Bauwerk

Mahnmal am Judenplatz
Rachel Whiteread - Wien (A) - 2000
Mahnmal am Judenplatz, Foto: Werner Kaligofsky
Mahnmal am Judenplatz, Foto: Werner Kaligofsky
Mahnmal am Judenplatz, Foto: Werner Kaligofsky
14. September 2003 - Az W
Der Judenplatz
Rachel Whitereads erste Begegnung mit Wien fand im November 1995 statt, als sie zu einer Informationsveranstaltung geladen war und bei dieser Gelegenheit den Judenplatz besichtigte. In seiner räumlichen Enge und Intimität schien der Platz einen idealen Hintergrund für Whitereads künstlerischem Zugang zu bieten. Im Gegensatz zu anderen Plätzen der Stadt die oft als touristische Anziehungspunkte das städtebaulich Grandiose und Heroische der Metropole zur Schau stellen, wirkt der Judenplatz, wiewohl zentral gelegen, versteckt und nahezu familiär. Für die Künstlerin, deren Werke ins Vertraute, Ruhige und Alltägliche, ins Private und Persönliche tendieren, waren diese Eigenschaften wichtig, Whitereads bildhauerisches Schaffen ist oft eine Erforschung des Inneren im doppelten Sinn. Ihren eigenen Kindheitserinnerungen nachspürend, schafft Whiteread Abgüsse von den Innenräumen der Dinge, etwa von Haushaltsobjekten wie einem Schrank, einem Stuhl, einem Bett oder einem Tisch. Sie materialisiert das Ungreifbare, die Lufträume unterhalb oder innerhalb all jener alltäglichen Gegenstände, die für unser Leben essentiell und selbstverständlich sind. „Es ist mein Anliegen, die menschliche Wahrnehmung der Welt umzudrehen und das Unerwartete aufzuzeigen“, so Whiteread. Dabei kreiert sie eine oft kubusähnliche Form, die sowohl ein negatives Spiegelbild als auch eine Abstraktion des dargestellten Objekts ist. Trotz ihrer bewusst eingesetzten minimalistischen Sprache schließt Whitereads Strenge gleichzeitig Gefühl und Sinnlichkeit ein. Ob aus Gips oder aus lichtdurchlässigem Kunstharz, ob in strengem Weiß oder in intensiv leuchtender Farbe, Whitereads Werke oszillieren zwischen einer beklemmenden, gespenstischen Ausstrahlung und einem verführerischen, flüchtigen Glanz.
Ihre Skulpturen spielen auf Grunderfahrungen des Menschen an, auf Essen, Schlafen, Tod... Sie ergründen unser Dasein in der Welt. Am unerbittlichsten jedoch ist ihre Auseinandersetzung mit dem Thema Tod. Der Abguss einer gewöhnlichen Badewanne gemahnt an die erhabene Form eines ägyptischen Sarkophags, der eines Tisches und Stuhles erinnert in seiner architektonischen Form an ein Mausoleum. Im Gegensatz dazu vermitteln Abgüsse von Seziertischen den Eindruck von abstrakten oder seltsam körperlich anmutenden Skulpturen. In der Tat ist der Gedanke des memento mori allgegenwärtig in ihrem Schaffen, nicht zuletzt vielleicht auch durch die vertraute Assoziation mit einer Totenmaske, die durch die Form des Abgusses unweigerlich hervorgerufen wird. In Whitereads gesamten künstlerischen Werk klingt die Erinnerung an nunmehr unwiederbringlich Verlorenes an. In gewisser Weise verkörpern ihre Skulpturen die Quintessenz dessen, was wir unter einem Mahnmal verstehen.

Für eine Künstlerin, die Begriffe der Innerlichkeit mit solcher Entschlossenheit und poetischer Schärfe entwickelt, war es für die konzeptionelle Entwicklung des Mahnmales eminent wichtig, den auf allen Seiten dicht bebauten Platz als eine Art inneren Raum zu empfinden, in den die Gassen wie Türöffnungen führen. Die streng geometrische Anordnung der den Platz umgebenden Häuserfassaden mit ihren Rustikageschossen und den horizontalen Gesimslinien wurde zum zentralen visuellen Orientierungspunkt für die Entwicklung der Rasterstruktur, die Whitereads Konzept bestimmen sollte.

Gleichzeitig war die Künstlerin von dem überwiegenden Wohncharakter des Platzes beeindruckt. Ganz anders als London ist es Wien gelungen, sich ein Zentrum zu bewahren, das nicht gänzlich von Geschäften und Büros vereinnahmt wurde, sondern den Bewohnern einen intakten Lebensraum bietet, Die reich verzierten Stuckfassaden finden sich auch im Inneren der Häuser wieder, deren hohe Räume eine Fülle von Ornamenten dieser Epoche aufweisen. Auch hier bezieht Whiteread ihre Inspiration vom gegebenen Kontext. Ihre „Bibliothek“ enthält charakteristische Stilmerkmale der Bürgerhäuser des 19. Jahrhunderts, wie die Deckenrosette, Gesimse und getäfelte Flügeltüren. Die typische Raumgröße einer Judenplatzwohnung, ebenso wie die Art und die Größe des Platzes selbst, haben die Konzeption von Whitereads Werk nicht nur stimuliert, sondern wurden auch zum Maßstab für seine menschliche Dimension.”

Die Bibliothek und das Buch
Whiteread war vertraut mit der Charakterisierung des jüdischen Volkes als dem „Volk des Buches“. Nach jüdischem Glauben verkörpert das Buch Werte wie Überlieferung und Beständigkeit angesichts der Vertreibung und Diaspora; es wird als symbolische Zufluchtsstätte für den Bestand jüdischer Tradition betrachtet, Nicht das Bild, sondern das Wort war das zentrale Medium für die Überlieferung der Geschichte jüdischen Leids, James E. Young meint dazu:"(...) Ferner bemerken wir, dass die ersten Holocaust-Mahnmale in Einklang mit der buchzentrierten, ikonoklastischen Seite jüdischer Tradition nicht aus Stein, Glas oder Stahl bestanden, sondern aus erzählten Worten. Die Yizkor-Bikher,„Gedenkbücher“, erinnerten an das Leben und die Zerstörung jüdischer Gemeinschaften in Europa und bedienten sich dabei des ältesten jüdischen Gedenkmediums: des Buches.”

In Whitereads Holocaust-Mahnmal ist das Buch ein starkes und beziehungsreiches Symbol, doch fest verankert in einer eigenen Bildersprache. Die Regale des Mahnmales sind mit scheinbar endlos vielen Ausgaben ein und desselben Buches bestückt, die für die große Zahl der Opfer und ihre Lebensgeschichten stehen - ein Buch, das nunmehr für immer geschlossen bleibt, Das Mahnmal stellt eine nach außen gekehrte und hermetisch abgeschlossene Bibliothek dar, der Inhalt der Bücher bleibt verborgen, ihr Rücken unsichtbar, Das „Lesen“ des Mahnmals wird zu einer klaustrophobischen Erfahrung, indem der Betrachter gleichsam zu einer verinnerlichten Wand wird, an der die Bücher scheinbar lehnen, Gleichzeitig sind die Bücher in Whitereads Bibliothek ein schweigender Hinweis auf die ausgegrabene Bima unter dem Platz, die Plattform, auf welcher das heilige Buch, die Thora, seinerzeit gelesen wurde.

Die Flügeltüren, die die Möglichkeit eines Kommens und Gehens andeuten, sind hermetisch verriegelt. Der leere Raum ist eine beredte Erinnerung an die über 65000 für immer verlorenen Menschenleben. Er ist das Kernstück des Werkes und steht, nach den Worten Robert Storrs für „... eine Kluft in der Identität der Nation, einen Hohlraum im Herzen einer Stadt“. James Young meint dazu „... Whiteread geht es weniger um die Bilder der Zerstörung des Holocaust, sondern vielmehr um die furchtbare Leere, welche diese Zerstörung hinterließ.“

Vertraut und doch fremd wirkt die Bibliothek, als würde sie von den umgebenden Häusern gleichsam „ausgeatmet“. Gestrandet an einem öffentlichen Platz, ist sie eine private Stätte der Besinnlichkeit und des Lernens; ihre emotionale Kraft ist, wie bei Whitereads anderen Werken, verhalten, würdevoll, und elegisch. Mit ihren schier endlos anmutenden Buchreihen, den gelebten Geschichten, dem Gesagten und Niedergeschriebenen und dem, was erst gesagt und niedergeschrieben werden muss, ist ihre Bibliothek ein Vorbote der ewigen Trauer, welche dieses Mahnmal verheißt. Whitereads Holocaust-Mahnmal ist eine logische Fortsetzung und gleichzeitig eine Erweiterung ihrer formalen Sprache. „Ghost“ (1990), ein früherer Abguss des Inneren eines britisch-viktorianischen Wohnzimmers, als Verkörperung und Aktualisierung der Leere, verschaffte Whiteread den Durchbruch zu internationalem Ansehen. Ihre erste öffentliche Skulptur, das heute legendäre „House“ aus dem Jahr 1993 (zerstört 1994), der Abguss des Innenraums eines kompletten Hauses im Londoner East End, war ein weiterer wichtiger formaler und konzeptueller Meilenstein für die Realisierung ihres Holocaust-Mahnmals. Die Künstlerin kommentierte den Bezug zwischen den zwei Werken folgendermaßen: “Der Unterschied zwischen „House“ und dem Judenplatz-Mahnmal liegt darin, dass es sich bei „House“ eine private Skulptur handelt, die ungewollt (aufgrund ihrer Größe und Sichtbarkeit) öffentlich wurde. Das Judenplatz-Mahnmal hatte von Anfang an einen starken geschichtlichen und politischen Bezug.”

„WaterTower“, ihre zweite öffentliche Skulptur, ist ein Auftragswerk für den New York Public Art Fund aus dem Jahre 1998. Sowohl „House“ und „Water Tower“ als auch ihr viertes Public-Art-Projekt, eingereicht als Wettbewerbsbeitrag für den leeren Sockel auf dem Trafalgar Square in London, welches im September 2000 installiert werden soll, waren als temporäre Projekte konzipiert.

Das Holocaust-Mahnmal hingegen stellt sich der Herausforderung und Bürde der Permanenz. Und im Gegensatz zu allen früheren Werken ist das Holocaust-Mahnmal kein Abguss eines „gefundenen“ Objektes, eines existierenden Raumes oder einer bestehenden Situation, sondern ausschließlich aus Elementen geschaffen, die der Phantasie und Gedankenwelt der Künstlerin entsprungen sind, Mit ihrer Bibliothek hat Whiteread eine Skulptur geschaffen, die ein Gegenstück zum heroisierenden Denkmal darstellt. Sie erinnert an und verkörpert den Verlust, gemahnt an „... die klaffende Wunde der westlichen Zivilisation, deren Narben nicht verheilt sind und niemals verheilen werden können.“
Rachel Whitereads Holocaust-Mahnmal spricht über das Unergründliche in einer verhaltenen und zugleich poetischen Sprache. Als minimalistische Darstellung eines hermetisch versiegelten Archivs der öffentlichen und privaten Erinnerung, voller Geheimnisse, die niemals preisgegeben werden, birgt dieses Werk durch seine vielschichtigen Assoziationen - von einfachem Grab zu imposantem Mausoleum oder leerem Kenotaph - die Kraft zu einer dauerhaften Heilung in sich. (zitiert aus Andrea Schlieker: „Ein Buch muss die Axt sein fuer das gefrorene Meer in uns“. Rachel Whitereads Holocaust Memorial, in: „Projekt: Judenplatz Wien“, Zsolnay Verlag Wien, 2000, Hsrg. Simon Wiesenthal, p. 39 - 70)

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Für den Beitrag verantwortlich: Architekturzentrum Wien

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