Details
- Adresse
- Bankside, London SE1 9TG, Großbritannien
- Architektur
- Herzog & de Meuron (Jacques Herzog, Pierre de Meuron)
- Bauherrschaft
- Tate
- Tragwerksplanung
- Arup & Partners, Ramboll UK
- Landschaftsarchitektur
- Vogt Landschaftsarchitekten (Günther Vogt)
- Fotografie
- Andy Stagg
- Weitere Konsulent:innen
- Möbel: Jasper Morrison, London
Kosten: Aecon, London
Licht: Arup Lighting, London
Fassade: Ramboll UK, London
Projektmanagement: Gardiner & Theobald, London
Haustechnik: Max Fordham Consulting, London; Arup, London (2005 - 2007)
Signaletik: Cartlidge Levene; Morag Myerscough, London
- Funktion
- Museen und Ausstellungsgebäude
- Wettbewerb
- 2005
- Ausführung
- 2010 - 2016
- Eröffnung
- 2016
- Umbauter Raum
- 116.090 m³
Publikationen
TEC21, Die Kunst, für Kunst zu bauen, Verlags-AG, Zürich 2016.
Bauwelt, Annex für die Moderne, Bauverlag BV GmbH, Berlin 2016.
Bildagentur
Presseschau
Enigma aus Backstein
Der Umbau der Tate Modern in London vom Kraftwerk zum Kunstmuseum machte Herzog & de Meuron im Jahr 2000 berühmt. Die im Mai 2016 eröffnete Erweiterung ist subtiler, aber nicht weniger virtuos.
Am nördlichen Themseufer unweit der Victoria Station eröffnete 1897 die Tate Gallery, die heute zu den ehrwürdigen Kunstinstitutionen der britischen Kapitale zählt. Ursprünglich aus der Kollektion des Zuckermagnaten Henry Tate hervorgegangen, beschränkte sich die nunmehr staatliche Sammlung zunächst auf englische Kunst. Doch der Fokus wurde mehr und mehr geweitet, das Sammlungsspektrum internationalisiert, und in den 1990er-Jahren platzte das Haus schier aus allen Nähten. Da eine umfassende Erweiterung auf dem angestammten Grundstück nicht möglich war, entschloss man sich, die Bankside Power Station, ein altes Ölkraftwerk des Architekten Giles Gilbert Scott, das sich etwas weiter flussabwärts gegenüber der St. Paul’s Cathedral befand, zur neuen Dependance umzubauen.
Verbunden mit dem Projekt waren grosse Erwartungen, auch in städtebaulicher Hinsicht: Die Tate Modern, so hiess es 1994 in einer Studie der Unternehmensberatung McKinsey, werde 2400 neue Arbeitsplätze schaffen und der Stadt jährliche Mehreinnahmen von bis zu 90 Millionen Pfund verschaffen, wovon ein Drittel dem südlich der Themse gelegenen Borough of Southwark zugute käme.
Win-Win-Win
Tatsächlich begann mit der Eröffnung der Tate Modern im Jahr 2000 eine Erfolgsgeschichte sondergleichen. Der Londoner Stadtteil Southwark, bislang von Brachen und heruntergekommenen Lagerarealen geprägt, geriet ins Blickfeld von Developern und hat nach gut 15 Jahren sein Gesicht völlig gewandelt. Das Basler Architekturbüro Herzog & de Meuron, das in der Endrunde des Wettbewerbs 1995 die Konkurrenten David Chipperfield, Rafael Moneo, Rem Koolhaas, Renzo Piano und Tadao Andö ausgestochen hatte, katapultierte sich an die Weltspitze der Architektur.
Und das Museum selbst – Dependance des altehrwürdigen, seither als «Tate Britain» firmierenden Stammhauses am Standort Milbank – avancierte zur Publikumsattraktion ersten Rangs. Nicht die prognostizierten zweieinhalb Millionen Besucher kamen im ersten Jahr, sondern mehr als die doppelte Anzahl; bei deutlich über fünf Millionen pro Jahr hat sich ihre Zahl inzwischen eingependelt. Weder die – nicht über alle Zweifel erhabene – Sammlung ist es, die das grosse Interesse auslöst, noch die von den Architekten in das Kesselhaus eingefügte Struktur orthogonaler Ausstellungssäle, sondern die grandiose Turbinenhalle.
Der ingeniöse Kunstgriff der Basler bestand darin, den gewaltigen Raum der 1948–1963 errichteten, 1981 stillgelegten und nur noch in ihrer südlichen Raumschicht als Umspannwerk genutzten Bankside Power Station freizuspielen. Einmal im Jahr wird er für eine künstlerische Grossinstallation genutzt, aber vor allem ist er zu einem Ort geworden, an den die Menschen strömen, selbst wenn sie die Ausstellungsräume gar nicht betreten. Der Besuch der Turbinenhalle gehört inzwischen zum touristischen Pflichtprogramm.
Verbindung und Abgrenzung
Angesichts des Erfolgs, der jede Erwartung übertroffen hatte, begannen schon 2005 und damit viel früher als prognostiziert Planungen für eine Erweiterung der Tate Modern Richtung Süden. Voraussetzung dafür war ein 2004 durchgeführter Austausch der Transformatoren: Durch die nunmehr kleineren Geräte ergab sich die Möglichkeit, Teile des Umspannwerks von der technischen Nutzung zu befreien, für die Tate Modern zu nutzen und nicht nur einen südlichen Eingang zu schaffen, sondern den Kulturgenerator Tate überdies besser mit dem zum Boomquartier avancierten Stadtteil Southwark zu vernetzen.
Ein neuerlicher Wettbewerb wurde veranstaltet, diesmal unter vier eingeladenen Teilnehmern: Richard Rogers, Herzog & de Meuron, Dominique Perrault und Wilkinson Eyre. Und wiederum fiel die Entscheidung zugunsten des Entwurfs der Architekten aus der Schweiz. Zunächst schlugen Herzog & de Meuron einen Turm aus scheinbar zufällig übereinander gestapelten gläsernen Kuben vor, der typologisch an zeitgleiche Projekte wie das Actelion Business Center in Allschwil oder das VitraHaus in Weil am Rhein erinnerte – und konzeptionell an das kurz zuvor eröffnete Museum of the 21st Century in Kanazwa von SANAA, bei dem jeder Galeriesaal ein eigenes Volumen bildet.
Doch die Finanzkrise setzte der Planung ein vorläufiges Ende, und als der Neustart erfolgte, wurde das architektonische Konzept grundsätzlich revidiert. Der Standort für den Anbau blieb der gleiche, nämlich der Bereich südlich der Turbinenhalle, wo sich einst die unterirdischen Öltanks zur Befeuerung des Kraftwerks befanden. Die Architekten hatten diesen Ort frühzeitig entdeckt und schon 1997 vorgeschlagen, ihn von der Turbinenhalle zugänglich zu machen und für Performances und Installationen zu nutzen. Die Idee musste seinerzeit mangels finanzieller Mittel zurückgestellt werden.
Erst 2012 war es so weit: Die drei stählernen Öltanks wurden demontiert, übrig blieb die grandiose, piranesiartig anmutende unterirdische Betonstruktur mit kleeblattförmigem Grundriss. Als Raum für Performancekunst dem Museum zugeschlagen, fungiert sie nun als Substruktion für die «Switch House» genannte Erweiterung (vgl. «Aus dem Bestand heraus»).
Subtil, aber gekonnt
Der zehngeschossige Anbau mit seiner Höhe von 65 m hat die Form einer geknickten Pyramide. Die Betonskelettkonstruktion ist aussen mit einem Filtermauerwerk aus Backstein verkleidet. 336 000 Ziegel wurden händisch verbaut und bilden die äussere Schale, die, wo gewünscht, von Fensterbändern durchbrochen ist. Setzten die Architekten bei ihrem Entwurf von 2005 mit den gläsernen Räumen noch auf Konfrontation gegenüber dem Bestand, so suchten sie nun mit dem Backstein eher das Verbindende.
Das hat auch damit zu tun, dass die Investorenarchitektur, die nicht nur die Londoner City umpflügt, sondern auch in Gestalt von Luxusapartmentkomplexen der Tate und ihrem Anbau inzwischen fast obszön nah kommt, stets Glasfassaden aufweist. Backstein steht in London für Infrastrukturbauten, für die Bahnviadukte des 19. Jahrhunderts ebenso wie für die Kraftwerke, aber auch für den traditionellen Wohnungsbau. Mit der Hülle aus Backstein ist die Erweiterung der Tate Modern selbstverständlicher geworden, weniger aufgeregt.
Wie richtig die Entscheidung der Architekten war, erlebt man spätestens, wenn man um das Switch House herumgeht: Die geknickte Pyramide verbindet sich dank der Backsteinfassade mit dem Altbau, wahrt Distanz zur in die Höhe geschossenen Nachbarbebauung, die parasitär vom Kunstort profitieren will, und besitzt aufgrund ihrer Geometrie, die sich nicht auf den ersten Blick erschliesst, eine enigmatische Kraft. Eigentlich ist das Switch House ein gewaltiges Monument, doch es inszeniert sich nicht als selbstverliebtes Spektakel und tritt, vom gegenüberliegenden Ufer aus gesehen, hinter der Vertikale des Hochkamins und der Horizontale des Kraftwerks fast bescheiden in die zweite Reihe zurück.
Die Form ist dabei kein Zufallsprodukt und auch nicht expressiv um des expressiven Gestus willen. Vielmehr erklärt sie sich als Resultat von äusseren Bedingungen, die auf den Entwurfsprozess einwirkten: Bestimmte Sichtachsen auf die St. Paul’s Cathedral müssen frei gehalten werden, der Schattenwurf auf die Nachbarbebauung war zu minimieren, und der Standort war durch die Substruktion in Form der betonierten Tanks im Untergrund gegeben. Dabei operierten Herzog & de Meuron beim Switch House viel freier als beim Umbau des Kesselhauses im Jahr 2000, bei dem sie mit einer streng orthogonalen Logik der Ausstellungssäle, Erschliessungen und des verglasten Aufbaus der vorhandenen Geometrie folgten.
Auch im Anbau besitzen die auf den Ebenen 2, 3 und 4 konzentrierten und parallel zur Turbinenhalle organisierten Ausstellungssäle einen rechteckigen Zuschnitt. Der grösste befindet sich in Ebene 2, ein Ausstellungsraum von gewaltigen Dimensionen mit abgehängten Neonröhren unter der Decke. Die übrigen Säle sind kleiner und unterschiedlich sowohl hinsichtlich der Proportionen als auch bezüglich der Gestaltung: Manche sind mit Lichtdecken ausgestattet, andere durch Betonunterzüge gegliedert, wobei Spots für die Beleuchtung sorgen. Vereinzelte Fenster gewähren Durchblicke zur Turbinenhalle oder Ausblicke in die unmittelbare Nachbarschaft.
Meisterhafte Zwischenräume
Das eigentliche Erlebnis aber sind die ausgedehnten, alle Ebenen verbindenden Erschliessungsbereiche, eine grandiose Abfolge aus Wendeltreppen, Aufenthaltsbereichen und Besucherwegen. In Umfragen hat sich ergeben, dass viele Menschen die Tate Modern nicht vorrangig der Kunst wegen besuchen, sondern weil sie hier andere Menschen treffen. Das erklärt schon den Erfolg der Turbinenhalle, und die Architekten haben bei der jetzigen Erweiterung alle Register gezogen, um die Aufenthaltsqualität der öffentlichen Bereiche zu diversifizieren. Dank einer geschickten Dramaturgie öffnen sich hier Räume von hallenartigen Dimensionen, während dort intime Zonen zum ruhigen Rückzugsort werden; für die Möblierung wurde, wie schon im Jahr 2000, Jasper Morrison beigezogen.
Das Betonskelett wird sichtbar, das Filtermauerwerk und die Fensteröffnungen erlauben Ausblicke, und Aussparungen in den Decken entlang der Fassaden verbinden die Geschosse optisch miteinander. So entsteht ein Parcours, der die Besucher gleichsam sogartig nach oben zieht – bis zur Ebene 10, die mit einem äusseren Umgang den panoramatischen 360-Grad-Blick über die Stadt bietet und wie ein Belvedere funktioniert. Gemessen am Gesamtvolumen beanspruchen die eigentlichen Ausstellungszonen nur den kleineren Teil der Erweiterung; die Ebenen 5 und 6 dienen pädagogischen Programmen, die Verwaltung nutzt Ebene 7 sowie die zur Südfassade hin orientierten Zonen auf anderen Geschossen.
Eine Bar und ein Museumsshop teilen sich die Ebene 1 mit dem neuen, zum Quartier Southwark hin orientierten Südeingang, der nun auch die lang ersehnte Nord-Süd-Querung des Museums gewährleistet. Eine zweite Verbindung von Kesselhaus und Switch House bildet eine auf Ebene 4 über die Turbinenhalle gespannte Brücke. Damit wäre ein Rundgang möglich, wenn nicht die Tate Modern bereits bei ihrer Eröffnung im Jahr 2000 eine Grösse aufgewiesen hätte, die bei einem Besuch sämtlicher Ausstellungsräume die Wahrnehmungsfähigkeit heillos überfordert.
Inzwischen sind die Tanks hinzugekommen, und die jetzige Extension vergrössert die Fläche für die Besucher noch einmal um 60 %. Kesselhaus und Switch House, die die Turbinenhalle nunmehr nördlich und südlich flankieren, bilden eigentlich zwei selbstständige Einheiten mit jeweils mehr Kunst, als ein durchschnittlicher Besucher zu rezipieren vermag.
Werk mit Wirkung
Frances Morris, die neue Direktorin der Tate Modern, erarbeitete anlässlich der Eröffnung der Erweiterung eine neue Hängung für alle Bereiche des Hauses. Diese gliedert sich in acht Kapitel, die – wie bei der Einweihung im Jahr 2000 – thematisch angelegt sind und mit einer klassischen chronologischen Präsentation brechen. Neu sind die starke Berücksichtigung der Werke von Künstlerinnen und die Erweiterung des Blicks durch den Einbezug von Werken aus dem nicht westlichen Kontext. So ist die Tate Modern ein globalisiertes Museum: Sie zeigt 800 Werke von 300 Künstlerinnen und Künstlern aus 50 Ländern. Diese Bandbreite war nur durch eine intensive Erwerbungspolitik der letzten Jahre möglich. Seit 2000 ist die Sammlung um 50 % gewachsen. Weil der staatlichen Tate praktisch kein fixer Ankaufsetat zur Verfügung steht, sind Privatpersonen, Firmen und Stiftungen in die Bresche gesprungen.
Als erfolgreicher Marke gelingt der Tate, was kleinere Institutionen immer weniger vermögen: privates Geld und privates Engagement an sich zu binden. So wurden auch von den 260 Millionen Pfund, die der Neubau gekostet hat, nur 60 Millionen durch die öffentliche Hand – den Staat, die Greater London Authority und das Southwark Council – bereitgestellt. 200 Millionen konnten durch Fundraising und Sponsoring erwirtschaftet werden. Stolz versteht sich die Tate Modern als weltweit attraktivstes Museum für moderne Kunst, das hinsichtlich seiner Beliebtheit das MoMA in New York hinter sich gelassen hat.
Ohne Zweifel hat die Institution seit ihrer Eröffnung London verändert. Ihr Einfluss ist nicht nur städtebaulich zu spüren; die Tate Modern hat überdies erheblich dazu beigetragen, dass sich die Kapitale an der Themse als eine Metropole zeitgenössischer Kunst etablieren konnte.
Aus dem Bestand heraus
Die Erweiterung der Tate Modern steht auf dem bestehenden Betonsockel der drei Öltanks, die 2012 rückgebaut wurden. Der kleeblattförmige Grundriss der rund 30 m weit spannenden und 9 m tief in den Untergrund reichenden Tanks ist an den Brüstungen der vorgelagerten Terrasse noch ablesbar. Regelrecht erlebbar ist die alte Tragkonstruktion des Tanksockels, ein Betontragwerk aus massiven Stützen, Unterzügen und Betonscheiben, das die Räumlichkeiten im Untergeschoss prägt.
Die Tragelemente sind heute gekennzeichnet von Kernbohrungen und Frässchnitten, die das Tragwerk auf das tragwerkspezifisch Notwendigste reduzieren und Durchgänge von und zur Turbinenhalle schaffen. Die Planenden beliessen die erhaltene Tragkonstruktion roh, sie zeigen die Eingriffe, die angeschnittenen Bewehrungseisen und das getrocknete Spritzwasser vom Fräsen. Aus diesem – bildhaft und im wahrsten Sinn des Wortes – kraftvollen Raum erstreckt sich die Tragstruktur der Erweiterung; sinngemäss als Skelettbau. Die neuen Betontragelemente verflechten sich hier optisch und statisch mit der bestehenden Tragkonstruktion.
Dabei leitet sich die Lage der neuen Tragelemente von den örtlichen Bedingungen des Bauplatzes bzw. von den Rahmenbedingungen der bestehenden Bausubstanz im Sockel ab. Betonbalken innerhalb des Gebäudegrundrisses und am Perimeter fangen die Lasten im EG ab und bilden die Basis für die emporragende komplexe Gebäudeform. Die abfallenden Fassadenflächen bilden in jedem Geschoss neue Grundrisse ohne rechte Winkel – vom Tragwerk geprägte, grosszügige Räumlichkeiten entstehen. Allerdings generiert die Form auch viele Tragelemente in unterschiedlichen Abmessungen; vorfabriziert erreichen sie eine hohe Präzision.
Die primäre Tragkonstruktion, die diese Grundrisswechsel statisch ermöglicht, besteht aus Stahlbeton. Sekundär, wie beispielsweise im Dachbereich, kommen auch Stahlkonstruktionen zum Einsatz. Zudem sind Fassadenstützen dort als Stahlverbundstützen ausgeführt, wo die Tragsicherheit oder die Stabilität bzw. die Schlankheit es erfordert. Sie sind mit Konsolen versehen, die wie Arme die unterschiedlichen Ausfachungen tragen und die Kräfte in die Hauptstützen leiten. Neben den markanten Fassadenstützen tragen im Innern des Grundrisses maximal sechs zusätzliche Stützen vertikale Lasten ab. Die grosszügigen Spannweiten stehen für die grossflächigen und flexibel nutzbaren Räume.
Der Witterungsschutz aus perforiertem Mauerwerk prägt das Erscheinungsbild des Switch House. Es ist wahrlich eine ingeniöse Leistung, die die Ingenieure von Ramboll hier konstruktiv erbracht haben. Total 336»000 Steine in 212 unterschiedlichen Formen wurden zwischen August 2014 und Februar 2016 bei jeder Witterung montiert. Dabei liessen die Ingenieure die Mauerwerksfläche ohne Dilatationsfugen erstellen. Die Mauerwerkssteine funktionieren zusammen als seriell «geschaltete» Bögen, die der Konstruktion horizontale und vertikale Bewegungen erlaubt. Die gesamte Fläche ist über 11 500 Konsolen in 400 verschiedenen Ausführungstypen an die Gebäudefassade rückverankert.
Ähnlich anders
Mit den Anbauten der beiden Vorzeigemuseen in London und Colmar demonstrieren Herzog & de Meuron ihre entwerferische Spannweite.
Colmar mit seinen knapp 70 000 und London mit seinen mehr als acht Millionen Einwohnern lassen sich schwerlich vergleichen. Und auch das Museum Unterlinden, dessen eigentliche Attraktion der Isenheimer Altar ist, und die Tate Modern sind im Grunde inkommensurabel – abgesehen davon, dass beide Ausstellungshäuser unlängst durch Herzog & de Meuron erweitert wurden (vgl. «Enigma aus Backstein» und «Mit Mut und Witz»).
Angesichts mancher Museumsvergrösserung der vergangenen Jahre mag sich Skepsis einstellen: Räumlicher Zuwachs bedeutet auch mehr Betriebskosten. In Zeiten stagnierender Kulturbudgets führt das zu Problemen, weil sich Mäzene oder Sponsoren zwar für prestigeträchtige Bauprojekte, nur selten indes für die Finanzierung von Wach- oder Reinigungspersonal gewinnen lassen. Auch in Colmar und London wurde das Gros der Baukosten für die Erweiterungen nicht von der öffentlichen Hand getragen. Allerdings steht in beiden Fällen die Notwendigkeit des Eingriffs ausser Frage.
Das hat nur vordergründig mit der Argumentation zu tun, die immer zwecks Legitimierung von solchen Projekten vorgebracht wird: dass das jeweilige Museum angesichts der stetig wachsenden Sammlung aus allen Nähten platzt. Eine geschickte Ausstellungsstrategie könnte die Argumente entkräften; in den meisten Museen ist ein Grossteil der Sammlung magaziniert. Auch steigender Raumbedarf für paramuseale Zwecke fungierten als Auslöser für die Bauprojekte. Was die beiden Interventionen aber so überzeugend macht, ist deren städtebauliche und letztlich auch gesellschaftliche Dimension.
Museen sind nicht mehr allein Orte der Selbstvergewisserung bildungsbürgerlicher Milieus, sondern urbane Generatoren ersten Rangs. Trotz einer nicht über jeden Zweifel erhabenen Sammlung hat sich die Tate Modern als das international besucherstärkste Museum für Moderne Kunst etabliert. Sie ist so erfolgreich, dass Herzog & de Meuron entgegen ersten Entwürfen nun mehr Distanz zur radikal kommerzialisierten Umgebung wahren und auf ein introvertiertes Konzept setzen, das mit dem Raum der Turbine Hall schon angelegt war.
Letztere war der Geniestreich des ersten Tate-Konzepts von 2000: Sie ist einerseits ästhetischer Separatraum, andererseits öffentlicher Ort – in Londons Innenstadt ansonsten Mangelware. Am Rand der Altstadt von Colmar stellte sich die Situation anders dar: Hier ist mit der Erweiterung des Museums Unterlinden Stadtreparatur geleistet worden. Ein Hallenbad der Belle Epoque konnte einer neuen Nutzung zugeführt werden, wichtiger noch aber ist die Wiedergewinnung des öffentlichen Raums.
Die Place Unterlinden ist zum Angelpunkt des Gesamtkonzepts geworden: Die Architekten befreiten sie vom Verkehr und legten den Canal de la Sinn frei. Und dann steht auf dem Platz noch ein merkwürdig verformtes Gebäude mit Wänden aus aufgeschlagenen Lochziegeln und einem Kupferdach. Ein wenig mutet es an wie Rotwangs Haus aus Metropolis, und sein surrealer Charakter wird dadurch noch verstärkt, dass man es nicht betreten kann. Das kleine Bauwerk, eine Variation der im Œuvre von Herzog & de Meuron ostinaten Urhüttenthematik, gliedert und rhythmisiert den Platz.
Und es ermöglicht mittels seiner Fenster den Blick in die Tiefe, kann damit also auch als skulpturaler Hinweis auf die unterirdische Galerie verstanden werden. Denn eine zentrale Idee der Basler Architekten bestand darin, dass der Komplex aus Kloster und Kirche auf der anderen Seite des Platzes ein spiegelbildliches Pendant findet, als zeitgenössische Interpretation des einst hier bestehenden, dem Kloster zugeordneten Gutshof. Das neue Ensemble setzt sich zusammen aus dem winkelförmigen Komplex des angrenzenden Schwimmbads sowie einem «Ackerhof» genannten Neubau. Mit seinem hohen Satteldach und den Spitzbogenfenstern spielt das Gebäude mit historischen Referenzen in einem Masse, wie es bei Herzog & de Meuron vielleicht überraschen mag.
In London wie in Colmar trennen die Architekten Ausstellungssäle und übrige Publikumszonen. Die Kunst behält ihre eigenen Bereiche. Herzog & de Meuron sind seit jeher – und das zu Recht – nicht die Verfechter eines Kulturzentrums, in dem alles zu gleicher Zeit und im gleichen Raum stattfindet. Backstein ist das Baumaterial, das beide Projekte verbindet. In London vermittelt er zum Infrastrukturbau des vormaligen Kraftwerks, in Colmar entstanden mural geprägte Bauten, die sich volumetrisch in die Kubatur der historisch geprägten Altstadt einfügen, durch den seriellen Charakter des Backsteins jedoch einen abstrakten Ausdruck besitzen.
Kunstturbine im Ziegelkleid
New Tate Modern
Am Freitag wird in London die New Tate Modern eröffnet. Das weltweit bestbesuchte Museum für moderne Kunst erweitert sich mit einem zehngeschoßigen Neubau der Schweizer Architekten Herzog und de Meuron zur Kulturmaschine
Es war Liebe auf den ersten Blick: Die kathedralenartige Turbinenhalle der ehemaligen Bankside Power Station wurde von den Besuchern sofort in Besitz genommen, als die Tate Modern im Jahr 2000 im Industriedenkmal an der Themse eröffnete. Seitdem hat das Museum eine ungeahnte Erfolgsgeschichte hingelegt.
„Wir haben bei der Eröffnung zwei Millionen Besucher pro Jahr erwartet. Inzwischen sind es fünf Millionen“, berichtet Tate-Direktor Nick Serota stolz. Somit zählt man fast doppelt so viele Besucher wie das Museum of Modern Art in New York, nicht zuletzt aufgrund des freien Eintritts und des umfangreichen Schulprogramms.
Schon vier Jahre nach der Eröffnung war klar: Die ursprünglich erst für 2025 geplante Erweiterung musste vorgezogen werden. Die Schweizer Architekten Herzog und de Meuron, denen mit der Tate Modern der Durchbruch in die Pritzkerpreis-Liga gelungen war, kamen auch dieses Mal zum Zuge. Der bereits für die Olympischen Spiele 2012 geplante Eröffnungstermin musste allerdings aufgrund der Finanzkrise verschoben worden. Lediglich die alten unterirdischen Öltanks waren schon einmal kurzzeitig Ort für Ausstellungen. Dank der größten Spendenaktion für ein Kulturprojekt, die es in Großbritannien je gegeben hatte, konnte schließlich der Neubau in Angriff genommen werden. Von den 327 Millionen Euro Gesamtkosten stammen rund 250 Millionen aus privater Hand.
Der Anbau schmiegt sich nun im Süden an das alte Kraftwerk und dockt im Inneren an die Turbinenhalle an. Sah der ursprüngliche Entwurf noch wild aufgetürmte Glasboxen vor, nahmen die Architekten vor Baubeginn eine Kehrtwende vor: Der zehngeschoßige pyramidenartige Turm ist bis auf schmale Fensterbänder komplett mit Ziegelsteinen verkleidet und steht dem Altbau an Wuchtigkeit in nichts nach. „Unser Ziel war es, ein Gebäudeensemble zu schaffen, das wie ein Einzelstück wirkt, nicht als Addition zweier unterschiedlicher Teile“, so Architekt Jacques Herzog.
Heute, Freitag, wird der Neubau eröffnet, und die Tate Modern wird zur New Tate Modern. Das bedeutet nicht nur mehr Quadratmeter, sondern soll auch den aktuellen Stand der Kunstproduktion widerspiegeln: Videoinstallationen, Fotografie und Neuen Medien wird noch mehr Platz eingeräumt, die figurative Malerei wird endgültig Nebensache.
„Die Welt hat sich seit dem Jahr 2000 verändert, und die Kunst ebenso“, so Frances Morris, seit Jänner Direktorin der Tate Modern. „Anfangs haben wir uns auf europäische und nordamerikanische Kunst konzentriert. Heute sehen wir Werke von 300 Künstlern aus über 50 Ländern, von Afrika über Osteuropa bis Asien.“
Mehr Kunst von Frauen
Auch die Künstlerinnen spielen eine stärkere Rolle. War ihr Anteil anfangs noch 17 Prozent, so stammt heute die Hälfte aller ausgestellten Werke von Frauen. Darunter sind etablierte Namen wie Marina Abramović oder Louise Bourgeois, und weniger bekannte wie die 1940 geborene rumänische Künstlerin Ana Lupaş.
Der bewusst unelitäre Zugang zur Kunst, den man bisher verfolgt hat, setzt man auch mit der Erweiterung fort, wie die Direktorin betont: „Wir wollen, dass die Kunst für jeden relevant ist.“ So ist es nur konsequent, dass ausgerechnet die Londoner Schulkinder einen Tag vor der offiziellen Eröffnung als Erste die neuen Räume exklusiv in Besitz nehmen durften. Urbanistischer Bonus: Das Museum öffnet sich mit einem großen Vorplatz auch den Wohnvierteln der South Bank, denen es bisher noch den Rücken zugewandt hatte.
Auch Londons frisch gewählter Bürgermeister Sadiq Khan unterstrich zur Eröffnung eindringlich die Wichtigkeit öffentlicher Kulturstätten für die Identität seiner Stadt. „Ich erinnere mich noch, wie die Menschen 2003 in der Turbinenhalle auf dem Boden saßen und sich voller Faszination Olafur Eliassons Installation Weather Project anschauten“, schwärmte er und fügte unter Applaus hinzu: „Kultur ist kein Nice-to-have. Sie wird ab jetzt eine Herzensangelegenheit meiner Stadtverwaltung sein.“
Was Kultur heute bedeutet, lässt sich an der New Tate Modern jetzt schon ablesen: Mit exklusiven Member Rooms, inklusiven Workshops, mehreren Cafés und gleich fünf Shops ist das Museum kein heiliger Kunsttempel mehr, sondern ein Abbild des Wirtschaftsfaktors Kulturindustrie auf voller Turbinenleistung.