Artikel

In der Lehre
Neue Zürcher Zeitung
22. März 2008 - Peter Zumthor
Der Handarbeitsunterricht in der Schule war eigentlich kein Unterricht. Man konnte in der Stunde machen, was man wollte, und die Note, die man dafür im Zeugnis erhielt, zählte nicht. Während meine Mitschüler diese kaum brauchbaren, seltsam gerundeten und geschweiften Minimöbel schreinerten, gelang mir ein schöner Fisch aus massivem Nussbaumholz. Er lag gut in der Hand und hatte einen fein geschwungenen, glatt polierten Leib. Ein Fisch in Bewegung. Mit der elegant gegabelten Schwanzflosse war ich zufrieden. Probleme hatte ich mit dem Kopf, dem Maul, den Augen. Ich hätte den Rat gebraucht, auf Mund und Augen zu verzichten, es allenfalls mit Andeutungen bewenden zu lassen, um den Fluss der Linien nicht zu stören. Aber da war kein Lehrer für solche Dinge weit und breit.

Vom Montag bis Samstag

Mein Vater, dem der Fisch auf Anhieb gut gefiel, wollte mir helfen. Er spannte ihn in seine Hobelbank ein, legte sich verschiedene kleine Feilen und Raspeln zurecht, die er sorgfältig aus einem Tuch wickelte, und begann, walfischbartartige Verzierungen in den halbgeöffneten Fischmund einzufeilen. Alles in mir zog sich zusammen, als ich daneben stand und ihm zuschaute.

Bald danach war ich bei meinem Vater in der Schreinerlehre. Dass ich als ältester Sohn Schreiner werden sollte und er mich in seinem Betrieb ausbilden würde, lag auf der Hand. Die Freude, nun zur Arbeitswelt der Erwachsenen zu gehören, war bald vorbei. Die Arbeit als Lehrling war über weite Strecken eintönig, die Arbeitszeiten vom Montagmorgen um sieben in der Früh bis weit in den Samstagnachmittag hinein waren lang, Ferien gab es drei Wochen im Jahr, Lob selten. Und die Möbel und Einrichtungen, die wir, meist von meinem Vater gezeichnet, für private Kunden in den neuen Einfamilienhäusern und Villen in der Umgebung von Basel anfertigten, fand ich schrecklich.

Bei der Arbeit und auf Kundschaft trug ich das traditionelle Schreinergewand mit den feinen hellen und blauen Längsstreifen. Manchmal, wenn ich mich in diesem Überkleid in der Öffentlichkeit zeigen musste, habe ich mich geschämt. Ich war nicht stolz, Schreinerlehrling zu sein, und beneidete meinen Freund, der mit seinen Lehrern am Gymnasium über Literatur und Kunst sprechen konnte. In der Schreinerei arbeitete ich mit der Zeit immer schlechter, machte Fehler, die ins Geld gingen, schnitt immer wieder Werkstücke zu kurz ab, 69 Zentimeter lang anstatt 96, bohrte Tablarösen in Bücherwänden nicht spiegelbildlich ein, so dass wir die Hälfte der Werkstücke nochmals neu herstellen mussten. Mein Vater, mein Lehrmeister, packte mich immer härter an und bestrafte mich mehrere Male grausam. Meine Fehlerquote stieg. Ich igelte mich ein.

Früher, als Knabe, als mein Vater neben seiner damaligen Arbeit als Vorarbeiter in Basel zu Hause arbeitete, um etwas dazuzuverdienen, durfte ich, ohne zu fragen, seine Hobelbank, alle seine Werkzeuge, seine Hölzer und Materialien gebrauchen und damit Dinge herstellen. Er hatte im Keller des Einfamilienhauses, von dem er vieles eigenhändig gebaut hatte, eine kleine Werkstatt eingerichtet. Nie schimpfte er mit mir, ich hätte ihm gutes Material verbraucht oder ein Werkzeug verdorben. Erst viel später wurde mir bewusst, dass er, der auf gute Werkzeuge Wert legte und jedes kleine Stück Holz aufbewahrte, um es später vielleicht noch zu verwenden, mir hier viel Raum gab und die Möglichkeit, Dinge herzustellen, die mir fehlten: Schiffe, Flugzeuge, ein Monopolyspiel, einen Tischfussballkasten.

Ich habe ihm damals auch gerne beim Arbeiten zugeschaut, und ich glaube, er hatte mich als kleinen Buben auch gerne dabei. Ich fühlte mich gut in seiner Nähe, wenn er arbeitete. Wenn ich mir die Bilder von damals vergegenwärtige, sehe ich seine ruhigen, überlegten Bewegungen vor mir. Die Arbeit ging ihm leicht von der Hand, seine Konzentration auf das, was er tat, wirkte natürlich, und in seinen scheinbar mühelosen Bewegungen war ein grosser, kraftvoller Schwung, der aus dem ganzen Körper kam.

Einmal beobachtete ich, wie er innehielt und ruhig dastand. Seine hellen blauen Augen blickten über die Hobelbank hinweg zum Kellerfenster hinaus in die Ferne. Da war nichts zu sehen. Aber er strahlte, und auf seinem Gesicht lag der Ausdruck einer stolzen Zuversicht und Freude.

Dieses Leuchten in seinen Augen sah ich später wieder, wenn private Kunden oder Architekten ihm ein fachliches Problem vortrugen, ihn nach Ideen und Lösungsmöglichkeiten fragten und er begann, nach Antworten zu suchen. Nie habe ich ihn sagen hören, etwas sei unlösbar. Er liebte schwierige Aufgaben. Stiess er auf eine fachliche Herausforderung, begann er sofort zu überlegen, zu skizzieren, suchte und fand eine Lösung, am liebsten an der Grenze des Machbaren, die er einem anschaulich aufzeichnete und erklärte und später in der Werkstatt gekonnt und perfekt umsetzte.

Die unbeschwerte Leichtigkeit des Arbeitens, die ich als Bub an ihm erlebt hatte, sah ich als Lehrling in seinem Handwerksbetrieb, der ihm viel abverlangte, nur selten. Einmal waren wir Lehrlinge und Gesellen an den sechs Hobelbänken damit beschäftigt, etwas auf einen bestimmten Zeitpunkt hin fertigzustellen. Wir arbeiteten wie wild, wir schwitzten. Der älteste Geselle, ein tüchtiger junger Schreiner namens Erb, war der Schnellste von uns. Als der Termin näher rückte, ging auch mein Vater an seine Bank, von der aus er uns alle überblickte, und half mit. Er war sofort schneller als wir, bewegte sich ohne Hast und Schweiss. Da waren sie wieder, diese präzisen Gesten der Arbeit. Auf seinem Gesicht lag ein kaum merkliches Lächeln.

Mit Ach und Krach

Am Ende der vierjährigen Lehrzeit bestand ich den praktischen Teil der Lehrabschlussprüfung mit Ach und Krach. Meinen Vater, den Lehrmeister und Fachschullehrer, hat dies schwer getroffen. Er war sehr wütend auf mich und strafte mich mit einer lange anhaltenden Verachtung. Aber ich war mit dem Kopf schon lange anderswo, blickte hoffnungsvoll Richtung Kunstgewerbeschule, trug einen grünen Manchesteranzug und einen US-Army-Mantel. Einige Jahre später, zu zweit unterwegs im Auto von New York nach Montreal – er hatte mir nach meinem Abschluss an der Kunstgewerbeschule aus freien Stücken etwas Geld gegeben, damit ich in New York Interior Design und Industrial Design studieren konnte –, sagte er mir: «Weisst du, damals, als du die Lehre bei mir anfingst, nach dem ersten halben Jahr, da habe ich mir gedacht, das gibt den besten Schreiner, den ich je ausgebildet habe, so gut hast du alles angepackt.»

Die Werkstatt meines Vaters besuchte ich später nur noch als Gast. Mit meiner Frau aus Amerika, die er gut mochte, schaute ich bei ihm vorbei, und wir verabschiedeten uns draussen vor der Tür, bevor wir in unseren weissen Mini Cooper stiegen. Wie damals oft wirkte er bedrückt, als wir uns zum Abschied die Hände reichten, und ich fühlte für einen Moment einen kleinen Verrat, als ich mitten im Tag einfach davonfuhr. Was ihn bedrückte, habe ich nie genau erfahren. Ich habe ihn nicht danach gefragt. Er starb in den Bergen, wie er sich das immer gewünscht hatte. Früh. So alt, wie ich heute bin, wurde er nie.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Tools: