Veranstaltung

9. Architektur-Biennale Venedig 2004
Ausstellung
12. September 2004 bis 7. November 2004
Giardini della Biennale, Arsenale
I-30122 Venedig


Veranstalter:in: Biennale di Venezia

Kokons und Kristalle

Venedig im Zeichen der skulpturalen Architektur

20. September 2004 - Roman Hollenstein
Dutzende von meist noch ungebauten Projekten mit biomorphen oder kristallinen Hüllen bestimmen das Erscheinungsbild der diesjährigen, von Kurt W. Forster ausgerichteten Architekturbiennale von Venedig (NZZ 11. 9. 04). Viele dieser Entwürfe, «die das Gebäude nicht mehr als ein statisches Objekt, sondern als eine metabolische, mit der Umwelt interagierende Einheit verstehen», erscheinen als etwas seltsam Verwandeltes, das kaum mehr traditionellen Häusern gleicht und dessen Vorbilder im Skulpturalen zu suchen sind. Diese skulpturalen Formen kreisen meist um Positionen, die seit dem frühen 20. Jahrhundert im Bereich der abstrakten Kunst - vom Kubismus bis zum organischen Surrealismus - entwickelt wurden und aus heutiger Sicht doch eher überholt erscheinen. Es ist denn auch vor allem der Massstab, der diese gigantischen Gebilde interessant macht. Doch was in Modell und Rendering spektakulär aussieht, vermag in der gebauten Realität (trotz Beizug neuster Computertechnik und innovativer Baumaterialien) meist nicht wirklich zu überzeugen. Denn anders als etwa die suggestive, 1956-62 von Eero Saarinen geschaffene Betonskulptur des TWA-Terminals in New York, erinnern Peter Eisenmans brüchig- spröde Bauten stets an Bühnenbilder. Ähnliches gilt für die riesigen, mit Titanblech umhüllten Stahlgerüste von Frank Gehrys Kulturmaschinen in Bilbao und Los Angeles. Einen Mittelweg zwischen plastischer Beton- und additiver Stahlkonstruktion strebt nun Zaha Hadid beim Wissenschaftszentrum in Wolfsburg an, das vielleicht dereinst ähnlich überzeugen wird wie der skulpturale, sich logisch aus dem Skelett heraus entwickelnde Bau des Prada Store in Tokio von Herzog & de Meuron.

Architektur und Kunst

Dieser Hang zur plastisch-skulpturalen Architektur ist an sich nichts Neues. Schon Renaissance, Manierismus und Barock kannten mit Michelangelo, Raffael, Giulio Romano und Bernini den Künstlerarchitekten; und Borromini versuchte die Architektur aus Vitruvs technisch- ästhetischem Korsett von Firmitas, Utilitas und Venustas zu befreien und sie zur expressiven Raumkunst hin zu öffnen. Doch erst das 20. Jahrhundert zelebrierte in Werken von Gaudí, Mendelsohn, Le Corbusier oder Wright den abstrakten Solitär - und dies, obwohl die moderne Architektur mit ihrem Funktionalismus der Kunst im Grunde eine klare Absage erteilt und ihr Heil im Rationalismus der Ingenieure gesucht hatte. Diesem von Vernunft geprägten Bauen sollten sich ausgerechnet Ingenieure wie Pier Luigi Nervi, Félix Candela oder Eduardo Torroja mit monumentalen Betonkonstruktionen entgegenstellen.

Wenig später wagte Minoru Yamasaki mit den stelenartigen Zwillingstürmen des World Trade Center in New York einen Dialog mit der Kunst von Minimalismus und Konzeptualismus. Ideen der Land-Art schlugen sich hingegen im Werk der 1969 von James Wines gegründeten Architektengemeinschaft SITE nieder, um dann - mit Erkenntnissen von Terragni und den russischen Konstruktivisten aufgeladen - bei Eisenman und Hadid ganz neue Aktualität zu erlangen. Etwa zur gleichen Zeit gelang es Gehry, wohl angeregt durch Kurt Schwitters Merz-Bau, mit Material- Assemblagen die sachliche Nutzarchitektur zu überwinden. Mit den Bauten und Entwürfen von Eisenman, Gehry, Hadid oder Bernard Tschumi, die Philip Johnson 1988 in einer New Yorker Ausstellung als «dekonstruktivistisch» deklarierte, wurde das Plastisch-Skulpturale zu einem Hauptthema der zeitgenössischen Baukunst.

Während bei den von Forster in den Corderie von Venedig versammelten Werken die Minimal Art, welche seit den achtziger Jahren vor allem die Deutschschweizer Architektur zu neuen Höhenflügen anregte, keine Rolle mehr spielt, bleiben dekonstruktivistisch-topographische, auf die Land-Art zurückgehende Aspekte bei Eisenmans Entwurf für ein Kulturzentrum in Santiago de Compostela oder beim Novartis-Park von Foreign Office Architects in Basel weiterhin wichtig. Das Brüchig-Topographische wirkt - neokubistisch angereichert - aber auch in Ben van Berkels Projekt für den Ponte Parodi im Hafen von Genua weiter, während es sich in dem von Lab Architecture aus Melbourne geplanten BMW-Werk in Leipzig kristallin verhärtet.

Die von Eisenmans unrealisiertem Max-Reinhard-Haus von 1992, dem 1993 von van Berkel entworfenen Möbius-Haus oder Hadids dynamischem, 1999 eröffnetem Landesgartenschau-Pavillon in Weil am Rhein angekündeten fliessenden Formen und Faltungen wurden schliesslich von Greg Lynn und Hani Rashid mit Hilfe des Computers zu gallertartig wirkenden Blob-Formen weiterentwickelt, die allerdings kaum über die organischen Plastiken von Hans Arp oder Henry Moore hinaus weisen. Vor vier Jahren sorgten die Blobs von Lynn und Rashid auf der siebten Architekturbiennale von Venedig für Aufsehen. Seither liessen sich von ihnen ungezählte junge und reifere Architekten bis hin zum Altmeister Arata Isozaki anregen. So finden sich denn in Venedig derzeit allenthalben Modelle und Entwürfe, die bald an halb verwitterte Knochen, bald an verschlungene Knoten, Kokons, Wucherungen oder gar an Gigers Aliens erinnern.

Die bis anhin vielleicht expressivsten Lösungen im Reich der Blobs fand der Niederländer Lars Spuybroek vom Büro Nox. Er entwarf nicht nur in den Himmel züngelnde Schlangentürme für New York, sondern schuf mit den gläsernen Blasen des Son-O-House in der niederländischen Kleinstadt Son en Breugel eine faszinierende Klang- und Rauminstallation, bei der die Grenzen zwischen Architektur und Kunst endgültig überwunden scheinen. Sie erinnert aber auch daran, dass schon Hans Poelzig oder Friedrich Kiesler Konzerthäuser und Theaterbauten als Raumkunstwerke sahen, die dann mit Scharouns Berliner Philharmonie und Jørn Utzons Opernhaus von Sydney ihre volle plastische Präsenz erhielten. Heute sind die Musiktempel, wie Forster in Venedig anschaulich zeigt, neben Kirchen und Museen das liebste Spielfeld der Künstlerarchitekten. Aber auch Hochhäuser bestimmen seit Yamasakis New Yorker Twin Towers und der Transamerica-Pyramide von William L. Pereira in San Francisco als skulpturale Objekte das Bild der Städte, wie ein Blick auf Norman Fosters gurkenförmigen Swiss Re Tower in London oder auf Libeskinds Entwurf des Freedom Tower zeigen.

Der Blob und die Stadt

Die meisten dieser neuen architektonischen Skulpturen verlieren sich im Formalismus. Doch aus dem sich zwischen Blob und Kristall bewegenden Einheitsbrei ragt in Venedig der Entwurf von Toyo Itos nicht realisiertem Musiktheater in Gent heraus. Hier wird ein schwammartiges strukturelles Skelett, das entfernt an einen Emmentalerkäse erinnert, von einer ruhigen gläsernen Hülle umschlossen. Auch wenn dieser Blob im Glasschrein demonstriert, wie sich amorphe Architektur in historisch gewachsene Städte integrieren lässt, stellt sich angesichts der meisten Projekte die altbekannte Frage, wie viele selbstverliebte skulpturale Monumente eine herkömmliche Stadt verkraften kann. Denn futuristisch anmutende Bauskulpturen, die als Science-Fiction- Kulissen interessant und für den akademischen Zeitvertreib anregend sein mögen, überspielen letztlich nur die wirklichen architektonischen und planerischen Probleme der Städte, die nicht nur in der Dritten Welt unter Verarmung, Verslumung, Übervölkerung oder Verkehrschaos leiden. Diese Ansiedlungen verwandeln sich zurzeit rasend schnell in wuchernde Gebilde, denen die in Venedig beschworene Metamorphose von Bauten in schöne Skulpturen wohl keine Heilung versprechen kann.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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