Brutalismus und entworfen in der Anfangszeit der Zusammenarbeit mit seinem Studienkollegen und Fußballfreund Eilfried Huth.

Ein kleiner Exkurs in die Vergangenheit: Günther Domenig, 1943 in Klagenfurt geboren und 2012 in Graz verstorben, war ab den 1960er-Jahren nach Beendigung seines Architekturstudiums in Graz einer der einflussreichsten Architekten einer neuen Planergeneration. Er war als Mitbegründer und wohl wichtigster Vertreter der sogenannten „Grazer Schule“ dafür mitverantwortlich, dass der Geist internationaler Architekturströmungen, wie etwa Brutalismus und Strukturalismus, auch die Alpenrepublik erreichte, da und dort Gestalt annahm und in Form des Dekonstruktivismus später auch prominente Junge bekam. Ab 1963 unterhielten Domenig und Eilfried Huth eine Bürogemeinschaft, die sich 1973 auflöste. Das Wohnhaus in Neunkirchen muss einer ihrer ersten Aufträge gewesen sein, doch bewohnt wurde es eigenartigerweise nie.

Die Bauherren, so die Geschichte, waren mit Domenig befreundet. Die ersten Pläne stammen von 1964, die letztgültigen Einreichpläne von 1969. Warum die Auftraggeber das extravagante Haus nie bezogen, bleibt im Dunkeln, jedenfalls verpachteten sie das Gebäude nach der Fertigstellung über die Jahre an zwei Tanzklubbetreiber, und später, als die Disco endgültig zusperrte, wurde es als Kindertagesstätte und für Büros genutzt. Dann stand es einige Zeit leer und zum Verkauf. Jetzt aber befindet es sich am Beginn einer Projektentwicklung hin zu einer Mehrgenerationen-Baugruppe. Obwohl die Nutzer über die Jahre innen die eine und andere Wand hochzogen, einen weiteren kleinen Kubus an das Gebäude setzten und die diversen Geschmäcker der Jahrzehnte ihre Spuren an Oberflächenmaterialien und anderen Details hinterließen, blieb das Haus großzügig und weitgehend unbeschädigt. Sein einziger Nachteil ist die hässliche Wohnbebauung davor, die jedoch gartenseits völlig ausgeblendet bleibt.

Der Garten ist geräumig, und dieser begünstigende Umstand eröffnet die Chance für eine mögliche Neunutzung der fast schon als historisch zu bezeichnenden Immobilie. Eine behutsame Nachverdichtung könnte dem Bestand das Überleben sichern. Die Lage ist optimal, das Haus steht in unmittelbarer Nähe des großen Neunkirchner Stadtparks auf der einen und dem historischen Stadtzentrum auf der anderen Seite. Gleich ums Eck befinden sich ein Einkaufszentrum sowie das Hallen- und Freibad. Alle wichtigen Institutionen sind zu Fuß erreichbar. Derzeit wird die Idee ausgelotet, das Gebäude weitgehend in seinen ursprünglichen Zustand zurückzuführen und gewissermaßen wieder in seinem brutalistischen Betonglanz erstrahlen zu lassen, allerdings ergänzt um behutsam in den Park gesetzte zusammenhängende Tiny Houses, die je nach Bedürfnis zu unterschiedlich großen Appartements geschaltet werden können. Das Hauptgebäude bildet das gemeinschaftliche Zentrum, etwa wenn die Anlage als Senioren-Wohngruppe einen neuen Frühling erfährt. Kleine, preiswerte Einheiten, ein großzügiges Klubhaus, individueller Raum für den Einzelnen und ein Gartenparadies für die Gemeinschaft.

Eine Weiterverwertung und Verdichtung wie diese wären wohl ganz im Sinne der ursprünglichen Autoren, die bereits sehr früh den „Landschaftsfraß“ durch Einfamilienhäuser geißelten und sich gegen die alles zersiedelnde „Häuslpest“ stark machten. Insbesondere Co-Autor Eilfried Huth steht für partizipative, kollektive Wohnformen und den behutsamen Umgang mit der Landschaft. Das Unterfangen könnte zudem ein Case-Study-Projekt für die Nachnutzung von Einfamilienhäusern werden, wie sie landauf, landab von in die Jahre gekommenen Einzelpersonen bewohnt werden, die an den Erhaltungskosten ihrer viel zu groß gewordenen Wohneinheiten zu knabbern haben. Das Motto lautet: Gemeinsam sind wir weniger allein. So können die Kosten der Betreuung geteilt, kann die Alterseinsamkeit vermieden werden.

Die New Design University in St. Pölten zeigte sich ebenfalls interessiert und wird das Domenig-Huth-Haus in Neunkirchen und die ihm innewohnenden Möglichkeiten einer Transformation im Rahmen einer Semester-Entwurfsarbeit analysieren. Auch haben bereits einige Investoren sowie Privatleute an dem Projekt Interesse bekundet, nicht zuletzt, weil neue Wohnformen, leistbare und nicht rein spekulative Wohnprojekte für die Immobilienindustrie im Trend liegen. Investitionen in kleine, dafür raffinierte und neu gedachte Projekte werfen immer noch bessere Rendite ab als Einlagen, die in Zeiten der Negativzinsen auf der Bank verschimmeln.

1. Dezember 2019 Spectrum

Co-Housing: Neues Wohnen im Alter

Was erwartet uns am Ende – nichts als ein Zimmer im Seniorenwohnheim? Eine Idee lautet: Co-Housing – Wohngemeinschaften. Anderswo bereits Usus, hierorts im Kommen.

Die Nachrichtenlage zum Thema Alter befindet sich hierzulande in einer chronischen, ja geradezu skandalösen Schieflage. Heerscharen von Menschen haben jahrzehntelang gerackert, in diverse Töpfe eingezahlt und mitgeholfen, einen Wohlfahrtsstaat aufzubauen, um den uns die Welt beneidet. Medial werden alte Menschen jedoch so gut wie ausschließlich als eines der großen Probleme unserer Gesellschaft dargestellt. Sie sind zu viele, und sie werden immer mehr. Das Pensionssystem kracht. Die Pflege ist zu teuer und dergleichen mehr. Das mediale Bild zeichnet die Phase des Alters als ein die Gesellschaft belastendes Dauersiechtum, das unweigerlich im Pflegeheim sein Ende findet.

Das Thema Architektur für eine alternde Bevölkerung kommt in der Debatte erstaunlich selten in differenzierter oder sogar innovativer Form zur Sprache, dabei zeigt sich insbesondere hier, wie sehr gut Durchdachtes und pfiffig Gebautes das Wohlbefinden in der sogenannten dritten Lebensphase begünstigen kann. Nicht, weil Toiletten vorschriftsgemäß behindertengerecht ausgeführt sind, sich allerorten Rampen befinden oder neben dem Bett eine Notrufklingel angebracht ist, sondern weil mit fortschrittlichen, den speziellen Bedürfnissen angepassten Wohnprojekten eines der möglicherweise größten Probleme des Alters wegfällt – die Einsamkeit.

Ein besonders feines Beispiel für ein gelungenes Wohn- und Lebensmodell für Senioren entstand bereits ab 1989 in London und hat sich bis heute bewährt. Damals besuchten sechs ältere Damen einen Vortrag zum Thema Co-Housing und erfuhren, dass sich in Dänemark und den Niederlanden zusehends eine neue Kultur des Zusammenlebens älterer Menschen etablierte. Die Voraussetzung war die entsprechend angepasste Architektur. Zwar verfügte jeder Bewohner der vorgestellten Co-Housing-Anlagen über eine eigene, private Kleinwohnung, doch besonderes Augenmerk lag auf den Flächen, die man kollektiv nutzte, beispielsweise Gemeinschaftsgärten, Werkstätten, ein großer Aufenthaltswohnraum, Küche, Waschküche und andere Treffpunkte des Alltags.

Den alten Damen gefiel die Vorstellung, das Private mit dem Gemeinsamen zu verknüpfen, die Rückzugsmöglichkeit in den eigenen vier Wänden zu genießen und doch die anderen immer in der Nähe zu wissen. Sie suchten weitere Verbündete, beauftragten einen Architekten, gaben diesem präzise Angaben über ihre Vorstellungen und errichteten schließlich ein neues Zuhause, das den Titel OWCH trägt: Older Women's Co-Housing. Die Anlage im Norden Londons besteht aus 25 Wohneinheiten, 17 davon befinden sich im Eigentum, acht werden von der Damengemeinschaft vermietet und verwaltet. Männer sind willkommen, doch lediglich als Gäste erlaubt. Um sich eine Vorstellung zu machen, wie es sich in einer solchen Alterswohngemeinschaft lebt, sollte man die Videodokumentationen auf der Website des Projekts betrachten (www.owch.org.uk). Es wird gemeinsam gekocht, gegärtnert, gemalt, geturnt. Sie glaube, meint etwa eine der Bewohnerinnen, diese Art des Zusammenlebens erhalte alle länger jung. Auf die Frage, warum keine Männer als Mitbewohner zugelassen wären, zeigt sich eine andere abgeklärt: „Gäbe es hier auch Kerle, würden die möglicherweise das Kommando übernehmen wollen oder müssten betreut werden. Viele von uns waren verheiratet, und viele von uns denken: Gut, das haben wir hinter uns.“

Wie auch immer, ob rein weiblich, männlich oder bunt gemischt: Fest steht, dass nach der Phase der Babyboomer im 20. Jahrhundert mit dem 21. Jahrhundert vorerst einmal das der Älteren angebrochen ist. Bis zum Jahr 2030 wird laut Prognosen fast ein Viertel der österreichischen Bevölkerung die 65 überschritten haben, erst ab 2050 könnte sich das Verhältnis wieder rückentwickeln. Die entsprechenden Wohnformen, die auf die Bedürfnisse dieser doch stattlichen Bevölkerungsgruppe zurechtgeschnitten sind, beschränken sich derzeit – noch – hauptsächlich auf die eingangs erwähnten Altenwohn- und Pflegeheime. Für Maria Brenton, eine der Gründerinnen von OWHC, war die Übersiedelung in ein Pensionistenheim keine Option. Altenwohnen, meint sie, scheine auf der Idee zu fußen, dass man plötzlich ein ganzes Leben in eine Zimmerbox packen könne und Ältere keinen Raum für Hobbys oder Familienbesuch benötigten. Das bestehende Angebot locke die Leute sicher nicht aus ihren Häusern, zumindest nicht die Rüstigen unter den Ruheständlern, auch wenn die liebend gerne in überschaubare Wohneinheiten übersiedeln würden.

Ähnliches trifft sicher auch auf die hiesige Bevölkerung zu. Insbesondere in ländlichen Gegenden sitzen viele alte Menschen allein in ihren viel zu groß gewordenen Häusern und würden gerne in kleineren, weniger aufwendig zu erhaltenden Wohneinheiten leben. Doch das Angebot an Alterssitzen ist überschaubar und qualitativ Hochwertiges oft zu teuer. Die Immobilienindustrie könnte jedoch im Begriff sein umzudenken, denn Co-Housing-Projekte gelten anderswo, etwa in Großbritannien, in der auf diesem Gebiet überaus fortschrittlichen Schweiz, vor allem aber in den skandinavischen Ländern, mittlerweile als hochinteressante und zukunftsträchtige Anlageobjekte.

Wie das Fachmagazin „A3Bau“ vorrechnet, sind österreichweit bis 2029 etwa 87.000 Wohneinheiten für betreutes Wohnen vonnöten, was einem geschätzten Investitionsbedarf im Sektor des altersgerechten Wohnens von rund 14,5 Milliarden Euro entspricht. Die durchschnittlichen Investitionskosten pro Einheit betragen etwa 167.000 Euro. Dabei könnte der Trend zum Co-Housing allen Beteiligten zum Vorteil gereichen und helfen, die dauerbeklagten Kosten von Pflege und Betreuung zu bündeln und zu reduzieren. Gemeinschaftliche Wohn- und Quartierkonzepte für die große Bevölkerungsgruppe der durchaus rüstigen Rentner würden jedenfalls dazu beitragen, auch deren Miet- und Erhaltungskosten auf ein leistbares Niveau herunterzuschrauben.

Viele Veteranen von privat organisiertem Co-Housing geben bereitwillig Tipps, was die Organisation, Planung und Umsetzung solcher Projekte anlangt, welche Finanzierungs- und Beteiligungsformen möglich sind, und worauf bei den Vorgaben für die Architekten dringend zu achten ist. Parallel dazu beginnt auch die Immobilienwirtschaft an Angeboten zu feilen, und Architekten rücken das dritte Lebensalter ebenfalls aktiv in den Fokus der Aufmerksamkeit. Etwa die Salzburger Architektin Ursula Spannberger, die dem „Neuen Wohnen 70+“ einen neuen Impuls verleihen will. Auf ihrer Website schreibt sie treffend: „Wir, die nächste Generation, haben andere Vorstellungen vom Älterwerden. (...) Wir wollen mittendrin bleiben und nicht nur dabei sein. (...) Wir wollen die Freiheit nach dem langen Erwerbsleben genießen, noch einmal die Welt erobern. Und wir wollen möglichst lange selbständig leben, auch dann, wenn wir einmal Hilfe brauchen sollten.“

4. Oktober 2019 Spectrum

Apropos: Leistbar leben

Selbstverwaltete Wohnprojekte einst und heute: Österreichische Wohnbauarchitektur der 1970er, betrachtet aus Nutzersicht, ist Thema des Films „Der Stoff, aus dem Träume sind“. Und welche Projekte entstehen aktuell in diesem Geist? Eine Umschau.

Auch die Architektur lässt sich aus unterschiedlichsten Blickwinkeln betrachten und beurteilen. Die langweiligste Perspektive für Normalsterbliche ist gewöhnlich die der Architekten, denn ihre Sprache wird kaum je verstanden. Wenn von Raumvalenzen, Auskragungen, Interventionen und Anmutungen die Rede ist, steigt der Nichtarchitekt aus, und das ist wohl eines der Kernprobleme dieser edlen Zunft. Architekten und Bauherren reden nicht selten aneinander vorbei, und die späteren Benutzer der Gebäude werden gleich gar nicht gefragt.

Die Filmemacherin Lotte Schreiber und der Architekt Michael Rieper haben nun den Spieß umgedreht und einen Film über Architektur vorgelegt, der vor allem die Perspektive der Bewohner einnimmt. „Der Stoff, aus dem Träume sind“ legt zwar den Fokus auf die Geschichte selbstverwalteter Wohnprojekte, wie sie ab den 1970er-Jahren vereinzelt in Österreich entstanden. Doch die Aussagen der Bewohner von damals und heute lassen sich durchaus auf den zeitgenössischen Wohnbau umlegen, egal, ob privatwirtschaftlich oder kommunal, denn die Bedürfnisse waren und sind grundsätzlich dieselben.

Zuallererst kommt mit dem seinerzeit von der Kollegenschaft belächelten, heute längst wiederentdeckten Harry Glück doch ein Architekt zu Wort, damals noch in jugendlicher Vitalität. Sein großdimensioniertes Projekt „Wohnpark Alterlaa“ verfolgte das Konzept des „gestapelten Einfamilienhauses“, und das zur großen Zufriedenheit seiner Bewohner. Glücks 40 Jahre alte Analyse zum Wohnbau klingt keineswegs veraltet: „Wir sind zur Überzeugung gekommen, dass diese monotonen und kasernenhaft wirkenden Wohnstrukturen von den Leuten zwar angenommen werden, weil sie keine andere Möglichkeit haben, eine Wohnung zu finden, dass die Menschen diese eher kasernenhaften Strukturen aber bewusst oder unbewusst als degradierend empfinden.“

Das Stichwort „Möglichkeit“ gibt fortan den Ton oder besser den Film an. Ab den 1970ern fanden sich immer wieder Leute zusammen, die gemeinschaftlich geplante, finanzierte und verwaltete Alternativen zu den anonymen Blockverbauungen in Angriff nahmen. Die Gründe dafür waren Unzufriedenheit mit dem Wohnungsmarkt und die Schwierigkeit, sich ansprechenden Wohnraum leisten zu können. Es entstanden, nicht ohne basisdemokratische Mühen, kollektiv geplante und finanzierte Wohnhausanlagen wie etwa das „Projekt Kooperatives Wohnen in Raaba“ und die zwischenzeitlich zu einem Wahrzeichen der Stadt Graz gereifte „Terrassenhaussiedlung“. Der Film überwindet die Zeitsprünge mit einem charmanten Mix aus Super-8-Format von damals und aktuellen Aufnahmen der Veteranen und in den Projekten aufgewachsenen Nachkommen. Zu sehen sind etwa Archivfilme mit bärtigen jungen Männern, die in Schlaghosen Baugruben abschreiten, mit tatkräftig schaufelnden Frauen und jeder Menge Kindern, die mit Begeisterung in der Erde wühlen. Es weht der Geist der Post-Hippie-Ära, und der ist nicht verflogen, er hat sich lediglich modernisiert, wie historische und aktuelle Interviews mit Initiatoren, Planern und Bewohnern der vorgestellten Projekte unter Beweis stellen.

All diesen Wohnanlagen ist eines gemeinsam: Nicht das Formale, möglicherweise architektonisch Schöne steht im Vordergrund, sondern die individualisierte, auf die Bedürfnisse der Bewohnerschaft zugeschnittene Wohnform mit Gärtchen, begrünten Balkonen und vielen gemeinschaftlich genutzten Flächen, in denen Kinder in einer geregelten Freiheit aufwachsen können, wie es sie heute nicht einmal mehr im Dorf gibt. Das gewaltigste der vorgestellten Projekte ist und bleibt die Terrassenhaussiedlung der Werkgruppe Graz, deren Verwirklichung mit 531 Wohneinheiten und 24 unterschiedlichen Wohnungstypen wahrlich eine Mammutoperation gewesen sein muss.

Es stellt sich die Frage, ob ein ähnliches Projekt unter heutigen Bedingungen, den teils absurd verschärften Normen und den nicht zuletzt dadurch explodierenden Baukosten, realisierbar wäre. Einen gut durchdachten Versuch unternahmen die Architekten Katharina Bayer und Markus Zilker, alias „Einszueins Architektur“, mit ihrem 2013 fertiggestellten „Wohnprojekt Wien“ auf dem Nordbahnhofgelände. Das vielfach ausgezeichnete Niedrigenergiehaus mit 40 Wohneinheiten wird von den Einwohnern selbst verwaltet und besticht durch ein ausgeklügeltes System von Gemeinschaftsflächen wie Mehrzwecksaal, Werkstätten, Musikraum, Gemeinschaftsbibliothek, Gemüsegärten, Carsharing. Ein solches Projekt zu stemmen bedeutet unendlich viele Debatten, drei Jahre Planungszeit, Kompromisse und gewolltes soziales Miteinander, und das ist nicht jedermanns Sache. Auch die Verpflichtung, allmonatlich eine bestimmte Stundenanzahl in den Dienst der Gemeinschaft zu stellen, würde wohl nicht jeder eingehen wollen.

Dennoch tragen all die im „Stoff, aus dem Träume sind“ gezeigten Architekturen eine Botschaft in sich, die allgemeingültig ist: Wir brauchen neben unseren individuellen privaten Wohnungsrefugien dringend auch die räumliche Möglichkeit zusammenzukommen und zu kommunizieren. Dass in manchem kollektiven Wohnprojekt allerdings noch weitere, durchaus politische Dimensionen stecken, demonstrierte eine Gruppe junger Linzer, denen es gelang, ein in Deutschland bereits seit Jahren erprobtes, nachgerade subversives Modell in die österreichische Gesetzes- und Vorschriftslandschaft zu übertragen.

Im Fall des bestehenden 1930er-Jahre-Wohnhauses „Willy*Fred“ geht es um mehr als die gelebte Gemeinschaft, Leistbarkeit und Autonomie. Mittels Crowdfunding und privater Kredite konnten die Eigenmittel für die Bewilligung eines gemeinsamen Kredits aufgebracht werden. Mit 6,35 Euro Miete pro Quadratmeter wird das Haus rückfinanziert. Doch auch wenn der Kredit dereinst Geschichte sein wird, so werden die Mietzahlungen weiterlaufen und in einen Topf für weitere autonom verwaltete Gebäude einbezahlt werden. Als Solidaritätsbeitrag in ein wachsendes System, das sich gegen die sogenannte „Verwertungsspirale“ von Immobilien stemmt. Diese Häuser stehen fürderhin nicht mehr zum Verkauf, sie sind dem Immobilienmarkt bewusst entzogen.

„In Wirklichkeit“, sagt Architekt Markus Zilker von „Einszueins Architektur“, „geht es um leistbares Leben, nicht nur um leistbare Architektur.“ Wie es sich über Jahrzehnte in diesen Projekten lebt, was man daraus gelernt hat, wie groß die Zufriedenheit derjenigen ist, die für solche Wohnformen geeignet sind, all das zeigt Schreibers und Riepers Film auf. Er gibt jedoch auch viele Denkanstöße, die dem zeitgenössischen Wohnungsbau mit all seinen in jeder Hinsicht viel zu eng gewordenen Normen und Grenzen gut tun würden.

[ Am 11. Oktober feiert „Der Stoff, aus dem Träume sind“ Premiere auf dem Filmfestival Rotterdam. Weitere Termine unter www. derstoff.at. Auch „Urbanize!“, das „Internationale Festival für urbane Erkundungen“ in Wien (9. bis 13. Oktober), ist heuer dem Thema Wohnen gewidmet (www.urbanize.at). ]

7. September 2019 Spectrum

Der Moment ist jetzt!

Chaotische Strukturen, verstopfte Elendsviertel, schlechte Infrastruktur: Afrikas Megacityswachsen seit 20 Jahren explosionsartig an – Industrialisierung und erhöhte Produktivität bleiben aber aus. Davon hängt die ökologische Zukunft des Planeten ab.

Die Geschichte der Urbanisierung des Globus gleicht einem Wettrennen. Etwa um das Jahr 1800 überschritt die bis dahin sehr gemächlich wachsende Weltbevölkerung erstmals die Milliardengrenze. Gerade einmal drei Prozent der Menschheit lebten damals in Städten. In den folgenden 200 Jahren stieg die Erdbevölkerung bekanntlich explosionsartig an. Sie beträgt laut UNO derzeit etwa 7,7 Milliarden Menschen, und ebenso explosionsartig erfolgte die Verstädterung. Mittlerweile lebt mehr als die Hälfte der Menschheit in der Stadt. Tendenz immer noch stark steigend.

Europa hat diese Entwicklung hinter sich und ist damit befasst, alte Strukturen zu optimieren und neue Stadtgebiete behutsam zu implementieren. Die großen Zentren der atemberaubenden Urbanisierung liegen nun in Asien, Südamerika und in Afrika – um genau zu sein im sogenannten Subsahara-Afrika. Der große Unterschied zur europäischen Landflucht und Stadtentwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts besteht in der unvergleichlich größeren Menge an Menschen, die täglich in diese Städte strömt.

Daressalam in Tansania beispielsweise verzeichnete im Jahr 2014 einen Zuzug von durchschnittlich 48 Menschen pro Stunde. In Addis Abeba, Äthiopien, waren es 23, in Lagos, Nigeria, 26. Damit liegt Afrika mit einem städtischen Bevölkerungszuwachs von jährlich 1,06 Prozent nach Asien mit 1,47 Prozent in Sachen Urbanisierung gleich an zweiter Stelle. In Zahlen ausgedrückt bedeutet das, dass sich die Stadtbevölkerung Afrikas in nur zwei Jahrzehnten, zwischen 1995 und 2016, von 236 Millionen auf 500 Millionen mehr als verdoppelt hat. Bis 2040 dürften Studien zufolge jährlich weitere 20 Millionen Stadtbewohner dazukommen.

Glaubt man Wissenschaftlern und Stadtforschern, erleben wir momentan eine zwar immense, doch enden wollende Entwicklung. Für den Ökonomen Nicholas Stern und den Stadtforscher Dimitri Zenghelis, beide von London School of Economics (LSE), ist diese globale Urbanisierung ein „kurzes, in der Menschheitsgeschichte einzigartiges Phänomen“, das sich jedoch in relativ naher Zukunft wieder entschleunigen dürfte. Zugleich ist dieser Moment aber in vielerlei Hinsicht elementar, denn ein kluger, vorausschauender Städtebau wird die ökologische Zukunft des Planeten maßgeblich mitbestimmen. Investitionen in saubere, funktionierende Städte sind einer der Schlüssel dazu, doch die meisten der afrikanischen Megacitys zeigen derzeit gerade auf, wie das Gegenteil davon entsteht.

In Addis Abeba etwa beträgt der Anteil der in informellen Siedlungen lebenden Menschen knapp 70 Prozent, in Luanda, Angola sind es etwa 75 Prozent. Im Schnitt lässt sich sagen, dass etwa zwei Drittel der afrikanischen Stadtbevölkerung in slumartigen Quartieren leben. Während die Urbanisierung in anderen Weltgegenden stets mit Industrialisierungsprozessen und einer Steigerung der Produktivität einherging, lässt dieser Effekt in Afrika derzeit noch auf sich warten, und dafür ist die chaotische Struktur der Städte nicht allein, doch maßgeblich mitverantwortlich. Um einen positiven Kreislauf in Schwung zu bringen, braucht es Dichte, intelligente Verkehrskonzepte, verlässliche Eigentums- und Landnutzungsrechte. In Städten konzentrieren sich Geld, Know-how, Geschwindigkeit. Deshalb ziehen gut organisierte Megastädte Unternehmen und multinationale Konzerne an.

Doch all diese Faktoren sind in den wenigsten Städten Afrikas gegeben. Sie sind vielmehr chaotisch strukturiert und überfüllt. Die Menschen siedeln seit jeher in die Stadt, um Arbeit zu finden. Doch schlechte Verkehrsinfrastrukturen bedeuten auch schlechte Erreichbarkeit von Arbeitsplätzen für die millionenstarke Arbeitsfront, die an den Stadträndern wohnt. Mangelnde Erschließung und fehlender öffentlicher Nahverkehr zwingen die Bevölkerung zudem dazu, ihre informellen Quartiere auch in der Nähe ihrer Arbeitsplätze aufzuschlagen, was verstopfte, unübersichtliche Elendsviertel in innerstädtischen Lagen zur Folge hat. Zugleich werden die Freiflächen der Stadt oftmals zu wenig genutzt. So blieben bisher mehr als 30 Prozent der zentrumsnahen Flächen beispielsweise von Harare und Maputo unbebaut, weil es keinen funktionierenden Immobilienmarkt, unklare Nutzungs- und Eigentumsrechte und auch keine Anstrengung der Stadtregierungen gibt, das Land sinnvoll zu entwickeln. Anstatt die Städte klug zu erschließen und an richtiger Stelle zu verdichten, entstehen zudem allerorten sogenannte Leap-Frog-Städte, also Siedlungen außerhalb der eigentlichen Stadt, was enorme großflächige Zersiedelung bedeutet.

Institutionen wie etwa die Weltbank sehen in der mangelhaften Erschließung, in der Fragmentierung und den damit verbundenen hohen Lebenshaltungskosten die maßgebliche Bremse für dringend benötigte Investoren. Tatsächlich befinden sich zwei der teuersten Städte für Auslandsentsendungen von Fach- und Führungskräften in Afrika. N'Djamena im Tschad liegt an zehnter, Luanda in Angola gar an erster Stelle.

Eine gut funktionierende Stadt ist von niedrigen Transportkosten, einem dynamischen Arbeitsmarkt, der Ballung von Wissen und Innovation geprägt. Doch das in den vergangenen Jahrzehnten beschleunigte, derzeit wieder gebremste Wachstum der afrikanischen Volkswirtschaften beruht hauptsächlich auf Gewinnung und Export von Rohstoffen. Auch deshalb bleibt der Anteil der verarbeitenden Industrie am BIP im Schnitt bei niedrigen zehn Prozent, wohingegen der Anteil des Dienstleistungssektors fast 60 Prozent beträgt. Der Grund dafür: Die Profiteure der Rohstoffgewinnung konzentrieren sich in den Städten und ziehen Heerscharen unterbezahlter, meist gering qualifizierter Dienstleister an.

Die großen Vorgaben, was eine Stadt funktionieren lässt, sind klar dargelegt. Erstens: Wo Städte über ihre organisatorischen Grenzen weit hinausgewachsen sind, müssen die Stadtgrenzen neu definiert werden, um die Megacitys in ihrer Gesamtheit steuern zu können. Zweitens: Wichtige Entscheidungsinstanzen, die etwa Stadtplanung, Verkehr, Umweltpolitik, Energie steuern, müssen in den Kompetenzbereich der Stadt und nicht des Staates fallen, um effiziente Maßnahmen setzen zu können. Drittens: Städte müssen legislativ in der Lage sein, Geld aufzustellen, um diese Maßnahmen auch umsetzen zu können.

Die Frage, wie sich die Städte Afrikas entwickeln werden, betrifft nicht zuletzt uns alle, denn die ökologische Zukunft des Planeten wird in den Städten entschieden. In Afrikas Megacitys, so meinen die Experten unisono, werden jetzt die Weichen gestellt beziehungsweise sollten sie jetzt gestellt werden. Nicht zuletzt ist der Schutz der Umwelt zu einem vorrangigen Thema geworden. Jeder bangt um den Fortbestand der Regenwälder, um das Überleben der Artenvielfalt und blickt besorgt der Klimaveränderung entgegen. Ein ähnliches Interesse an den Umständen menschlicher Existenz ist nicht zu beobachten, obwohl das eine mit dem anderen Hand in Hand geht.

16. August 2019 Spectrum

Meister seiner Zukunft

„Mon univers“: Nach der Renovierung des Pavillon Le Corbusier in Zürich durch Arthur Rüegg und Silvio Schmed lässt eine Ausstellung die Besucher in des Architekturgiganten Lebens- und Gedankenwelt eintauchen. Unbedingt eine Reise wert!

Die Architekturgeschichte neigt, wie auch Kunst und Literatur, zu einer gewissen Götzenbildung. Während die Zeit verfliegt, beweisen die herausragenden Werke der jeweiligen Epochen zwar Bestand, und man bewundert sie und ihre Urheber, hinterfragt sie jedoch kaum mehr mit der Gründlichkeit, die ihnen gebührt. Doch zwischen dem Werk und seinem Erschaffer liegt das meist unbekannte Universum eines ganzen Lebens, und wenn es einer Ausstellung gelingt, die Besucher tatsächlich auf eine Zeitreise mitzunehmen, sie eintauchen zu lassen in den Kosmos eines großen Geistes, erscheinen auch dessen Werke plötzlich in einem neuen, unverhofft klaren Licht.

Edouard Jeanneret alias Le Corbusier (1887 bis 1965) ist ein solcher Götze am Firmament der Kulturgeschichte. Man kennt die wichtigsten Gebäude des schweizerisch-französischen Architekturgiganten des 20. Jahrhunderts. Man kennt seine Stahlrohrmöbel, vielleicht das eine oder andere Wandbild, das er gemalt hat. Man weiß, dass er den Städtebau neu zu denken versuchte, dass er den freien, fließenden Grundriss propagierte und die aufgelösten Räume und Wände. Vielleicht kennt man auch seinen berühmten Ausspruch: „Architektur ist das kunstvolle, korrekte und großartige Spiel der unter dem Licht versammelten Baukörper.“

Doch wie der Mann mit der charakteristischen schwarzen Brille, die heute noch jeder zweite Architekt demonstrativ auf der Nase trägt, die Schachzüge seines „großartigen Spiels“ anlegte, um sich „Baukörper“ auszudenken wie die beiden Wohnhäuser der Siedlung Weissenhof in Berlin, die ikonische Villa Savoye in Poissy, die mehr als eigenwillige Kirche in Ronchamp, die gewaltigen Betonarchitekturen im indischen Chandigarh oder die Wohnmaschinen der Unités d'Habitation, bleibt doch selbst für Architekturaffine großteils im Dunklen.

Le Corbusier hat der Architektur unbestritten einen nachhaltigen Drall vermittelt. Auch wenn seine gigantomanischen städtebaulichen Projekte heute fragwürdig erscheinen, so hat er mit zahllosen Projekten, Schriften, Theorien die Welt der Architektur verändert. Die Eröffnung seines allerletzten Bauwerks im Jahr 1967 hat er zwar knapp nicht mehr erlebt, doch genau dort, im Pavillon Le Corbusier in Zürich, kann man noch bis November in seine Gedanken- und Lebenswelt eintauchen, und das in zweierlei Hinsicht. Da ist zum einen das als Ausstellungspavillon entworfene Gebäude, beauftragt, finanziert und errichtet von der heute 90-jährigen Kunstmäzenin Heidi Weber. Kunst, Architektur und Leben sollten darin als „Synthese der Künste“ zu einer Einheit verschmelzen. Da der Zahn der Zeit mächtig an der Stahl-Glas-Architektur genagt hatte, wurde das Haus am Zürichsee, laut Corbusier „das kühnste, das ich je gebaut habe“, von den Architekten Arthur Rüegg und Silvio Schmed nun gründlich, doch mit wohltuendem Fingerspitzengefühl restauriert und erst vergangenen Mai neu eröffnet. Es ist eines dieser Gebäude, in dem jedes Detail sitzt, in dem man durch die Räume wandelt und alles genießt: Die klug konzipierten schmalen Lüftungsfenster, die wohlüberlegten inneren und äußeren Durchblicke, die gestaffelten Raumhöhen, die Rampen und Treppen, den luftig überdachten Dachraum, wo selbst die Regenrinnen ein raffiniertes Spiel mit dem Wasser treiben. Kurzum: Der Pavillon atmet an all seinen Ecken und Enden, in jedem Türgriff, in allen Materialien und Formen den Geist eines unverschämt souveränen Meisters seiner Zunft. Das allein schon wäre eine Reise nach Zürich wert, doch im Untergeschoß liegt im einsickernden Dämmerlicht der Oberlichten der eigentliche Schatz vergraben: Die Ausstellungskuratoren Arthur Rüegg und Christian Brändle breiten hier das private Universum des Architekten aus. Le Corbusier war ein großer Sammler scheinbar unbedeutender Dinge. Er hortete beispielsweise besonders geformte und von Adern durchzogene Steine, Knochenstücke, Muscheln und Schnecken. Von seinen Reisen brachte er Keramikobjekte mit, Skulpturen, irdene Gefäße, auch Industrieware wie besondere Ziegel oder Glaselemente. Er sammelte Ansichtskarten, malte, zeichnete, fotografierte und filmte zeitlebens, wurde selbst von Fotografen wie dem Schweizer Reneé Burri und dem Ungarn Gyula Haláz alias Brassaï in vielen Lebenslagen dokumentiert. Letzterer erinnerte sich später an seinen ersten Besuch in Le Corbusiers Pariser Altbauwohnung zu Beginn der 1930er-Jahre. Er habe, so meinte er, ein ultramodernes Apartment erwartet, mit riesigen Fensteröffnungen und nackten, weißen Wänden, wie sie der Architekt seinen Auftraggebern damals bereits verpasste: „Man kann sich meine Überraschung vorstellen, als ich ein reichlich chaotisches Apartment betrat, mit eigenartigen Möbeln und einer merkwürdigen Sammlung von Krimskrams.“

Brassaïs Fotografien zeigen den Architekten inmitten dieser überwältigenden Ansammlung von Objekten, der Arbeitstisch vergraben unter einem Chaos von Papieren, Büchern, Artefakten, die Wände voll gehängt mit Malereien und Fotografien. Klugerweise hatte der kinderlose Le Corbusier sein umfangreiches Œuvre, Schriften, Pläne, Bilder, Sammlungen, bereits zu Lebzeiten in eine Stiftung eingebracht. Aus der großartigen Sammlung dieser Fondation Le Corbusier konnten die Kuratoren nun also schöpfen. Dank einer geschickten, weil zielgenauen und nicht überwältigenden Auswahl der Dinge und Artefakte, die ihn selbst faszinierten und in seinem Denken beeinflussten, taucht der Betrachter nun direkt in Corbusiers Vorstellungswelt ein und bekommt einen Begriff davon, zumindest eine Ahnung, welche Kräfte ihn formten und in welche Richtung sein Interesse in der Betrachtung der belebten und unbelebten Welt ging.

Eine der interessantesten Abteilungen der Schau ist denn auch die Projektion zahlreicher Schwarz-Weiß-Fotografien und kleiner Filme, die den Betrachter in die Lage versetzen, die Welt durch Le Corbusiers Auge zu sehen. In einer Zeit lang vor der allgegenwärtigen digitalen Verewigung des Moments filmte er das Spiel von Licht und Schatten in windbewegten Fenstergardinen und Meereswellen, fotografierte auf Schiffsreisen unzählige Ankerwinden, Taue und immer wieder die Hutzen genannten, geschwungenen Kopfteile der marinen Lüftungskamine. Eines seiner Fotos zeigt drei sorgsam aufgestellte und zueinander arrangierte Knochensegmente unbekannter großer Tiere. Im Zusammenspiel und im Schlagschatten wirken sie auf den ersten Blick wie ein hochmodernes skulpturales Gebäudeensemble. Solche Einblicke sind es, die Le Corbusier, über den man so viel gelesen, dessen Gebäude man durchwandelt hat, über den man fast alles zu wissen glaubt, plötzlich auf eine andere Weise nahe und verständlich, ja fast wieder lebendig machen.

22. Juni 2019 Spectrum

Kühle Adern durch die Stadt

Es wird nicht reichen, Fassaden überwuchern zu lassen. Vielmehr muss das Gesamtkonzept Stadt passen. Über vertikale Wälder, Gestaltung von Luftschneisen und die Sinnhaftigkeit großer Parkanlagen: Stadtklima in Zeiten sommerlicher Hitzerekorde.

Das vergangene Jahr war nicht nur hierzulande das heißeste in der 252 Jahre alten Messgeschichte, knapp gefolgt von 2017 und 2016, und wenn der Juni so weitermacht wie bisher, wird auch er den Rekord brechen und als bisher wärmster seiner Art in die Statistik eingehen. Die Produzenten von Klimageräten, die Betreiber von Freibädern und die Eisverkäufer mögen sich über die tropische Witterung freuen, doch insbesondere die Stadtbewohner stöhnen zunehmend unter der Sommerhitze.

Bis zu zwölf Grad beträgt der Temperaturunterschied zwischen Wien und dem vergleichsweise grünen Umland, und Grün ist auch schon das Stichwort: Wo Bäume wachsen, wo unversiegelte Flächen Wasser speichern und in Form kühlen Dunstes wieder abgeben, wo ausreichend Grün wuchert, bleiben die Temperaturen erträglich. Wo die Sonne Milliarden Kubikmeter Beton und Asphalt erwärmt, wo mangels Durchlüftungsschleusen die Hitze gewissermaßen stecken bleibt und auch der Sonnenuntergang keine Kühlung verschafft, wälzt sich die Bevölkerung schlaflos durch die Tropennächte und fragt sich, wie man sich denn davor schützen könnte. Sowohl die Architektur als auch Städtebau und Raumplanung suchen nach Antworten darauf, doch nur gemeinsam, gewissermaßen vom Einzelobjekt über die Freiräume und die großen Stadtstrukturen gedacht, werden sie das Problem in den Griff bekommen.

Ein Extrembeispiel dafür, wie sich eine Großstadt ihr eigenes Klima schafft, ist die brasilianische Megacity São Paulo. Wenn die Sonne wochenlang auf das Häusermeer knallt, steigen enorme Massen erhitzter Luft auf. Darunter bildet sich ein Sogeffekt, der die feuchten Luftschichten des nahe gelegenen Atlantiks ansaugt, was bisher nie dagewesene Wolkenbrüche und Überschwemmungen zur Folge hat. Das viel kleinere, grünere Wien beispielsweise ist in einer vergleichsweise günstigen Lage, da sich mit dem Wien- und dem Donautal natürliche Durchlüftungsschneisen durch die Stadt ziehen, doch in manch dicht bebautem Viertel ist davon nichts zu spüren.

Planer wie etwa der italienische Architekt Stefano Boeri sehen das Heil der künftigen Stadt in der aufwendigen Begrünung von Gebäuden. Sein 2014 fertiggestellter Mailänder „Bosco Verticale“, was so viel bedeutet wie „Vertikaler Wald“, mag als prototypisches Testobjekt beeindrucken, funktioniert jedoch nur, weil sowohl für die Errichtung als auch für die Bespielung der beiden Wohntürme mit zahlreichen Sträuchern und Bäumen genug Geld zur Verfügung stand. Auf je 27 Geschoßen wuchert hier tatsächlich ein ansehnliches Wäldchen, doch was so simpel anmutet, ist mit großem konstruktivem und haustechnischem Aufwand verbunden. Außerdem sorgen für die Erhaltung der Tausenden Sträucher, Hecken und Bäume nicht die Bewohner der Luxusapartments, sondern zwei angestellte Gärtner, die übrigens recht rüstig sein dürften, da sie sich gelegentlich an den Fassaden abseilen müssen, um am Hausgrün fachkundig Hand anzulegen.

Der Wiener Stadtbaudirektor Thomas Madreiter kann dieser Art der Stadtklimaverbesserung zwar viel abgewinnen, meint aber, nur das Zusammenspiel aller zur Verfügung stehender Maßnahmen wäre zielführend: „Wenn uns die wirklich urbane Stadt und nicht etwa eine ausgedehnte Gartenstadt ein Anliegen ist, werden wir alle Register ziehen müssen.“ Raumplanung und Städtebau werden sich künftig überlegen müssen, wie die Baukörper klug gestaffelt anzuordnen und Grünräume miteinander zu verbinden sind, dass Frischluftströme wie kühle Adern durch den Stadtkörper fließen. Die Objektplanung, sprich: die Architektur, wird nach weniger aufwendigen Lösungen jenseits der Luxusimmobilie à la Bosco Verticale suchen müssen, damit auch der weniger betuchte Stadtbewohner frisch über den Sommer kommt.

Die simple, jahrhundertealte Erfindung des außen liegenden Sonnenschutzes, früher Fensterladen genannt und in jedem mediterranen Dorf eine Selbstverständlichkeit, wäre hier beispielsweise in einer modifizierten, zeitgemäßen Form ein vergleichsweise unaufwendiger Anfang. Denn das Nachrüsten und Kühlen von Gebäuden mittels elektrisch betriebener Klimageräte kann nur die schlechteste, weil energieverschleißendste aller Lösungen sein. Stand in den vergangenen Jahren vor allem der Schutz vor der Kälte im Vordergrund, so sieht sich die Baubranche nun vor der nicht weniger relevanten Herausforderung, vielmehr die Hitze aus den Häusern auszusperren. Was macht man als Passivhausbewohner, wenn die Raumtemperaturen im super gedämmten Apartment ins Unerträgliche steigen?

Ein Beispiel: Anhand eines gemeinsam von Smart City Wien und Siemens untersuchten, nach allen Regeln der Haustechnik optimierten Testobjekts fand man heraus, dass alle im Winter erzielten positiven Effekte von Dämmung, Wärmepumpen und dergleichen mehr im Sommer zunichte gemacht werden, wenn bei der Planung die Gebäudekühlung kein Thema war. Tatsächlich wurde die Energieeinsparung des Winters in besagtem Fall durch den Stromverbrauch des Sommers bei Weitem überkompensiert, weil sich die hitzegeplagten Bewohner der Reihe nach mit Klimageräten versorgten, um das Raumklima in erträgliche Temperaturbereiche zu zwingen.

Es wird nicht reichen, die eine oder andere Fassade mit Kletterpflanzen überwuchern zu lassen, was wesentlich aufwendiger ist, als man annehmen sollte. Vielmehr muss das Gesamtkonzept Stadt passen. Laut Studien wirken etwa viele kleine Grünflächen, klug in das Stadtgefüge gestreut, deutlich besser in Sachen Kühlung als wenige große Parks. Die Entsiegelung zubetonierter Flächen, wo immer möglich, sowohl in Straßenräumen als auch in Gebäudehöfen, sowie deren Bepflanzung mit robustem, dem Stadtklima gewachsenem Grünzeug wird also eine der elementaren Maßnahmen darstellen. Auch fachgerecht begrünte Dächer tragen nachweislich zur Verbesserung des Stadtklimas bei, doch wird man sich von dem Gedanken verabschieden müssen, dass solche Maßnahmen, obwohl nach Möglichkeit lowtech, nichts kosten.

Pflanzen, Wasser, Erde, das alles wiegt außerordentlich schwer und erfordert bauliche Aufrüstung. Auch wird der durchschnittliche Stadtbewohner nicht in der Lage sein, Fassaden- oder Dachgrün entsprechend zu pflegen, was wiederum Fachpersonal erforderlich machen wird. Das angenehmste Kleinklima bieten an heißen Sommertagen die großformatigen, reich bewachsenen Höfe der sogenannten Superblocks des Roten Wien. Manch moderner Wohnbau wirkt dagegen wie ein Heizkörper, der die Umgebung auch nächtens warm hält. Madreiter dazu: „Unsere Gesellschaft wird sich darauf einstellen müssen, Gebäude so zu planen und zu errichten, dass sie die entsprechende Kühlleistung zurückgeben.“ Wie das mit möglichst geringem technischem Aufwand, etwa mittels Bauteilkühlung, erfolgen kann, wird ein Schlüsselthema der Zukunft sein.

27. April 2019 Spectrum

Was macht eine Stadt lebenswürdig?

Erstmals leben mehr Menschen in urbanen Strukturen als in ländlichen. Was macht eine Stadt lebenswürdig, wie existieren Menschen neben- und miteinander? Fragen anlässlich der Kür Rio de Janeiros zur Welthauptstadt der Architektur.

Die Unesco, jene Organisation der Vereinten Nationen, die unter anderem seit 1972 als Verwalterin des „Welterbes der Menschheit“ amtiert, hat erstmals in ihrer Geschichte eine gesamte Stadt in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt: Für das kommende Jahr wurde die brasilianische Metropole Rio de Janeiro zur „Welthauptstadt der Architektur“ gekürt. Die Wahl erfolgte gemeinsam mit dem Internationalen Architektenverband UIA und wird fortan alle drei Jahre wiederholt. Die UIA wird künftig in der jeweiligen Metropole ihren Weltkongress abhalten und hat sich vorgenommen, neue kommunikative Formate für die Zusammenarbeit zwischen Städteplanern, Politik, Stadtverwaltung und der Stadtbevölkerung zu entwickeln.

Die Unesco ihrerseits hat zwar bereits zuvor Ensembles, also ganze Stadtteile wie etwa die Wiener Innenstadt, zum Weltkulturerbe erklärt, doch nun setzt sie in Zeiten der größten Landflucht der Menschheitsgeschichte ein wichtiges Zeichen. Erstmals leben mehr Menschen in urbanen Strukturen als in ländlichen. Was bedeutet das – nicht nur für die jeweiligen Bewohner, sondern für uns alle? Eine ökologisch sinnvolle Gestaltung der großen Städte ist nicht zuletzt einer der Schlüssel im Kampf gegen den Klimawandel, doch die Fragestellung reicht viel tiefer. Was macht die Lebens- und Liebenswürdigkeit einer Stadt aus? Wie existieren Menschen auf engstem Raum gut neben- und miteinander, und welche Rolle spielt darin die Architektur? Ja, was ist Architektur überhaupt, und was heißt eigentlich „Stadt“?

Was anderswo durch Häuser, Straßen, Plätze definiert wird, ist in Rio ein Spektakel aus Meer und Strand, Berg, Fels und Regenwald und dazwischen hineingestreuten Stadtteilen. Nirgendwo auf der Welt kombinieren sich Architektur und Natur zu reizvolleren Ensembles als in dieser topografisch begnadeten Metropole. Kaum ein Fleckchen, von wo man nicht ein Stück Regenwald sieht, und in Dachgärten und Parks flirren Kolibris und suppentellergroße Schmetterlinge. Hier ist deutlicher lesbar, wie ein glückliches Zusammenspiel zwischen Landschaft, Natur und Architektur funktionieren kann. Dieser Rio-Effekt trifft jeden, der zum ersten Mal hier ist. Er ist eine Art positive Watschen, ein optischer Wachkuss, ein Moment der Erkenntnis des Dreidimensionalen. Er passiert bereits auf dem Weg vom Flughafen in Richtung Copacabana, ganz plötzlich und in einer ganz bestimmten Kurve der Avenida Infante im Stadtteil Flamengo. Dann, wenn auf einen Schlag der Zuckerhut, die Bucht von Botafogo und der Corcovado im Blickfeld erscheinen und jedem Rio-Anfänger erst einmal den Atem rauben. Eine dreidimensionale Postkarte in Lebensgröße erstreckt sich zur Linken, und zur Rechten breitet Christus seine Arme über der Stadt aus.

Wir EU-Europäer kennen lediglich mit London eine echte Megacity mit acht Millionen Einwohnern. Schon die nächstgrößte Stadt Europas, Berlin, ist mit rund 3,5 Millionen Einwohnern im internationalen Vergleich ein mittelgroßes Städtchen. Insbesondere in Asien, Afrika und Südamerika explodieren die Metropolen nachgerade, und Rio de Janeiro ist mit rund 13,3 Millionen Einwohnern nicht einmal halb so groß wie etwa Tokyo, Jakarta oder Delhi.

Unesco-Generalsekretär für Kultur, Ernesto Ottone R, begründet die Entscheidung für Rio als erste Welthauptstadt der Architektur mit der enormen Bandbreite und Qualität ihrer Bauten, sowie den Aktivitäten in den Bereichen Architektur, Kunst und Kultur, die herausragend seien. UIA-Präsident Thomas Vonier ergänzt: „Wir wollen aufzeigen, wie Architekten mithilfe lokaler Stadtregierungen und Communitys eine Schlüsselrolle dabei spielen können, Lösungen aufzuzeigen, die der Gemeinschaft dienen.“

Die Leistungen der brasilianischen Moderne sind bekannt. Ab den 1930er-Jahren prägte eine junge Planerriege, allesamt Kommunisten oder zumindest in der Wolle gefärbte Sozialisten rund um Oscar Niemeyer, Lúcio Costa, Lúcio Moreira, Carlos Leão, Affonso Eduardo Reidy und Ernâni Vasconcellos die luftig-leichte Betonarchitektur der Stadt. Nie sollte vergessen werden, dass häufig soziale Aspekte bei der Planung im Vordergrund standen. Affonso Eduardo Reidy etwa entwickelte sich zum talentierten Wohnbauer. Seine großformatigen Wohnanlagen für die weniger betuchte Bevölkerung Rios schmiegen sich wie Schlangen an die Topografie der steilen Berge. Zwei der herausragenden Beispiele sind die Siedlungen São Vicente und Pedregulho. Letztere liegt heute mittlerweile in einer Gegend der Verwahrlosung, die man besser nicht allein und ohne Landeskundigen aufsucht.

Ebenfalls verwahrlost, gleichwohl nicht so gefährlich ist der ehemals prachtvolle Park rund um Reidys Hauptwerk, das Museum für moderne Kunst. Das Gebäude schwebt gewissermaßen in Betonstützen eingehängt am Ufer jener Bucht neben dem Zuckerhut, die man von Ansichtskarten kennt. Auch anhand dieser Architektur lässt sich eine spezifische Qualität der brasilianischen Moderne festmachen: Außen- und Innenräume, Plätze, Grünflächen – sie alle weisen spielerisch-geometrische Bezüge zueinander auf und bilden so ein Gesamtkunstwerk. Im Park- und Gartenarchitekten Roberto Burle Marx hatten die Betonkonstrukteure einen kongenialen Partner gefunden. Marx war es auch, der der Copacabana die unverwechselbare ornamentale Grafik in schwarz-weißen Schlangenmustern verpasste.

Doch Rio ist bekanntlich auch eine Stadt krasser sozialer Gegensätze und gilt als eine der gefährlichsten Gegenden der Welt. Die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung wohnt außerhalb der berühmten Prachtviertel der Südzone sowie in den Favelas, informellen Siedlungen, die sich meist an steile, kaum bebaubare Berghänge schmiegen. Manche von ihnen wurden von den Einwohnern zu höchst lebenswerten Vierteln ausgebaut, andere sind Slums, in denen eine bitterarme Bevölkerung in für uns Europäer unvorstellbaren Verhältnissen lebt.

Als der Architekt Paulo Mendes da Rocha, genannt Paulinho, 2006 als zweiter Brasilianer nach Oscar Niemeyer den Pritzker-Preis erhielt, solidarisierte er sich mit den anonymen Baumeistern der Elendsviertel, die mittlerweile große Teile der ehemals so ehrgeizigen Architektur- und Stadtprojekte umwuchern. Er pries die „Courage unseres Volkes“, das sich seine eigenen Lösungen suche und nicht warte, bis wieder jemand komme und eine Stadt auf dem Reißbrett entwerfe. So stehen denn auch die anlässlich der Olympischen Spiele und der Fußball-WM entwickelten Viertel in der Kritik vieler Cariocas, die sich weniger ein Museum von Santiago Calatrava als vielmehr eine Verbesserung ihrer Infrastruktur gewünscht hätten. Die Idee, mit Architektur der Welt Kraft, Schönheit und Freude zu vermitteln, ist in der ersten Welthauptstadt der Architektur jedoch in vielerlei Hinsicht gelungen, und es wird nicht einfach werden, die Vorlage von Rio de Janeiro zu toppen.

26. Januar 2019 Spectrum

Sehnsuchtsort Hütte: Vom Glück im Kleinen

Sie bietet eine versteckte Welt, ein Zwergen-Elysium im Abseits: die Hütte. Über einen Sehnsuchtsort, an dem der Mensch ungestört arbeiten, eine Auszeit nehmen, Dreck machen oder faul sein kann.

Der irische Literaturnobelpreisträger George Bernard Shaw lebte zuletzt in der kleinen britischen Ortschaft Ayot Saint Lawrence, wo er eine mit allen Annehmlichkeiten ausgestattete Arts and Crafts Villa inmitten eines Parks bewohnte. Die meiste Zeit zog er sich jedoch in eine Art winziges Hüttenbüro zurück, das er selbst entworfen hatte. Shaws kleine Schreibstube lag verborgen am Ende des Gartens, der flach gedeckte Kubus ist heute in den National Trust eingegliedert. Er sieht wie ein Werkzeugschuppen mit großzügigen Fenstern aus und verfügt über eine ausgeklügelte Basis in Form einer Drehscheibe, die es dem Schriftsteller erlaubte, das Hüttchen mittels kräftigen Rucks beliebig nach dem Sonnenstand auszurichten. Auf den wenigen Quadratmetern unbedingter Privatheit konnte er sich gründlicher von der Welt abschotten als irgendwo sonst. Raffiniert, wie er war, nannte er sein Gartenexil „London“. Wenn jemand in der Villa anrief und nach ihm fragte, musste keiner lügen, wenn die Antwort lautete, er sei nicht da, sondern in London.

Ob Schreib- oder Komponierstube, ob Werkstatt, minimalistisches Feriendomizil oder Meditationshäuschen – die Hütte ist ein Sehnsuchtsort, an dem der Mensch ungestört eine Auszeit nehmen, arbeiten, Dreck machen oder einfach faul sein kann. Sie ist eine versteckte Welt, ein Zwergen-Elysium im Abseits. Künstler, Schriftsteller, Maler, Komponisten zogen sich seit jeher in die Abgeschiedenheit von meist wenig komfortablen, doch mit dem Luxus der Einsamkeit und Stille gesegneten Gartenhüttchen zurück. Der Schriftsteller Dylan Thomas fand in einer umgebauten Garage seine Ruhe, Virginia Woolf in ihrer „Writing Lodge“, Martin Heidegger in einer Berghütte im Schwarzwald, Gustav Mahler in seinem Komponierhäuschen in Krumpendorf am Wörthersee.

Auch der Schweizer Architekt Le Corbusier zog phasenweise die Ruhe eines Ein-Raum-Häuschens an der französischen Riviera dem Trubel der Pariser Großstadt vor. Sein 13 Quadratmeter kleines „Le Cabanon“ sitzt auf einem Felsen über dem Meer. Von außen macht der Blockbau nicht viel her, doch das Innenleben ist mit Holzmöbeln und Einbauten so raffiniert funktional konzipiert wie eine Schiffskajüte.

Über eine ähnliche architektonische Brillanz auf kleinstem Raum verfügen zwar die wenigsten Gartenhütten, doch das tut ihrer Beliebtheit keinen Abbruch. Insbesondere die Briten zelebrieren die kleine Auszeit in den winzigen vier Wänden außerhalb des eigentlichen Wohngebäudes seit jeher. Seit 2001 prämiert der Publikumswettbewerb mit dem Titel „Shed of the Year“ die originellsten Gartenhütten in verschiedenen Disziplinen, vom ökologisch vorbildlichen Hüttchen über historische Gartengebäude bis zu kurzerhand in den Garten ausgelagerten Bürohäuschen. „Shed of the Year“-Gründer Andrew Wilcox hatte den Wettbewerb ins Leben gerufen, als er selbst ein Gartenrefugium andachte und nach Ideen suchte. Die Refugien sind meist ein Sammelsurium aus wiederverwendeten Materialien, wie Teilen von Schiffen und Autokarosserien, alten Fenstern und Ziegeln. Ausgediente Telefonzellen kommen genauso zum Einsatz wie riesige vormalige Industriegefrierschränke, Armeecontainer oder historische Eisenbahnwaggons. Manche sind an Kitschigkeit kaum zu überbieten, doch viele sind gemütliche und pfiffige kleine Rückzugsorte.

Auch wenn selten Architekten mit der Planungsaufgabe einer Gartenhütte betraut werden, so gibt es doch Ausnahmen. Die Londoner Gianni Botsford Architects wurden etwa gebeten, einen Pavillon im Garten eines Privathauses in Zürich zu entwerfen, der nichts anderem als der „altmodischen Kunst des Rauchens“ gewidmet sein sollte. Ein schlichter Kubus aus lichtdurchlässigem, weil mit Glasfasern veredeltem Beton bietet den Qualmern auf acht Quadratmetern Schutz vor der Witterung und zugleich die kontemplative Aussicht in den Park.

Bewährte Hüttenbauer sind auch die niederländischen Künstler und Architekten rund um Joep van Lieshout. Sie schweißten etwa aus abgewrackten Booten geschnittene Stahlplatten als „Wohneinheit“ mit dem Titel „Vostok Cabin“ zusammen und statteten sie mit Holzofen und Möbeln aus wiederverwertetem Holz aus. Die französische Designertruppe Dansmonarbre hat sich überhaupt auf die Konstruktion pfiffiger Baumhäuser verlegt. Eines ihrer raffinierten Projekte, „The Hermitage“, ist ein Kubus aus Lärchenholz, der wie ein überdimensioniertes Vogelhaus in einem riesigen Baum hängt und sich rundum mit aufklappbaren Wand- und Deckenelementen völlig öffnen oder hermetisch abschließen lässt.

Die Prager Uhlik Architekti wiederum stellten für einen Waldbesitzer, der sich einen Ort der Ruhe und Kontemplation wünschte, ein kompaktes, teils schräg wie ein Ausguck in die Luft ragendes Holzhüttchen direkt auf tonnenschwere Findelsteine. Raumhohe Verglasungen holen den Wald und sein Getier in den kleinen Raum, können jedoch zur Gänze mittels Klappwänden geschlossen werden. Das Innere des Waldhäuschens ist ebenfalls fein ausgeklügelt. Eine raumbreite Treppe dient zugleich als Liege- und Sitzlandschaft und als Stauraum.

Eines der wohl verrücktesten Verstecke ist eine bewohnbare Skulptur des Bureau A aus Genf in den Schweizer Alpen. Ihr Name „Antoine“ ist angelehnt an einen fiktiven Charakter des Schriftstellers Charles-Ferdinand Ramuz, der in einer Kurzgeschichte den armen Kerl nach einem Felssturz sieben Wochen unter den Steinen verbringen lässt, bevor er sich endlich befreien kann. Antoine, die Hütte, ist zuinnerst ein Holzhäuschen, das rundum mit Beton umhüllt wie ein Fels auf einem Steilhang in der kargen Alpenlandschaft sitzt.

Die Flucht vor dem Zivilisationstrubel in unkonventionelle und je nach Bauvorschrift recht frei konzipierte Miniaturgebäude ist freilich nicht neu. Auch Henry David Thoreau wird nicht der Erste gewesen sein, der sich in eine Waldhütte zurückzog. Gut tat es ihm aber: „Ihr glaubt, dass ich mich selbst arm mache, indem ich mich von den Menschen zurückziehe, aber in meiner Einsamkeit habe ich mir ein seidenes Gewebe wie eine Schmetterlingspuppe gesponnen, und gleich einer Nymphe werde ich in Bälde als ein vollkommeneres Wesen hervorgehen, einer höheren Gesellschaft würdig.“

7. Dezember 2018 Spectrum

Das alte Autohaus auf dem Wienerberg

Eine alte Werkstatt zeigt vor, wie wohltuend der Gestaltungswille guter Architekten auf Industriegebäude wirken kann – und das sogar über Jahrzehnte. Ein Besuch in der Werkhalle des Autohauses Liewers auf dem Wienerberg.

Der Wienerberg ist eines der mächtigen Portale, mit denen die Bundeshauptstadt einen bedeutenden Teil ihrer motorisierten Pendler begrüßt. Allmorgendlich brandet hier ein Blechstrom aus dem Süden an, teilt sich an der Stadtgrenze in die Charybdis Südosttangente und die Skylla Triester Straße, und egal welchen der beiden Nebenarme man wählt, findet man sich verlässlich im Stau wieder. Zumindest die im Schritttempo den Wienerberg via Triester Straße überwindende Pendlerschar hat demzufolge reichlich Zeit, das dortige Baugeschehen zu verfolgen. Kräne und Baugruben allerorten, der Stadtteil entwickelt sich rasant. Bis 2028 wird die U-Bahnlinie 2 bis hierher ausgebaut, was den Standort mächtig aufwerten wird.

Noch ist es aber nicht so weit, und so bietet sich, auf dem Gipfel angekommen, die Gelegenheit, zur Linken das eben restaurierte und mit neuem Inhalt gefüllte Philips Gebäude von Karl Schwanzer zu bewundern. Der kühne und allgemein bekannte Stahlbetonbau aus den 1950er-Jahren ist jedoch nicht das einzige fast schon historische Architekturjuwel inmitten zeitgenössischer Architektur. Gleich gegenüber zur Rechten liegt, wie eine prächtige glasflügelige Libelle, ein ebenfalls in dieser Zeit entstandenes Gebäude. Im Gegensatz zu den neuen Türmen und dem renommierten „Schwanzer“ findet es jedoch kaum Beachtung.

Es handelt sich um die Werkhalle des Autohauses Liewers, und die ist ein echtes Prachtstück alter Industriearchitektur. Sie ist eine der letzten jener schönen Gebrauchsarchitekturen, die zwischenzeitlich landauf, landab großteils missachtet, abgerissen und durch vergleichsweise schäbige Blechboxen ersetzt wurden. Ausnahmen bestätigen die Regel. Wenn die Grundstückspreise steigen, wenn rundherum die Hochhäuser in den Himmel wachsen und die Rendite die Stadtkonturen formt, stellt sich unweigerlich die bange Frage: Wie lange darf sie hier noch stehen, die elegante, zweiflügelige Libelle, und wird einmal jener traurige Tag kommen, an dem an ihrer statt eine neue Baugrube klafft?

Erfreulicherweise ist dieser Tag nicht in Sicht, denn sowohl die Geschäftsleitung als auch die Mitarbeiter des Unternehmens wissen sehr genau, was sie an dieser Perle haben. Die Doppelhalle präsentiert sich innen wie außen in wohlpoliertem, geradezu perfektem Zustand. So sieht ein geliebtes altes Haus im Idealfall aus. Geputzt und sauber und dennoch behutsam mit den modernen Errungenschaften der Haustechnik ausgestattet, ohne maßgebliche Eingriffe in die Bausubstanz. Zart dimensionierte, geschwungene Stahlbetonträger fassen jeweils die beiden hohen Räume. In den aus Beton gegossenen, betont feingliedrigen Kassettendecken zersplittert der Schall und verliert sich. Nicht nur an den Fassadenfronten, auch in den Übergängen zwischen niedrigem Mittelteil und den beiden höheren Gebäudeteilen links und rechts lassen Verglasungen viel Licht herein. Tatsächlich gibt es Glas wo immer möglich und nötig in Form von Lichtbändern und Oberlichten.

Die miteinander verbundenen Hallen dienen als Werkstatt und Spenglerei, und sie sind seit den 1950er-Jahren unverändert in vollem Betrieb. Keine moderne Halle, sagt Geschäftsführer Michael Zinniel, könne dieser hier das Wasser reichen. Ideales Raumklima, gute Akustik, sehr viel Tageslicht und darüber hinaus diese raue Schönheit einer ihrem Zweck vollständig entsprechenden Architektur, wobei als Zweck offensichtlich nicht nur die Unterbringung von zu reparierenden Autos im Vordergrund stand, sondern auch ein angenehmes Ambiente für diejenigen, die hier tagaus, tagein arbeiten.

Geplant hatte die Liewers-Hallen mit angeschlossenem, ebenfalls gut erhaltenem Büro- und Verwaltungstrakt seinerzeit der damals noch junge Architekt Rudolf Vorderegger. Ursprünglich aus Linz stammend, hatte er bei Oswald Haerdtl an der Hochschule für angewandte Kunst studiert, wo zur selben Zeit Karl Schwanzer als Assistent wirkte. Warum Vorderegger so in Vergessenheit geraten konnte, wird ein Rätsel bleiben. Immerhin zeichnete er 1951 für das erste italienische Espresso Wiens verantwortlich, das mittlerweile völlig umgebaute und letztlich damit in seinem Flair vernichtete Café de l' Europe. Außerdem setzte er sich wenig später beim kleinen Wettbewerb zur Gestaltung der Aida-Filiale am Opernring gegen seinen renommierten Kollegen Karl Schwanzer durch und wurde in Folge der Hausarchitekt des Wiener Konditorimperiums. Zumindest die Aida-Filialen sind heute legendär, wenn auch nicht ihr Architekt.

Die alte Liewers-Werkstatt zeigt jedenfalls vor, wie wohltuend der Gestaltungswille guter Architekten insbesondere auch auf Gebäude für Industrie und Gewerbe wirken kann, und das gegebenenfalls über viele Jahrzehnte hinweg. Im Vergleich dazu können die abscheulichen zeitgenössischen Speckgürtelzonen rund um die Städte, die mit ihren hässlichen, genormten und überall das gleiche schäbige und verwechselbare Bild zeichnenden Billighallen vormals schöne Landschaften verschandeln, sowohl städtebaulich als auch formal nur als Niederlage bezeichnet werden. Sie sind lediglich eines: mit dem Auto gut erreichbar.

Das Automobil, das natürlich auch in den Liewers-Hallen im Mittelpunkt steht, hat Städte und Landschaft erobert und geprägt wie kaum eine andere Erfindung der Moderne, sieht man vom Stahlseil ab. Diese nur scheinbar unwesentliche Schöpfung war wiederum die Voraussetzung für Transport und Geschwindigkeit in die Vertikale. Denn erst das Stahlseil ermöglichte es der Architektur, mittels Aufzügen größere Höhen zu überwinden und Gebäude in den Himmel schießen zu lassen.

Der anfängliche Enthusiasmus der Architekturwelt für das Auto hat sich indes aus den bekannten Gründen abgekühlt, denn wer heute bei Verstand ist, staut nicht mit Gestank und Abgas nach Wien, sondern fährt mit der Bahn. Größen wie Le Corbusier in Europa und Frank Lloyd Wright in den USA ließen ihre Begeisterung für das Automobil seinerzeit jedoch noch ungebremst in unterschiedlicher Weise in ihre städtebaulichen Überlegungen einfließen. Zudem entstanden ab den 1920er-Jahren teils großartige Autoarchitekturen in Form von ausgeklügelten und sich elegant in städtische Ensembles einfügenden Garagen sowie avantgardistischen Tankstellen mit fliegenden Dächern.

Heutige Tankstationen unterscheiden sich nicht in ihrer Gestaltung, sondern nur durch das Logo auf dem Dach voneinander. Auch hier bestätigen wenige Ausnahmen die Regel. So knüpft, um nur ein Beispiel zu nennen, die Tankstelle von Atelier SAD, Adam Jirkal und Jerry Koza, aus dem Jahr 2011 im slowakischen Matúškovo mit modernem Pep und traditioneller Pilzüberdachung an historische Vorbilder an. Architektur leisten sich Autoproduzenten wie Porsche, BMW & Co. dort, wo es darum geht, ihre Produkte in den diversen Autowelten und Automuseen ins Rampenlicht zu rücken. Möge die schlichte, wunderbare Halle von Rudolf Vorderegger sie alle überleben.

10. November 2018 Spectrum

Bauen? Normen! Irrsinn!

Über Architektur zu sprechen ist heute ein philosophisches Privatvergnügen, Bürokratie und Vorschriften nehmen überhand – und übrig bleiben die Architekten. Zum Ist-Zustand des Bauwesens und zur Zukunft einer aussterbenden Zunft.

Die Baukonjunktur brummt. Die Auftragsbücher der Unternehmen sind voll. Nur eine Branche profitiert davon nicht, obwohl sie der Kern jedes Baugeschehens sein sollte: Die Architekten befinden sich im Würgegriff von industriegesteuerten Normen und Sicherheitsvorschriften, und sie gehen in Bürokratie unter. Konzerne und Manager haben den Bauherrn ersetzt, und wo kein Anspruchspartner mit Willen zur Qualität regiert, wo sich die Verantwortung für ein Projekt in der Masse von Controllern, Projekt- und Facility-Managern verliert, bleibt die Architektur auf der Strecke.

Der Architekt als Generalist, bei dem alle Fäden zusammenlaufen, der ein Projekt von A bis Z durchdenkt und optimiert, ist, auch aufgrund der zunehmenden Komplexität von Gebäuden, Geschichte. Ein paar wenige reiten zwar noch auf diesem Dinosaurier in Richtung Sonnenuntergang, doch alle wissen, dass sich die Branche in einem massiven Wandel befindet. Der betrifft letztlich nicht nur die Planer, sondern uns alle, die wir in dieser neu gebauten Umwelt unter dem Joch der Kleinkariertheit werden leben müssen. Christoph Chorherr von den Grünen führt ein Beispiel an: „Gnade uns Gott, würden wir heute die Ringstraße bauen!“ Laut der gängigen Vorschriften bräuchte sie eine Lärmschutzwand. Dafür gäbe es die Baumalleen nicht, weil sie der Feuerwehr im Weg stünden, und die Fassaden, so Chorherr, wolle man sich lieber gar nicht erst vorstellen. Auch an innovative, von der Freude an der Herstellung von bestmöglichem Wohnraum getragene Projekte, wie etwa der Maßstäbe setzende, 1993 fertiggestellte Wohnbau der Architekten Henke und Schreieck in der Wiener Frauenfelderstraße, wäre dieser Tage nicht einmal mehr zu denken. Marta Schreieck: „Kein Mensch würde sich da drübertrauen. Heute geht es vielmehr um Raumminimierung, um unendlich viele Zwei-Zimmer-Wohnungen mit Abstellraum und um Gewinnoptimierung, die Architekturqualität ist anscheinend egal.“ Für zukunftsweisende Entwicklung bleibe kein Raum.

Eine Flut an Normen, die das Bauen enorm verteuern, Auftraggeber, die jegliche Haftungen dafür an die Architekten abschieben, das Damoklesschwert der Juristerei stets über dem Haupt. Architekt Klaus Kada meint, über Architektur zu sprechen sei mittlerweile ein „philosophisches Privatvergnügen“ geworden. „Juristen, Banker, Manager, Versicherer sitzen überall, quatschen überall drein und haben von nichts Ahnung.“ Und sie schaffen einen Wust an unnötiger Bürokratie. Allein im Zuge eines einzigen Wohnbauprojekts in Wien habe er über 6500 E-Mails bekommen: „Die Bearbeitung jedes einzelnen kostet ein Büro gut 40 Euro, doch wenn du auch nur eines liegen lässt, dann haben sie dich schon irgendwo in der Haftung, weil du es widerspruchslos genehmigt hast. Mit Schriftverkehr und Herumtelefonieren verbrätst du fast das ganze Honorar.“ Überhaupt sei die gängige Meinung, Architekten würden sich goldene Armaturen verdienen, lachhaft. Kada: „Eine Architektenstunde kostet so viel wie die eines Automechanikers, doch dort regt sich keiner auf. Wir Architekten sind Hartz-IV-Typen.“ Andere verdienen bei deutlich weniger Aufwand erstaunlich viel mehr an dem Geschäft mit Gebäuden. Jakob Dunkl von Querkraft Architekten: „Wenn wir feststellen, dass ein von uns geplantes Haus zum Verkauf steht und allein der Makler mehr für die Vermittlung bekommt als wir für die gesamte Planung, ist das schon verwunderlich.“

Das Bezahlungssystem befinde sich in Schieflage, hoch qualifizierte Mitarbeiter würden unangemessen entlohnt, Direktaufträge seien inexistent. Dunkl: „Wir machen für zwei, drei Projekte 30 Wettbewerbe, das ist der helle Wahnsinn. Wenn ich hingegen einen Rechtsanwalt anrufe, verlangt der allein für den Erstkontakt 400 Euro, das kann ja nicht sein.“ Die Juristerei, darüber sind sich alle einig, nehme aufs Unangenehmste überhand. Schuld daran, so der Vorarlberger Architekt Johannes Kaufmann, seien letztlich wir alle, die wir zu einer „Hosenscheißergesellschaft“ verkommen wären, keinerlei Eigenverantwortung mehr zeigten und stets einen Schuldigen brauchten. „Der Kampf um qualitätsvolle Architektur“, so Kaufmann, der sich als Vorarlberger im Gegensatz zu der im Osten der Nation tätigen Architekturwelt zumindest noch kulturbewusster Bauherren erfreuen kann, müsse über die absurd ausufernden Normen geführt werden. Für Christoph Chorherr ist der Untergang der verantwortungsbewussten Bauherrschaft zwar immer noch das größere Problem, doch auch er empfindet den Normenwahn als Irrsinn. Vor allem, weil „ein jahrzehntelang politisch überhaupt nicht gesteuertes Normungsinstitut als privater Verein“ dafür zuständig ist: „In dieser Ausgeburt des Kapitalismus sitzen vor allem Lobbyisten verschiedener Unternehmen, die unter der Flagge der Sicherheit auf allen Ebenen eine Norm nach der anderen durchboxen. Und alles, was das Bauen teurer macht, ist für irgendjemanden ein Geschäft.“

Kaufmann meint, es werde im vermeintlichen Dienst an der Sicherheit „mit Kanonen auf Spatzen geschossen“, und zwar in jedem Gewerke, von der Brandsicherheit bis hin zum Schallschutz: „Es ist alles so dermaßen hochgeschraubt worden in den vergangenen 20 Jahren, das ist unvorstellbar, und es beeinflusst die Baukosten natürlich enorm.“ Decken werden aufgrund verschärfter Schallschutzvorschriften dicker, Fundamente wegen der Normen in Sachen Bodenmechanik unendlich viel aufwendiger als früher, von Wärmedämmung ganz zu schweigen. Kollegin Elke Delugan-Meissl sieht nur noch Sicherheits-, doch keine Wohlfühl- und Qualitätsnormen und schon gar keine Passion für Letztere: „Wer als Architekt keinen Namen hat, wird wie der letzte Dillo behandelt, du fühlst dich wie ein Zulieferer, du bist nur noch einer von vielen am Tisch.“ Dabei müsse Architektur fraglos wirtschaftlich sein, doch „jeder will mitschneiden, und am Ende des Tages bleibt für uns bei voller Verantwortung vom Kuchen wenig für die Planung über“.

Der Eisenstädter Architekt Klaus-Jürgen Bauer wirft ein weiteres Argument in den Ring: „Der normale Handwerker – eine aussterbende Spezies übrigens – hat gegen den Pfuscher, der in der Regel zumindest um die Differenz Mehrwertsteuer billiger ist, keine Chance auf dem Markt.“ Diese Klage führen viele. Vor allem für Wiener Baustellen müssen Architekten nicht selten früher Selbstverständliches detailliert in Pläne einzeichnen, weil oftmals ungelerntes Personal zugange ist, das keine Texte lesen kann. Bauer sieht, wie alle anderen auch, das Problem als eines unserer Gesellschaft: „Sorgfalt und Behutsamkeit brauchen Zeit, und die wird nicht bezahlt.“ Ob der Stellenwert des Architekten abgenommen habe? „Wenn die Zukunft unseres Bauens bedeutet, großmaßstäbliche Industrieanwendungsobjekte herzustellen, dann braucht man dafür keinen Architekten in unserem Ausbildungssinn, sondern eine Planungsmaschine, die geölt im Hintergrund läuft.“

8. September 2018 Spectrum

Wenn Fische Burgen bauen

Die Baubionik – die technische Umsetzung biologischer Prinzipien – eröffnet dank ausgefeilter Computerprogramme ungeahnte Möglichkeiten. Das Konzept ist nicht neu: Ihre Anfänge führen ins 19. Jahrhundert zurück.

Der Unterwasserfotograf Yoji Ookata hatte bereits die vergangenen 50 Jahre seines Lebens damit verbracht, die Unterwasserwelt vor den Inseln seiner Heimat Japan zu erforschen, als er vor fünf Jahren auf eine vorerst unerklärliche, doch wunderschöne Absonderlichkeit stieß. Er war im Süden des Inselstaats vor einem abgelegenen Eiland getaucht und hatte dort in etwa 25 Meter Wassertiefe ein kreisrundes Ornament im Sandboden entdeckt.

Die unerklärliche Unterwasserarchitektur war mit zwei Meter Durchmesser recht groß. Zwei zerfurchte Sandwälle umringten mit überraschender geometrischer Präzision eine ebenso akkurat designte kreisförmige Innenzone. Hier im Zentrum war der Sand zu ruhigeren welligen Dünen aufgeworfen, und die Furchen der höheren Wälle und die Täler zwischen den Dünen waren eindeutig zum Zentrum der mysteriösen Angelegenheit orientiert.

Niemand hatte je zuvor diese Sandkreise wahrgenommen, keiner wusste, woher sie stammten und welche Kreatur ihr Baumeister war. Der Fotograf legte sich auf die Lauer und löste das Rätsel gemeinsam mit einem Filmteam und viel Geduld. Tatsächlich erwies sich ein winziger Fisch als Architekt der Sandkonstruktion: ein männlicher, nur wenige Zentimeter langer Kugelfisch. Er arbeitet etwa eine Woche rund um die Uhr, bis das flüchtige Schloss im Sand vollendet ist, und gräbt dafür den Ozeanboden unermüdlich mit seinen Flossen um. Der Kugelfisch baut auf diese Weise ein Liebesnest. Hat er Pech, zerstört die Strömung die Konstruktion vorzeitig. Hat er Glück, kommt zur passenden Zeit ein Kugelfischweibchen des Weges geschwommen und erblickt das schöne Haus mit dem erwartungsvollen Fischbräutigam im Zentrum. Wenn es ihr gefällt, schwimmt sie herab, lässt sich in der Mitte nieder und legt Eier in den Sand, die er dann befruchten darf.

Die eben erst entdeckten Sandkreise sind so präzise und schön gearbeitet, dass ihr Anblick unweigerlich Erinnerungen an den deutschen Zoologen Ernst Haeckel und dessen eindrucksvolle Darstellungen von Plankton, Medusen und winzigen Strahlentierchen wach werden lässt. Haeckel, 1834 in Potsdam geboren, 1919 in Jena gestorben, prägte den Begriff „Ökologie“. Er war ein Verehrer von Alexander von Humboldt und Charles Darwin, und seine prächtigen Zeichnungen von „Kunstformen der Natur“ sowie von „Kunstformen aus dem Meer“, publiziert 1899 und 1904, sollten sich als einflussreich für Architektur- und Kunstgeschichte und Jugendstil erweisen. Als etwa der französische Architekt René Binet die großformatige, aus Stahl gearbeitete Eingangsarchitektur samt Ticketschaltern für die Weltausstellung 1900 in Paris entwarf, die auch das Tor in ein neues Jahrhundert darstellen wollte, nahm er sich Haeckels Grafiken mikroskopisch kleiner Meeresorganismen, sogenannter Strahlentierchen oder Radiolarien, zum Vorbild. Die „Porte Monumentale“, schrieb er an Haeckel, sei bis ins Detail „von Ihren Studien angeregt“.

Auch Kunsthandwerker bedienten sich am reichen und bis dahin nie gesehenen Formenvokabular der Kleinstfauna und -flora. Der französische Glas-Großmeister Emíle Gallé arbeitete dank Haeckels Naturformen als Vorlage neue „Feinheiten und Kurven in das Glas“. Designer und Architekten schöpften aus dem „großen Labor der Natur“, wie Binet meinte, und zogen die teils bizarren Geometrien von Quallen, winzigen Wimperlingen und anderen Lebewesen für Lüster, Tapetenmuster und opulente Lichtschalter heran.

Die Natur als Vorbild für Gebäude, Konstruktionen, Tragwerke und Ornamente zu verwenden war damals, am Beginn des 20. Jahrhunderts, freilich keine bahnbrechende Neuigkeit. Schon die Griechen hatten sich an Pflanzenformen bedient und beispielsweise das korinthische Kapitell als steinernes, reich gezacktes Akanthusblatt mit der Architektur verwachsen lassen. Die gesamte Architekturgeschichte ist voll von Beispielen dekorativer Verwertung natürlicher Formen, von Romanik über Rokoko bis hin zur zeitgenössischen Architektur. Die Schweizer Herzog & de Meuron bedruckten beispielsweise die wandbildenden lichtdurchlässigen Polycarbonatplatten des Verpackungs- und Vertriebsgebäudes für den Kräuterzuckerlhersteller Ricola Anfang der 1990er-Jahre mit der historischen Fotografie eines Schafgarbenblattes.

Richtig spannend wird der Pas de deux zwischen Technik und Biologie, wenn sich die Architektur an bereits von der Natur vollbrachten Lösungen orientiert und sich davon inspirieren lässt. Auch dafür gibt es Beispiele sonder Zahl. So war die Konstruktion des Eiffelturms in Paris der Leichtbauweise eines menschlichen Oberschenkelknochens nachempfunden. Der Schweizer Architekt Le Corbusier wiederum sammelte lebenslang Muscheln, Schnecken und anderes Meeresstrandgut und verwendete diese marine Archiv als Quelle für Eingebung und Formsuche. Sein berühmter „Modulor“ weist, wenn die richtigen Punkte miteinander verbunden werden, exakt die Spiralform einer Seeschnecke auf.

Als weiterer Pionier biomorpher Bauformen gilt der deutsche Architekt Frei Otto, Mitbegründer und Initiator der multidisziplinären Forschungsgruppe „Biologie und Bauen“ der TU-Berlin. Für seine berühmten, mit leichtesten Konstruktionen große Weiten überspannenden Dachhäute, angewandt etwa im Fall der riesigen Zeltdachlandschaft des Münchener Olympiaparks von 1972, experimentierte er mit Drahtmodellen und Seifenlauge, um die Minimalflächen zu eruieren. Für das Tragwerk des Turms der 1961 eingeweihten Kirche in Berlin-Schönow orientierte er sich wiederum am Skelett von Kieselalgen.

Auch der Brite Norman Foster nahm eine natürliche Struktur zum Vorbild für eines seiner berühmtesten Gebäude: Das in der Fassade verlaufende Tragwerk des 2004 eröffneten, 180 Meter hohen und aufgrund seiner Form „Gurke“ genannten Hochhauses in London entspricht dem röhrenförmigen, überaus raffinierten Skelett des in der Tiefsee heimischen Gießkannenschwamms. Ein Einkaufs- und Bürokomplex in Harare wiederum wurde mit einem Lüftungssystem in Form von zusammenhängenden Schächten ausgeführt, das man Termitenbauten abgeschaut hatte.

Der zeitgenössischen Baubionik, so der gängige Begriff für die Abstraktion von Prinzipien der Biologie samt Umsetzung in Technologie, stehen mittlerweile mit ausgefeilten Computerprogrammen, neuen Materialien, Fertigungstechniken und anderen Errungenschaften bisher ungeahnte Möglichkeiten zur Verfügung. Und obwohl derzeit ganze Gebäude den Bionik-Stempel aufgedrückt bekommen, auch wenn ihn nur Details darin verdienen, darf man künftig Spannendes erwarten.

Apropos Details: Der Kugelfischarchitekt bemüht auch scheinbar Überflüssiges. Wenn die Sandburg fertiggestellt ist, sucht er den Meeresgrund nach Muscheln ab, platziert sie überlegt und setzt damit seinem Werk Krönchen auf.

11. August 2018 Spectrum

Das wussten schon die Römer

Recycling in der Architektur: Kubaturen von gestern dienten seit je als Steinbrüche für Neues. Was in Zeiten des Wirtschaftsaufschwungs vergessen wurde, ist heute wieder relevant – umgesetzt dank der Initiative von Privaten und Architekten.

Als im Jahr 1775 mit der Gloriette das prominenteste Gebäude der Schloss Schönbrunn in Wien angeschlossenen Gartenanlage errichtet werden sollte, erreichte den beauftragten Architekten ein Schreiben von Kaiserin Maria Theresia hochselbst. Die sparsame Monarchin hatte sich an das damals bereits leer stehende Schloss Neugebäude in Simmering erinnert und dekretierte: „Es befindet sich zu Neugebau eine alte Galerie von steinernen Säulen und Gesimsen, welche nichts nutzet.“ Man möge, hieß es weiter, „solche von dort abbrechen lassen und nacher Schönbrunn bringen lassen“.

Sowohl Galerie als auch Säulen, Stierköpfe und andere historische Bauteile wurden von Steinmetzen bearbeitet und in den neuen „Ruhmestempel“, in dessen Speisesaal Kaiser Franz Joseph sein Frühstück einzunehmen pflegte, integriert. Man stelle sich zeitgenössische Auftraggeber vor, die ihren Architekten ähnliche Ansinnen zutrügen und sie aufforderten, bestehende Gebäude zumindest in Teilen in neue Architektur einzufügen.

Die meisten Vertreter der Planergilde wären wohl, gelinde gesagt, empört. Tatsächlich jedoch ist das Thema Wiederverwendung von Bauteilen sowie Baumaterialien so alt wie die Architekturgeschichte selbst. Es war in Zeiten von Industrialisierung, Wirtschaftsaufschwung, Wohlstands- und Wegwerfgesellschaft dank vermeintlich unerschöpflicher Ressourcen nur in Vergessenheit geraten. Doch erst vergangene Woche beging die Menschheit, oder der Planet, je nach Perspektive, den sogenannten Welterschöpfungstag, an dem laut Berechnungen des „Global Footprint Network“ alle natürlich verfügbaren Ressourcen für das Jahr aufgebraucht sind. Ab nun lebt die Menschheit sozusagen auf Pump.

Zu dieser Ausbeutung des Planeten trägt die Bauwirtschaft einen guten Teil bei. Seit der Recycling-Baustoffverordnung 2016 müssen zwar unter anderem Abbruchmaterialien getrennt gesammelt werden, um eine qualitätsvolle Verwertung zu gewährleisten. Doch viele Materialien landen nach wie vor auf Deponien, etwa weil sie verklebt sind und nicht sortenrein zerlegt werden können.

Zukunftsorientierte Planer stellen diese Art der Verschwendung aktiv infrage. Als Vorreiternation kann Belgien genannt werden, wo 80 bis 90 Prozent von Bau- und Abbruchabfällen recycliert werden. Doch ein großer Anteil findet zerschreddert und zerkleinert als Füllmaterialien etwa im Straßenbau Verwendung, und das, so findet jedenfalls das 2005 gegründete Brüsseler Büro Rotor, greift zu kurz.

Das interdisziplinäre Team befasst sich mit den Möglichkeiten der Wiederverwendung und hat sich dabei auf Elemente moderner Bürogebäude spezialisiert. Qualitätsvolle Bauteile wie abgehängte Decken, Beleuchtungskörper, Steinbeläge, mobile Trennwände und dergleichen mehr müssen, so Rotor, nicht auf der Deponie landen, sondern können behutsam und nach architektonischen Kriterien an anderer Stelle wiederverwendet werden.

Ein Beispiel dafür stellt die 1971 vom renommierten belgischen Innenarchitekten Jules Wabbes gestaltete Innenausstattung eines Brüsseler Bankgebäudes dar. An die 230 Tonnen an Granitböden, Wandverkleidungen, Stahltüren, Holzelementen, Metalldecken, Möbeln und anderes wurden abgebaut, wanderten zur Reinigung oder in Restaurierwerkstätten und landeten schließlich in neuen Gebäuden.

Dabei wurde streng kalkuliert. Was kostet der Ausbau? Wie ist der Zustand der Materialien? Welchen funktionalen und symbolischen Wert besitzen sie? Idealerweise regelt, so das Büro Rotor, in einer nicht allzu fernen Zukunft ein rechtlicher Rahmen diese Art der Wiederverwertung, insbesondere im Fall öffentlicher Gebäude. Erst wenn die Vermögenswerte der einzelnen Bauteile und Einrichtungselemente in Zahlen daliegen, wird das Interesse steigen, sie in größerem Rahmen wieder in den Stoff- und Materialkreislauf einzuschleusen.

Die Wiederverwertung von Bauteilen war, wie erwähnt, über Jahrtausende nicht nur üblich, sondern teils sogar gesetzlich verankert. Im spätantiken, 438 veröffentlichten Codex Theodosianus regelte ein Kapitel den Umgang mit öffentlichen Gebäuden. Nur solche, die nicht mehr zu retten waren, durften überhaupt zerstört werden, und das nur unter der Voraussetzung, dass möglichst viele ihrer Baumaterialien und Bauteile einer Wiederverwendung zugeführt wurden.

Bereits zuvor hatten die Römer aus Abbruchmaterialien Beton hergestellt, und seit ewigen Zeiten waren verfallene Gebäude gewissermaßen als Steinbrüche für Neues verwendet worden. Wozu Holzbalken wegwerfen, wenn sie an anderer Stelle wieder eingebaut werden können? Wozu umständlich und kostenintensiv neue Ziegel brennen, wenn alte vorhanden sind und nur geputzt werden müssen? Private sind auf diesen Trend längst aufgesprungen. In diversen Internetforen tun sich regelrechte Börsen für Antiquitäten der anderen Art auf: Historische Sternparkettböden werden hier genauso feilgeboten wie Werkstattfenster, gebrauchte Stahlträger oder Betonrohre.

Einen verwandten Weg schlagen Architekten wie die Deutschen Dirk Hebel, Werner Sobek und Felix Heisel ein. In einem Interview in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift „Bauwelt“ fordern sie, den Begriff Abfall durch das Wort Materialressource zu ersetzen, und wie sich das in die Tat umsetzen lässt, demonstrieren sie im Schweizer Dübendorf. Dort befindet sich das Forschungsgebäude Nest, für das die drei die „Experimentaleinheit Urban Mining & Recycling“ geplant und umgesetzt haben.

Alle zur Herstellung eines Gebäudes benötigten Ressourcen, so ihr Postulat, müssen „vollständig wiederverwendbar, wiederverwertbar oder kompostierbar sein“. Material darf niemals verloren gehen, es ist lediglich eine Zeit lang in einem Gebäude gebunden, um später in den Materialkreislauf wieder zurückzukehren. Tragwerk und große Teile der Fassade bestehen denn auch aus Holz, wofür übrigens die österreichische Zimmerei und Tischlerei Kaufmann in Reuthe zuständig war.

Im Innenausbau kommen ausschließlich seriell verarbeitete Bauprodukte zum Einsatz, die nach dem Lebenszyklus des Gebäudes „sortenrein und rückstandsfrei in ihre unterschiedlichen Stoffkreisläufe zurückgeführt werden können“. Die Architekten orten auch bei Baustoffproduzenten ein zwar noch langsames, doch deutliches Umdenken. So kommen beispielsweise wieder Armaturen auf den Markt, die zerlegt und repariert werden können und nicht, wie derzeit gang und gäbe, weggeworfen werden müssen, weil irgendwo im Inneren eine nicht austauschbare Dichtung den Geist aufgegeben hat.

Möglicherweise befinden wir uns in der Morgendämmerung einer neuen Architekturära, die Häuser nicht lediglich in dämmende Sondermüllpullover packt, sondern endlich weiter denkt als über den Wärmedurchgangskoeffizienten hinaus.

7. Juli 2018 Spectrum

Østerrike am Fjord

In der unberührten Natur Norwegens ließ sich einst ein junger Mann nieder, der in Ruhe in dieser Umgebung denken wollte. Heute wird sein Haus dank einiger Idealisten wiederaufgebaut. Der Name des ehemaligen Besitzers: Ludwig Wittgenstein.

Am Ende des Sognefjords in Norwegen liegt ein 200-Seelen-Dörfchen mit Namen Skjolden. Dahinter erstreckt sich, spektakulär in die schroffe Berglandschaft gebettet, ein See, an dessen Ende wiederum eine steile Felswand aufragt. Links und rechts rauschen Wasserfälle zu Tal. Der eine oder andere Raubvogel kreist über dem Wald. Gelegentlich bimmelt irgendwo ein Glöckchen, wenn ein Schaf ein paar Schritte tut. Ansonsten herrscht die Stille reiner Natur.

Die längste Zeit waren die Schafe hier allein und unter sich, aber hin und wieder passierte es doch, dass jemand zu Besuch kam. Leute aus fernen Ländern schnürten ihre Wanderschuhe und schlugen sich durch das Dickicht hinauf auf besagte Felswand. Sie folgten einem kaum erkennbaren Pfad. Oben angelangt, 30 Meter über der Wasserfläche, lag ihr Ziel: eine Fundamentplatte, aus Steinen aufgeschichtet, etwa sieben mal acht Meter groß, zur Felskante hin zwei Meter hoch.

Ein Zitat des Wiener Architekten Adolf Loos besagt: „Wenn wir im Walde einen Hügel finden, sechs Schuh lang und drei Schuh breit, mit der Schaufel pyramidenförmig aufgerichtet, dann werden wir ernst, und es sagt etwas in uns: Hier liegt jemand begraben. Das ist Architektur.“

Auch in diesem Fundament über dem See Eidsvatnet liegt etwas begraben, doch zum Glück nicht jemand, sondern vielmehr ein Teil der Geschichte eines Mannes, der hierherkam, um im „stillen Ernst“ der Landschaft zu denken und zu schreiben: Bis zum Jahr 1956 stand an dieser Stelle das erste Haus von Ludwig Wittgenstein.

Der wichtigste österreichische Philosoph des 20. Jahrhunderts war, damals 24 Jahre alt und seit zwei Jahren bei Bertrand Russell am Trinity College in Cambridge eingeschrieben, im Sommer des Jahres 1913 nach Norwegen gereist, um in größtmöglicher Einsamkeit und Stille zu denken und zu schreiben. Die Gegend gefiel ihm so, dass er, kaum wieder ins quirlige Cambridge zurückgekehrt, beschloss, sich in Norwegen niederzulassen.

Noch im selben Jahr plante er ein kleines Holzhäuschen auf dem Fels über dem See. Insgesamt fünf Jahre seines Lebens sollte er in Norwegen verbringen, und selbst in den Monaten vor seinem Tod im Jahr 1951 hatte er den Wunsch, wieder in die Waldeinsamkeit zurückzukehren, doch dazu war es zu spät. Er vermachte das Haus einem ortsansässigen Freund. Etwa vier Jahre stand es leer, dann wurde es abgebaut, die Hölzer wurden über den gefrorenen See transportiert und in Form eines neuen Häuschens wiedererrichtet.

Nur das Fundament blieb, und, zumindest bei manchen Wittgenstein-Anhängern, die Erinnerung an den Ort, an dem der Philosoph an seinem Frühwerk, dem „Tractatus logico-philosophicus“, formulierte. „Ich kann mir nicht vorstellen“, schrieb er Jahre später, „dass ich irgendwo anders so hätte arbeiten können wie hier. Das ist die Stille und vielleicht auch die wunderbare Landschaft – ich meine ihren stillen Ernst.“

Seit vergangenem Mai ist, zumindest vorübergehend, Schluss mit besagter Stille. Eine internationale Gruppe von Professoren – Philosophen, Architekten, Städteplaner – hat die Aufgabe in Angriff genommen, Wittgensteins norwegische Denkerstätte wiederaufzubauen. „Möglicherweise hätte ihm das missfallen“, sagt mit Harald Nils Røstvik, Professor für Architektur an der Universität Stavanger, einer der Projektinitiatoren, „aber er hätte sicher die Idee gemocht, dass junge Leute hier zum Nachdenken und Arbeiten zusammenkommen.“ Gut 90 Prozent der ursprünglichen Baumaterialien sind erhalten, die Hölzer, die Dachziegel, selbst die Fenster. Die fanden die Wittgenstein-Rechercheure sorgfältig gestapelt in einem alten Schuppen. Ein Bauer hatte sie Mitte der 1950er-Jahre jenem Mann abgekauft, der aus dem demontierten Häuschen sein Sommerhaus baute, der mit den traditionell österreichischen Fenstern, in Norwegen eher unüblich, jedoch nichts anfangen wollte. Mehr als ein halbes Jahrhundert lagerten sie da. Nun werden sie vor Ort im Rahmen diverser Seminare von Studenten der Universitäten Cambridge, Manchester, Berlin, an denen Wittgenstein selbst seinerzeit studiert hat, säuberlich geputzt, restauriert und, den Ergebnissen langjähriger wissenschaftlicher Studien folgend, zu dem zweigeschoßigen Häuschen über dem See wieder zusammengesetzt.

Das Ziel: den Ort zum einen wieder begeh- und besichtigbar zu machen, zum anderen eine kleine Denkerstätte zu schaffen, die von Philosophen, Studierenden und Interessierten benutzt und wertgeschätzt werden kann. Ein bescheidenes Besucherzentrum ist ebenso geplant wie der Wiederaufbau des alten Bootshauses und des vom technisch versierten ehemaligen Maschinen- und Flugzeugkonstrukteurs Wittgenstein raffiniert gebauten Wasseraufzugs in Form einer Seilwinde hinunter zum See.

Das Haus war bescheiden, spartanisch, klein. Im Erdgeschoß ein Arbeitsplatz, ein Herd zum Kochen und Heizen, eine in das Fundament eingelassene kühlende Speisekammer, eine außen gelegene simple Duschmöglichkeit. Im Obergeschoß ein langer Balkon, die Schlafstatt, der Giebel, anders als in Norwegen üblich, auf den See gerichtet.

Der vormals überwucherte steile Pfad hinauf ist zur Hälfte saniert und abgesichert, für den restlichen Weg fehlt derzeit noch das Geld. Die Wittgenstein-Stiftung in Skjolden hat international mit Mühe Sponsoren aufgetrieben, die Mitglieder arbeiten unentgeltlich, die Studenten finanzieren sich ihre Reisen selbst. Leute wie der Schriftsteller Jostein Gaarder und Jon Fosse beteiligen sich, doch bis zum Ziel der, wie Rostvik schätzt, höchstens 800.000 Euro Projektsumme, ist der Weg noch steil. Dennoch soll das Haus kommendes Jahr fertig sein.

Es mutet befremdlich an, dass diesem Projekt an einem Ort, den die Einheimischen bis heute Østerrike nennen, bis dato keinerlei österreichische Zuwendung jedweder Art zuteil wurde. Den vormaligen Botschafter in Oslo schien es nicht zu interessieren, doch mit seinem Nachfolger Wilhelm Maximilian Donko könnten die Häuschenbauer möglicherweise einen tatkräftigeren Verbündeten zur Seite haben. Er sei kein Architekturspezialist, meinte er, doch werde er sich das Projekt nun genauer anschauen.

„Die Arbeit an der Philosophie ist, wie vielfach die Arbeit an der Architektur, eigentlich mehr die Arbeit an einem selbst, an der eigenen Auffassung, daran, wie man die Dinge sieht und was man von ihnen verlangt“, schrieb Wittgenstein. Österreich hat 1975 das international vielbewunderte Haus in Wien, das der Philosoph für seine Schwester gebaut hatte, an Bulgarien verkauft. Das war schon schändlich genug. Vielleicht ergibt sich nun eine winzige Wiedergutmachung, eine kulturelle Rehabilitation. Des Landes, nicht des Philosophen.

23. Juni 2018 Spectrum

Eine fruchtbare Romanze

Es war einmal eine kleine Villa an der Copacabana, im Besitz der Republik Österreich – ein letztes Monument der Moderne. 2012 wurde das „Rosa Haus“ verkauft, heute steht dort das Hotel Emiliano – ein würdiger Nachfolgebau samt innovativem Sonnenschutzsystem.

Wo, wenn nicht in der Architektur, kann man sich anschaulicher auf die Suche nach der verlorenen Zeit begeben, kann dem Geist untergegangener Epochen unmittelbar nachspüren und so das Gestern mit dem Heute gedanklich verknüpfen? Nicht alle alten Häuser sprechen eine sympathische Sprache, aber manche von ihnen doch, und meistens erzählen sie uns grundlegende Geschichten. Sie berichten aus der Zeit, in der sie gebaut wurden, von den Menschen, die sie in Auftrag gaben, die sie bewohnten, und von den Architekten, die sie entwarfen.

Lange Zeit besaß die Republik Österreich eines dieser Kleinodien - eine schmale Villa, die seit Mitte der 1920er-Jahre am Strand der Strände stand, direkt vorne an der Wasserlinie der Copacabana in Rio de Janeiro. Ab 1929 waren darin abwechselnd die österreichische Gesandtschaft, die Botschaft und zuletzt das Generalkonsulat untergebracht. Im Jahr 2012 verkaufte die Republik im Rahmen des allgemeinen Familiensilberverscherbelns schließlich auch das „Rosa Haus“ am anderen Ende der Welt an einen Immobilieninvestor. Der legte dafür wenig überraschend die stattliche Summe von 11,87 Millionen Euro auf den Tisch, weil es ihm natürlich nicht um das historische Gebäude ging, sondern um die etwa 1000 Quadratmeter Grund und Boden, auf dem es inmitten dichtester Bebauung stand.

Als der Architekt Julio de Abreu Junior das Häuschen für den 1865 auf dem Gebiet des heutigen Tschechien geborenen, nach Brasilien ausgewanderten Kaffee-Exporteur Hugo Ornstein plante, war die Avenida Atlântica gerade einmal ein Sträßchen, und die Atlantikwellen schäumten noch ungebändigt weit hinauf an den Strand. Die heute weltberühmte Skyline war noch nicht einmal als Ahnung vorhanden. Lediglich die historistische Prunkarchitektur des damals ebenfalls gerade fertiggestellten Hotels Copacabana Palace deutete auf eine möglicherweise glamouröse Zukunft dieses gottgeküssten Stadtstreifens zwischen Meer und Granitfelsen hin. Im Vergleich zum schnörkelreichen Hotelkasten war das zweigeschoßige Häuschen eine Winzigkeit, und doch war es etwas Besonderes. Denn im Gegensatz zu dem bereits zu seiner Entstehungszeit der Vergangenheit huldigenden Copacabana Palace, heute übrigens immer noch das erste Haus am Platz, war es als eines der ersten an der Strandpromenade dem neuen Zeitgeist der Moderne verpflichtet. Als zierlicher kleiner Kubus, rosa angepinselt, stand es da, hielt sozusagen fast hundert Jahre lang als eines der ersten, später als letztes verbliebenes Monument der Moderne die Stellung, wie ein Zwergenhäuschen zwischen all den Hochhäusern, die es über die Jahrzehnte von allen Seiten mächtig zu beschatten begannen.

Sein vormaliger Besitzer und Bauherr Hugo Ornstein, ein offenbar umtriebiger, kunstsinniger Geselle, der zum Generalkonsul der österreichischen Republik ernannt wurde, starb 1936. Laut dem Handbuch des Österreichischen Auswärtigen Dienstes stand die Immobilie bereits ab 1931 im Bundeseigentum, doch die Wertschätzung verlor sich über die Jahre. Und da es Immobilieninvestoren gewöhnlich nicht um die Architektur der Moderne geht, sondern um Filetstücke im Fleisch der Stadt, wurde das Häuschen abgerissen. Nun ist es endgültig Vergangenheit, und seine Geschichte wird sich im Treibsand der Zeit verlieren.

So weit der Nostalgieausflug ins Gestern, doch nun zurückgehüpft ins Heute: Obwohl brasilianische Kunst- und Architekturhistoriker sowie viele Bewohner der Copacabana den Verlust des charmanten Rosa Hauses betrauern, erwidert den Jammer zumindest eine erfreulich qualitätsvolle Architektur. Die Baulücke zeigt sich mit Würde und Eleganz mit einem Gebäude befüllt, das seinerseits nicht auf die Vergangenheit vergisst, sondern dem bereits Gedachten, Geplanten und für gut Befundenen in zeitgenössischer Interpretation huldigt.

Das Hotel Emiliano, davon ist sein Architekt, der US-Amerikaner Chad Oppenheim, überzeugt, befindet sich in der „bei Weitem schönsten Stadt der Welt“. Sein Entwurf sei „das Resultat einer Liebesbeziehung zu Rio“, der Stadt, die „das harmonische Zusammenspiel zwischen Mensch und Landschaft zelebriert“. Die Romanze erwies sich als fruchtbar. Die eigenwillige, doch gar nicht eitle Fassade des Hotels schmiegt sich harmonisch zwischen die benachbarten Wohnhäuser aus den 1950er-Jahren und nimmt dabei eine Idee auf, die Le Corbusier seinerzeit perfektionierte, jedoch in Rio erstmals in den 1930er-Jahren in einem gemeinsam mit Lucio Costa, Affonso Eduardo Reidy, Roberto Burle Marx und am Rande auch Oscar Niemeyer geplanten Ministeriumsgebäude ins historische Zentrum der Stadt stellte.

Die geschickt strukturierte Fassade des Palácio Gustavo Capanema schirmt sein Inneres mittels fixer vertikaler Betonscheiben sowie vorgesetzter, beweglicher, horizontaler Lamellen gegen die Tropensonne ab. Dieses Brise Soleil genannte System sorgt mit wenig Aufwand für Kühle, und Chad Oppenheim interpretierte es für das Hotel Emiliano mit vertikal verschiebbaren, geschoßhohen Fassadenpaneelen um. Die Gäste können die vorgesetzten Scheiben nach individuellen Bedürfnissen einstellen, was der Fassade eine fröhliche Lebhaftigkeit verleiht. Zwölf Geschoße beherbergen 90 Hotelzimmer sowie die erforderlichen Infrastrukturen wie Konferenzräumlichkeiten, Bars und – für ein Fünfsternehaus an der Copacabana unerlässlich – eine prachtvolle Pool- und Dschungellandschaft auf dem Dach. Für die elegante Innenausstattung zeichnet der brasilianische Architekt Arthur Casas verantwortlich, und auch der verneigt sich mit zeitgenössischem Knicks vor seinen Vorgängern, allen voran vor Landschafts- und Gartenarchitekt Roberto Burle Marx, der der Copacabana in den 1970er-Jahren ihr charakteristisches Pflastermuster gab.

Casas mixte klassisches brasilianisches Möbeldesign gekonnt mit eigenen Entwürfen, legte Bedacht auf lokale Materialien wie Hölzer und Steine und holte die Wellenlandschaft der Berge und Strände Rios mit geschwungenen Wandelementen und tropisch überwucherten Wänden in das Gebäudeinnere. Chad Oppenheim sagt, gemeinsam wollten sie die „Essenz Rios einfangen“ und die Gäste mit allem verwöhnen, was die Stadt zu bieten hat, mit „ihrem Geist, der Lebenslust ihrer Einwohner, der Liebe zur Natur und den majestätischen Ausblicken“. Auch am anderen Ende der Copacabana hat sich eine der raren Baulücken aufgetan und wird eben mit einem luxuriösen Wohngebäude befüllt. Der Entwurf dazu stammt von der 2016 verstorbenen Architektin Zaha Hadid. Auch in diesem Gebäude sind Anklänge an das seinerzeit in Rio etablierte Brise-Soleil-Prinzip erkennbar – wenngleich in exaltierter, doch etwas eitler Manier.

19. Mai 2018 Spectrum

Karl Schwanzer: Avantgardist in der engstirnigen Nachkriegszeit

In den 27 Jahren, in denen er sein Architekturbüro führte, entstanden an die 600 Projekte; viele davon in eine Zukunft gedacht, die damals in Österreich noch gar nicht angebrochen war. Zum 100. Geburtstag eines begeisternd Begeisterten.

Manchmal tauchen Menschen im Zeitengewühl auf, die sind so voll Kraft und Ideen, dass sie sich freischwimmen und – zumindest für eine Zeit lang – den gewaltigen Strudeln und Strömungen des Geschehens eine neue Richtung geben können. Ein solcher Mensch war der Wiener Architekt Karl Schwanzer. Da die Architektur jedoch eine vergleichsweise unbedankte, ja missachtete Disziplin ist, üblicherweise mehr geschimpft als gelobt und bedauerlicherweise oft völlig missverstanden, geriet er weitgehend in Vergessenheit.

Kommenden Dienstag jährt sich Karl Schwanzers Geburtstag zum 100. Mal, und kommende Woche wird, 43 Jahre nach seinem Tod, endlich sein umfangreicher Nachlass dem Wien Museum und damit einer Institution übergeben, die ihn würdigen und in entsprechendem Rahmen der Öffentlichkeit präsentieren kann. Auf diese noch zu planenden, doch mit Sicherheit bevorstehenden Ausstellungen dürfen wir uns freuen. Denn die heute aus dem Bewusstsein der breiteren Öffentlichkeit fast verschwundene Architektenpersönlichkeit im Großformat legte von den 1950er- bis Mitte der 1970er-Jahre gewissermaßen das Fundament, auf dem eine neue, unbedingt der Zukunft und nicht der Vergangenheit verpflichtete österreichische Architektur aufbauen konnte.

Möglicherweise kennt man Karl Schwanzer noch als den Architekten des Philipps-Hauses auf dem Wienerberg und der Wiener Universität für angewandte Kunst, als den Erbauer der Münchner BMW-Zentrale und des sogenannten Zwanzigerhauses neben dem Wiener Hauptbahnhof. Tatsächlich ist Schwanzers Œuvre jedoch gewaltig, wenn auch zu einem guten Teil nur noch in Plänen und Fotografien erhalten: In den 27 Jahren, in denen er sein Architekturbüro führte, entstanden an die 600 Projekte, die es wieder zu entdecken gilt – viele davon erstaunlich modern, in eine Zukunft gedacht, die damals in Österreich noch gar nicht angebrochen war.

Seine wahrscheinlich größte Leistung vollbrachte er aber als Architekturlehrer in den 15 Jahren, in denen er an der Technischen Hochschule in Wien als Professor für Entwerfen mit seinem legendären blauen Buntstift die kommende Planerriege disziplinierte und zu äußersten Leistungen anspornte. Schwanzers Persönlichkeit ist Legende – seine Zornausbrüche, sein Aufbrausen, aber auch seine Sachlichkeit und sein Zulassen von Ungewohntem, Neuem. Sein Lehrstuhl wurde zu einem Kristallisationspunkt für avantgardistisches Denken in einer engstirnigen Nachkriegszeit. Er prägte mit brachialer Energie und einer unbedingten Begeisterung für ein neues Bauen eine ganze Architektengeneration, deren Kinder und Enkel auch heute noch, oft unbewusst, von seinem Geist profitieren.

„Wir haben zu ihm aufgeschaut“

„Wie man ihn so vergessen konnte, ist ein Rätsel und ein Zeichen größter Ignoranz“, sagt etwa Wolf Prix von Coop Himmelb(l)au. Die Architektur begehe stets den Fehler, nicht auf den Schultern ihrer Vorgänger stehen zu wollen, zu glauben, alles neu erfinden zu müssen, und beginne dessentwegen immer wieder von vorne. Schwanzer praktizierte tatsächlich das genaue Gegenteil: Er holte die Weltarchitektur nach Wien, präsentierte sie seinen Studenten, ließ Experimente zu, ja verlangte sie nachgerade, und verpflichtete Freigeister und Querdenker wie den legendären Günther Feuerstein als Assistenten.

„Er war ein Gott“, stellt sein ehemaliger Student und Mitarbeiter Peter Holzer fest: „Wir haben zu ihm aufgeschaut wie zu einem Messias.“ Als er auftauchte, so meint Holzer, sei ein Raunen durch die Hörsäle gegangen, in denen bis dahin die ultrakonservative Baumeistertradition der Vorkriegszeit den miefigen Ton angegeben hatte. Der Architekt Timo Huber erinnert sich an Schwanzer als „wuchtige Persönlichkeit, groß und schwer und sehr neugierig“, und beschreibt die Technische Hochschule von damals als „grauen Haufen“: „Da hat es in den Köpfen vieler Professoren noch nach faschistischem Gedankengut gestunken, und plötzlich ist einer dahergekommen, der das alles weggewischt und uns ganz neue Welten eröffnet hat.“

Schwanzer ließ seinen Studenten den frischen Wind der Internationalität um die neugierigen Nasen wehen und brachte ihnen darüber hinaus pragmatische Grundsätze des Architekturschaffens bei: Wie schauen sinnvolle Organisationsstrukturen von Architekturbüros aus? Wie wickelt man Großprojekte mit größtmöglicher Professionalität ab? Welche Strategien zur Durchsetzung von Projekten führen zum Erfolg?

Vor allem Letzteres, so Wolf Prix, habe er von ihm gelernt. Als Schwanzers Wettbewerbsprojekt für den Neubau der BMW-Zentrale in München, vom Volksmund liebevoll Vierzylinder genannt, auf der Kippe stand, weil sich kein Mensch vorstellen konnte, wie man in runden Räumen würde arbeiten können, mietete er kurzerhand ein Filmstudio, baute ein Büro als Kulisse naturgetreu nach, setzte Komparsen an die Schreibtische und ließ einen Film drehen. Den präsentierte er den BMW-Granden, ließ sie virtuell durch ihr neues Gebäudereich spazieren, überzeugte sie damit und bekam im Dezember 1967 den Zuschlag, eines der bis heute wichtigsten Nachkriegsgebäude Deutschlands zu bauen.

Als er von der Beauftragung erfuhr, war er gerade auf dem Weg in den Hörsaal. „Heute“, rief er seinen Studenten zu, „ist Weihnachten!“ Wolf Prix war dabei, und er merkte sich diesen Moment gut. Als er sich gut 30 Jahre später in der gleichen Situation wiederfand und erkannte, dass auch der nun entscheidende BMW-Vorstand allein aufgrund der Pläne keine Vorstellung vom Coop-Himmelb(l)au-Projekt für die neue BMW-Welt bekam, mietete auch er eine Fabrikhalle, ließ ein Großmodell bauen und filmen, bekam den Auftrag und richtete wenig später seinen eigenen Studenten posthum Schwanzers Grußbotschaft aus: „Niemals sollst du aufgeben, die Auftraggeber zu überzeugen!“

Schwanzer selbst hatte immer schon gewusst, dass er Architekt werden wollte. Bereits als Kind, so schrieb er in seinem 1973 erschienenen Buch „Architektur aus Leidenschaft“, war es eine seiner liebsten Beschäftigungen, „Traumschlösser“ zu zeichnen. Im Alter von 16 Jahren entwarf er ein Häuschen für die Familie. „Es war etwa die Zeit der Werkbundausstellung in Wien, durch die mir Architektennamen – wie Le Corbusier, Neutra, Josef Hoffmann und andere – erstmals bekannt wurden.“ Nach seinem Studium heuerte Schwanzer beim damals sehr erfolgreichen Architekten und Architekturlehrer Oswald Haerdtl an und arbeitete sowohl in dessen Büro als auch als sein Assistent an der Hochschule für angewandte Kunst. Haerdtl vertraute dem Jungspund offenbar, denn er schickte ihn bereits 1946 nach Paris, um dort den Pavillon für eine österreichische Messebeteiligung zu bauen, nahm ihn mit zum Schweizer Werkbund, zur Architekturausstellung in Chicago, auf die Architekturbiennale in Venedig, ermöglichte es ihm, erste internationale Anker auszuwerfen und wichtige Kontakte zu knüpfen.

„Das Reisen“, so erinnert sich Schwanzers Sohn Martin, „war zeitlebens extrem wichtig für ihn, und er kam immer mit neuen Ideen zurück.“ Unterwegs sei er ein ganz anderer Mensch gewesen – neugieriger, lustiger, aufgeschlossener, lockerer. „Doch schon im Anflug auf Wien, wo all die Sachzwänge auf ihn warteten, hat sich der Vater wieder stark verändert.“ Diese Lust am Internationalen, am Spielerischen konnte Schwanzer vor allem als Architekt temporärer Architekturen gekonnt ausleben. Zu den im Nachlass dringend zu entdeckenden Kleinodien zählen seine zahlreichen Messe- und Pavillonarchitekturen, die er, wiederum seiner Zeit weit voraus, von professionellen Fotografen dokumentieren ließ.

Gut in Erinnerung sind zwar seine Pavillons für die Weltausstellungen, etwa der von 1958 in Brüssel, der mit dem Grand Prix d'Architecture ausgezeichnet und später als Zwanzigerhaus im Wiener Schweizergarten wieder aufgestellt wurde. Doch in den von Martin Schwanzer und Mirko Pogoreutz nun jahrelang sortierten, geordneten und digitalisierten Unterlagen finden sich erstaunliche, bisher kaum je gesehene Messearchitekturen, die dringend wieder hervorgekramt und veröffentlicht werden müssen.

Wenig bekannte Geschäftslokale

Eine entsprechende, voluminöse Publikation mit diesen historischen Fotografien, so Martin Schwanzer, ist in Arbeit und wird in nicht allzu ferner Zukunft präsentiert. Darin ebenfalls zu sehen: Schwanzers Möbelentwürfe, wenig bekannte, doch hochelegante Geschäftslokale, öffentliche Bauten wie Kindergärten, Kirchen, Wohnanlagen und Pensionistenheime sowie Extravagantes wie die Botschaft in Brasília und schlichte, doch beeindruckende Industriebauten wie das Zementwerk in Mannersdorf.

Erst wenn Schwanzers Werk in seinem breiten Spektrum zur Gänze ausgeleuchtet daliegt, werden eine umfassende Analyse, eine wissenschaftliche Aufarbeitung und gründliche Würdigung möglich sein. Bis dahin bleibt er zumal in der Erinnerung seiner Schüler quicklebendig. Etwa als respektgebietender Professor, der im akkuraten Anzug samt Stecktuch in eine wilde, aufblasbare Skulptur von Coop Himmelb(l)au kriecht und sich dort drinnen von diversen Gerüchen umströmen lässt. Als eleganter Chauffeur seines weißen Lancia-Coupés, mit dem er sich mit quietschenden Reifen ungeniert auf dem eigentlich autofreien Hof der Hochschule einparkt. Als, wie es Architekt Laurids Ortner ausdrückt, „wilder Mann, der Polierpläne zum Frühstück frisst und abends fertige Häuser ausspuckt“. Und als einer, dem scheinbar nichts zu blöd war, wenn es um das Ausloten von Neuem ging.

Als Timo Huber und die Kollegen der Gruppe Zünd-Up das Entwurfsprogramm für eine Tiefgarage zum Anlass nahmen, bereits 1969 auf die Problematik des Autoverkehrs in Kombination mit der Faszination des Motors hinzuweisen, baten sie Schwanzer kurzerhand zu ihrem „Great Vienna Auto-Expander“ in die Tiefgarage am Hof. Dort erläuterten sie das Projekt, Schwanzer stellte sachliche Fragen, es entspann sich eine gute Diskussion, während rundherum 40 Harley-Davidsons mitsamt bärtigen Lenkern in Lederjacken Aufstellung nahmen. Unter dem „Röhren des Jahrhunderts“ nahm der Professor schließlich würdevoll auf einer der Maschinen Platz und drehte mit dem Fahrer eine Runde.

Karl Schwanzer nahm sich 1975 das Leben, doch seine Lehre und sein Werk werden auch künftig, nun möglicherweise wieder verstärkt, weiterwirken.

Publikationen

2015

Funkhaus Wien
Ein Juwel am Puls der Stadt

Argentinierstraße 30a: Diese Adresse ist nicht nur Radiohörern ein Begriff. Hier befindet sich das ORF Funkhaus, einer der kulturellen Brennpunkte des Landes. Heimat von Ö1, FM4 und des Landesstudios Wien, aber auch Spielstätte des Radio-Symphonieorchesters. Im Großen Sendesaal wurde Radiogeschichte
Autor: Ute Woltron, Peter Stuiber
Verlag: Müry Salzmann Verlag